Lernort Generationenkonflikt. Das „1. Einführungsseminar für Erwachsenenbildner“ der PAS/DVV von 1959

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Autor/in:

Heuer, Klaus

Titel: Lernort Generationenkonflikt. Das „1. Einführungsseminar für Erwachsenenbildner“ der PAS/DVV von 1959
Jahr: 2012
Quelle:

Überarbeitete Druckfassung eines Vortrages bei der 27. Konferenz des „Internationalen Arbeitskreises zur Aufarbeitung Historischer Quellen der Erwachsenenbildung“, 22.11.2007, Wissensturm Linz. Österreichisches Volkshochschularchiv (ÖVA), B-Typoskripte, 2012.

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Die von der Pädagogischen Arbeitsstelle für Erwachsenenbildung des Deutschen Volkshochschul-Verbands (PAS/DVV, heute DIE) veranstalteten „Einführungsseminare für Erwachsenenbildner“ zwischen 1959-1966, der Einfachheit halber auch von vielen Insider/inne/n „Falkensteinseminare“ genannt, gelten in der deutschen Erwachsenenbildungsszene als legendär[1]. Zu diesem Mythos trägt bei, dass trotz der geringen Teilnehmerzahl, für den Zeitraum zwischen 1959 und 1966 waren es 151, die Professionalität stiftende Funktion als fraglos angesehen wird.

Abbildung Heimvolkshochschule Falkenstein

Bild: Heimvolkshochschule Falkenstein, Tagungsort der „Einführungsseminare“ von 1961 bis 1981

Aufgrund mündlicher Äußerungen lässt sich behaupten, dass dieser Seminartypus ein spezifischer, nämlich mit Initiationswirkung versehener Lernort für das angehende leitende Personal in den Einrichtungen und anderen Verbandseinrichtungen der Volkshochschulen war; das gilt auch für die Generation der Professorinnen und Professoren, die zwischen 1965 und 1973 auf die neugeschaffenen Lehrstühle berufen wurden. Horst Siebert beschrieb das vierwöchige Einführungsseminar in einem Interview von 2005 als seine „Lehrzeit in der Erwachsenenbildung“[2]. Ähnlich bedeutsame Zuschreibungen gab es auch seitens anderer Teilnehmender, etwa von Johannes Weinberg, Regina Siewers, Joachim Dikau, Gerhard Strunk, Volker Otto, Detlef Kuhlenkamp. Sie berichteten unter anderem von den für den späteren Berufsweg wichtigen Spaziergängen mit Hans Tietgens im Rahmen des Seminars. Die Seminare gelten in den Erinnerungen als konstitutiv für die Berufswahl und zur Charakterisierung des eigenen Berufsverständnisses. In einem weiteren Sinne können sie auch als konstitutiv für das Selbstverständnis von Hauptberuflichkeit in der Erwachsenenbildung einer ganzen Generation angesehen werden.

Ziel des Beitrags ist es, die weichenstellende Funktion dieses Lernorts für die Professionalitätsentwicklung der in der Weiterbildung Beschäftigten zu rekonstruieren und ungelöste erkenntnistheoretische Fragestellungen dazu zur Debatte zu stellen.

Einschränkung des Themas

Die frühen Einführungsseminare sollten nicht mit den späteren „Falkensteinseminaren“ ab 1970[3] verwechselt werden, die als Intervallseminare, als Begleitung zu dem ab 1973 von der PAS/DVV herausgegebenen, unter dem Kürzel SESTMAT bekannt gewordenen Selbststudienmaterial für die Einführung von hauptberuflichen pädagogischen Mitarbeiter/inne/n eine zentrale Bedeutung hatten. Dass die Markenbezeichnung „Falkensteinseminare“ ungenau ist, ist nicht nur daran zu ersehen, dass sie in der Geschichte der Professionalisierung für zwei unterschiedliche Phasen steht, nämlich bis 1966 für den kleinen Kreis von Studierenden, von denen ein Teil später hauptberufliche Leiter von Volkshochschulen beziehungsweise pädagogische Beschäftigte in den Landesverbänden der Volkshochschulen wurden, und die Phase ab 1970, in der auch als Folge der gesetzlich geregelten Finanzierung von Weiterbildung eine größere Gruppe schon hauptamtlich beschäftigter Pädagoginnen und Pädagogen teilnahmen. Fragwürdig ist die Bezeichnung „Falkensteinseminare“ auch deshalb, weil bei genauer Betrachtung der Arbeitspläne der Jahre 1959 und 1966 deutlich wird, dass die beiden Seminarprogramme fast nichts gemeinsam hatten. In diesen sieben Jahren entwickelte sich das Programm in dynamischer Weise.

Abbildung Haus Ahlenberg

Bild: Haus Ahlenberg, Heimvolkshochschule der Stadt Dortmund 1959

Dazu gehört auch, dass die lokale – und in gewisser Weise auch mentale – Zuschreibung „Falkenstein“ so eindeutig nicht zutrifft. Das erste Seminar fand 1959 im Haus Ahlenberg, einem Volkshochschulheim der Stadt Dortmund, statt, das zweite Seminar 1960 in der Reinhardswaldschule bei Kassel und erst das dritte Seminar in der damals gerade eröffneten Bildungseinrichtung Heimvolkshochschule Falkenstein[4]. Ebenso gilt es festzuhalten, dass Hans Tietgens als Verantwortlicher für die dritte Woche des Seminars nur für den Themenbereich politische Bildung zuständig war. Er war zu dieser Zeit noch nicht Leiter der PAS/DVV, sondern Bundestutor des Jugendreferentenprogramms innerhalb des DVV, und in den ersten Planungen des Seminars war seine Mitarbeit noch nicht vorgesehen. Verantwortlich für die Seminargestaltung war Willy Strzelewicz unter Mitarbeit von Marianne Grewe und Heinz L. Matzat, sie bildeten die erste Stammbelegschaft der PAS/DVV. Anzumerken ist auch, dass nur wenige der Teilnehmenden des ersten Seminars später in der Erwachsenenbildung gearbeitet haben. Bislang nachgewiesen ist das für Günter Kassing, Rolf Schmiederer und Johannes Schwerdtfeger.

Herangehensweise

Die Geschichte der Einführungsseminare ist bisher wenig erforscht und dokumentiert[5]. Das gilt für die erste und auch für die spätere Phase. Es gibt eine resümierende Zusammenstellung von Hans Tietgens für die Zeit von 1959-1966[6] und zwei in Zeitschriften abgedruckte Teilnehmerbeiträge für das erste Seminar[7], welche aber nicht zum Gegenstand einer explizit belegbaren Rezeption wurden. Ähnliches gilt für den Teilnehmerbericht von Johannes Weinberg, den er über das 1961er Seminar verfasste[8], der ausschließlich das „1. Seminar für Erwachsenenbildner“ von 1959 als einen historisch zentralen Lernort in der Professionalitätsentwicklung in der Erwachsenenbildung thematisiert.

Unberücksichtigt blieben die Ansätze zur Professionalisierung der Mitarbeitenden in der Erwachsenenbildung, wie sie zum Beispiel von Franz Pöggeler für die katholische Erwachsenenbildung[9] und von Paul Steinmetz für die gewerkschaftsnahe Arbeiterbildung[10] in Seminaren praktiziert wurden.

Im Folgenden wird der Lernort „Einführungsseminar“ ausgehend von der Zuschreibung, den er durch die Zeitgenossen erfahren hat, dargestellt: Zusammengestellt werden Indizien für eine spezifische Inszenierung, die es rechtfertigen, dieses Seminar als einen spezifischen Lernort zu charakterisieren. Dabei erfolgt die Annäherung zum einen aus der Warte der Teilnehmenden, genauer: ihrem Verständnis des Lernarrangements, zum anderen vom Programm und insbesondere von den inhaltlichen Positionen der Vortragenden ausgehend. Der Lernort wird dabei nicht als notwendig dauerhaft aufgefasst. Er wird als historisch einmalig und flüchtig verstanden. Was im Verlauf des Seminars passierte, muss nicht intentional und geplant gewesen sein. Der Lernort bestimmte sich über die Qualität dessen, was im Seminar als Thematik, Problemstellung und Lösungsweg aufschien und was ihn möglicherweise auch erst in der Rekonstruktion dazu machte.

Als Quellen wurden insbesondere die bislang nicht ausgewerteten Archivbestände zum ersten Ausbildungsseminar verwendet. Sie liegen im Archiv des DIE, des Nachfolgeinstituts der PAS/DVV vor. Es handelt sich dabei um:

a) den Arbeitsplan des vierwöchigen Seminars (vom 28.09.-24.10.1959),

b) die Abschluss-Protokolle der beiden jeweils sechsköpfigen Arbeitsgruppen der Teilnehmenden, die ihre Kritik am Seminar enthält,

c) das Protokoll der gemeinsamen Schlussbesprechung des Seminars,

d) den Abschlussbericht des Seminarleiters Willy Strzelewicz,

e) die Teilnehmerliste mit tabellarischen Kurzangaben zum Lebenslauf, dem Stand der Ausbildung und die Berufspläne und den jeweiligen Interessen an der Erwachsenenbildung,

f) den Kostenplan für das Seminar,

g) das Einladungsschreiben zum Seminar,

h) den Briefwechsel mit Referent/innen und Teilnehmenden und Gutachtern, die gebeten wurden, potentielle Teilnehmende zu benennen.

Die quellenmäßige Überlieferung des Seminars kann als sehr gut gelten. Als neue forschungsproduzierte Quelle wurde das Interview mit Alfred Pressel, einem Teilnehmenden des 1959er Seminars genutzt. Weitere Hintergrundgespräche konnten mit Johannes Weinberg, Ortfried Schäffter, Wolfgang Lück, Gerd Doerry und Karlheinz A. Geißler über das Konzept der „Gruppenpädagogik“ und den zeitgeschichtlichen Horizont des Seminars geführt werden. In diesen Gesprächen haben sich die Hypothesen über die Struktur und Wirkungsweise des Seminars dialogisch entwickelt und wurden diskutiert. Wichtige Themen waren dabei:

  • die Hintergründe für die von den Teilnehmenden heftig geäußerte Kritik an der Gruppenpädagogik
  • das im Seminar vertretene Konzept politischer Bildungsarbeit und
  • die Gründe für das Scheitern der Anknüpfungsversuche an reformpädagogische Ansätze der Weimarer Republik am Ende der 1950er Jahre.

Die Inszenierung als Lernort aus Sicht der Teilnehmenden

Die Teilnehmenden, das waren zwölf Studierende, die auf Vorschlag von angefragten befreundeten Professoren und nach einer weiteren Vorauswahl durch Willy Strzelewicz zu dem vierwöchigen Seminar eingeladen wurden. Auffällig dabei ist, dass die befreundeten Professoren dem sozialdemokratischen Lager und ihren Rändern (z.B. Wolfgang Abendroth) zuzuordnen sind, und der Anteil von Politikprofessoren hoch war. Ähnliche parteipolitische Zuschreibungen galten auch für die Studierenden, die noch weiteren Auswahlkriterien entsprachen:

  • intensive Kriegs- und Fluchterfahrungen,
  • praktische Berufserfahrungen,
  • Abschlüsse im Zweiten Bildungsweg,
  • Studium in den nach 1945 aufgebauten Diplomstudiengängen, insbesondere Politologie, Soziologie, Sozialwissenschaft, Verwaltungswirtschaft, und
  • nachgewiesenes soziales und politisches Engagement, z.B. Tätigkeiten in der studentischen Selbstverwaltung.

Die kurz vor dem Abschluss stehenden Studierenden besuchten in der Mehrzahl (Fach-)Hochschulen in Wilhelmshaven, Göttingen, West-Berlin und Frankfurt. Die Zusammensetzung der Teilnehmenden kann so skizziert werden: politisch linksstehend, sie hatten eine hohe individuelle Mobilität unter Beweis gestellt, sie waren leistungsbewusst und sie hatten wahrscheinlich ein kritisches Verhältnis zum traditionellen bürgerlichen Bildungsverständnis. Für künftige Forschungen zur sozialen Zusammensetzung dieser prägenden Generation der Hauptberuflichen in der Erwachsenenbildung können die im Archiv vorliegenden Kurzbiografien auch zum Gegenstand weitergehender empirischer Untersuchungen gemacht werden.

In Hans Tietgens’ empirischen Auswertungen zur Charakterisierung der Teilnehmenden erscheint es so, als hätte sich die Zusammensetzung der Seminarteilnehmer und -teilnehmerinnen über das spezifische Interesse dieser Studierendengruppe ergeben. Dass die Zusammensetzung in der Hauptsache eine Folge der Vorauswahl durch die Veranstalter war, wurde erst durch das Studium der Quellen im Archiv des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung deutlich.

In den Schlussprotokollen der Teilnehmenden wird die Heterogenität der Gruppe zum Thema gemacht. So wurde im Abschlussprotokoll der Gruppe II festgehalten: „die Heterogenität der Erfahrungskreise der Teilnehmer trug wesentlich zur Fruchtbarkeit der gemeinsamen Arbeit bei“. Hingegen behauptete die Gruppe I: „aufgrund der heterogenen Zusammensetzung fehlte ein gemeinsamer Ausgangpunkt für die Teilnehmenden.“ Die Selbstcharakterisierung der Gruppe als heterogen konnte sich nur auf die Wahl der Studienfächer beziehen. So lässt sich anhand der Quellen sagen, dass die Berliner Teilnehmer (Johannes Schwerdtfeger, Rolf Schmiederer, Hans Joachim Holz, Norbert Greger, Günter Kassing) einen politikwissenschaftlichen Hintergrund hatten, während die aus Göttingen und Frankfurt (Alfred Pressel, Hans Rüdiger, H.H. Ehrhardt, Gisela Lehr, Joachim Lohmann, Eva Lipp, Ingrid Schulz, Carl Franz Caspersen, Wulf Spendlin) Soziologie beziehungsweise Pädagogik studierten.

Am Tagungsmanagement wurde kritisiert:

  • „Vier Wochen war für eine Arbeitstagung zu lang, als Seminar mit verstärkter Eigenarbeit wäre sie gut“ (Gruppe I)
  • „dass für ein solch langes Seminar dem einzelnen Teilnehmer die Möglichkeit gegeben sein sollte, in Ruhe für sich arbeiten zu können – entweder durch eigene deklarierte Arbeitsräume oder Einzelzimmer“ (Gruppe II)
  • „andere Räumlichkeiten. Entweder Einzelzimmer mit Schreibtischen oder eine Zahl von Arbeitsräumen“ (Gruppe I)
  • „Referenten wussten zuwenig über ihre Zielgruppe“ (Gruppe I)
  • „Das Seminar hätte stärker von der Praxis aus gefunden werden sollen“ (Gruppe I)
  • „es wäre zweckmäßig gewesen, einen Referenten und einen Koreferenten zu hören, um ein Thema von verschiedenen Aspekten her zu behandeln“ (Gruppe 1)
  • „die exemplarische Betrachtung eines Themengebiets, z.B. der politischen Bildung, wurde als positiv angesehen, sollte aber am Schluss stattfinden“ (Gruppe 1)
  • „die Übergänge zwischen den einzelnen Wochen hätten hergestellt werden sollen“ (Gruppe II)
  • „die Diskussionsleitung hätte manchmal energischer sein sollen“ (Gruppe II)

In der Kritik wird deutlich, was in der Tagungsorganisation nicht gestimmt hatte. Es war nicht, wie der Titel der Veranstaltung suggerierte, ein Seminar gewesen, sondern sie wurde von den Teilnehmenden als Arbeitstagung wahrgenommen. Der fehlende seminaristische Charakter, insbesondere auch fehlende Eigenarbeit und Arbeitsphasen, wurden beklagt und die Vorträge als ermüdende Lehrform empfunden. Auch die weiteren Kritikpunkte sind herbe Hinweise auf starke methodische Defizite der Seminargestaltung.

Positiv gewendet war die Kritik auch ein Hinweis auf die Toleranz der Seminarleitung und die Klarheit, Sensibilität und Selbststeuerung der Teilnehmenden. Ihre Kommentare boten gute Begründungen und Anregungen, in Zukunft stärker erwachsenengerechte Methoden anzuwenden.

Die Inszenierung als Lernort aus dem Arbeitsplan des Seminars

Das Tagungsprogramm war gespickt mit Namen von Referentinnen und Referenten, die das zeitgenössische „who is who“ der Erwachsenenbildung und an Erwachsenenbildung interessierter Sozialwissenschafter enthielten. Vorträge hielten: Willy Strzelewicz, Hans-Paul Bahrdt, Hellmut Becker, Gerhard Wurzbacher, Erich Weniger, Wolfgang Schulenberg, Helmuth Dolff, Bert Donnepp, Hertha Sturm, Theodor Wilhelm (alias Oetinger), Dietrich Rüschemeyer, Joachim Leuschner, Magda Kelber, Arnold Köttgen, G. Thiede, Kurt Meissner, Paul Steinmetz, Karl-Heinz Klugert und Hedi Rompel. Es referierten junge, aufstrebende Soziologen wie W. Schulenberg, H.-P. Bahrdt und D. Rüschemeyer und aus der älteren Generation Professoren, die schon mit der Jugendbewegung in der Weimarer Republik verbunden waren, wie W. Weniger, Th. Wilhelm und G. Wurzbacher, mit einem regionalen Schwerpunkt in Schleswig Holstein.

Das Seminar war gegliedert in vier Abschnitte:

  • Sozialgeschichte und Gesellschaftskunde der Erwachsenenbildung
  • Pädagogische Psychologie und Didaktik der Erwachsenenbildung
  • Die politische Bildungsarbeit in der Volkshochschule
  • Rechtsgrundlagen und Organisationsformen in der Volkshochschule

Jeder Abschnitt dauerte eine Woche und wurde jeweils von einem verantwortlichen Dozenten geleitet. Für die erste Woche war das W. Strzelewicz, in der zweiten Heinz L. Matzat, in der dritten H. Tietgens und in der vierten M. Grewe.

In diesem Beitrag liegt der Schwerpunkt der Darstellung und Untersuchung auf der dritten Woche, weil sich in dieser Woche der Konfliktsstoff des Seminars am Thema „Politische Bildungsarbeit in der Volkshochschule“ am stärksten entzündete. Im Tagungsplan war die Diskussionsleitung mit Dr. Tietgens festgehalten, und für Montag bis Samstag lautete er im Einzelnen:

  1. Die politische Bildung als Aufgabe der Volkshochschule (Dr. Tietgens)
  2. Das Selbstverständnis des politischen Erziehers (Prof. Wilhelm, Flensburg)
  3. Demokratisierung und totalitäres System (Prof. Borinski, Berlin)
  4. Die Gruppenpädagogik in der politischen Bildungsarbeit (Dr. Magda Kelber, Wiesbaden, Leiterin Haus Schwalbach)
  5. Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als Aufgabe der Erwachsenenbildung (Dr. Leuschner, Göttingen)
  6. Die Rolle der Vorurteile in der modernen Gesellschaft (Dr. Rüschemeyer, Köln)[11]

Um den Konfliktstoff herauszuarbeiten, werden vier unterschiedliche Quellen ausführlich zitiert. Das sind: die entsprechenden Passagen aus den Abschlussprotokollen der Gruppen I und II, Auszüge aus dem Abschlussbericht von W. Strzelewicz und den Teilnehmerberichten von I. Kleinert und J. Schwerdtfeger. Den Abschluss bilden die Ausführungen von A. Pressel, die er im Jahr 2008 im Interview als atmosphärische Beschreibung des Gesamtseminars und insbesondere inhaltlich zum Ansatz der Gruppenpädagogik und der politischen Bildungsarbeit äußerte. Die Zusammenstellung der Zitate beschränkt sich auf die Stellen, in denen die Kritik geäußert beziehungsweise im Zitat des Seminarleiters W. Strzelewicz diese zurückgewiesen wurde.

Aus der Zusammenschau der vier unterschiedlichen Quellen wird auch deutlich, wie konventionell die schriftlichen Quellen den Konfliktstoff darstellen und wie im Gegensatz dazu die mündliche Erinnerung den Zugang zum Konflikthaften und Verpönten öffnet. Vielleicht auch deshalb, weil diese Perspektive erst durch die historische Distanz möglich ist und es heute auch keine verbandsbezogene Öffentlichkeit mehr zu bedienen gilt.

In den Abschlussprotokollen über diese dritte Woche heißt es im Kommentar der I. Gruppe: „Es fehlte ein Kenner für das Fach ,Politische Wissenschaft‘. Er hätte das Referat von Tietgens über die Aufgabe der politischen Bildung in der VHS wesentlich erleichtert und fundiert, ebenso wie die allgemeine Diskussion der Einzelfragen. Ob Vorurteile in dieser Breite behandelt werden müssen, war unklar. Das Selbstverständnis des politischen Erziehers wurde als Thema bejaht, aber nicht die Art der Bearbeitung dieser Frage. Das Referat von Leuschner wurde als gutes Methodenbeispiel gewertet. Frau Kelber entsprach mit dem von ihr gewählten Einstieg nicht dem sonstigen Niveau des Seminars. Es wurde bedauert, dass aus diesem Grund die Voraussetzungen der Methode nicht diskutiert wurden.“[12]

Im Kommentar der II. Gruppe wurde festgehalten: „Die Wahl dieses Themas wurde von den Kursteilnehmern allgemein sehr begrüßt, vermisst wurde der ,Fachpolitologe‘, der sachliches Wissen beigesteuert hätte. So konnte es zu dem Eindruck kommen, dass die einzelnen Referate das Oberthema z.T. nur peripher streiften. Im Referat von Hans Tietgens hätten die Teilnehmer gern spezifische Fragen der Methode der politischen Bildung ausgeführt gehört. Das Referat Prof. Wilhelm hatte seinen Angelpunkt in der Glaubwürdigkeit des Erziehers schlechthin – welches Problem auf leider etwas negative Weise durch den Referenten exemplifiziert wurde. Dagegen hob sich positiv die sachliche Fundierung des Referates von Herrn Dr. Rüschemeyer ab, doch blieb die Frage, ob zur Klärung des Vorurteils-Problems nur eine Theorie ausreicht. Auch wurden die Beziehungen zur Praxis der Erwachsenenbildung gerade hier vermisst. Dr. Leuschners ,Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als Aufgabe der Erwachsenenbildung‘ wurde als sehr lehrreich durch die gute methodische Behandlung eines Beispiels empfunden. Vermisst wurde hier die Darstellung der wissenschaftlichen Voraussetzungen und Konsequenzen solcher Methode. Im Ganzen musste auch hier gesagt werden: das Oberthema wurde nicht deutlich genug angesprochen, es blieb beim Aufzeigen einiger Fluchtlinien. An Terminschwierigkeiten krankte das ,Podiumsgespräch‘, das wir uns auch in der Form von zwei Kurzreferaten etwas gehaltvoller gewünscht hätten. Nicht anders war es mit dem sehr auf die Praxis angelegten Referat von Frau Dr. Kelber – bei einem methodisch äußerst unglücklichen Einstieg kam das Wochenthema zu kurz und war die Diskussion, gemessen am Gehalt des Referats, einigermaßen zu breit.“[13]

Abbildung Titelseite „Betriebsfibel“

Bild: Titelseite „Betriebsfibel“, Darmstadt 1954

Dagegen hielt der Tagungsleiter in seinem Abschlussbericht fest: „Prof. Wilhelm ging dabei von Kriterien der Glaubwürdigkeit des politischen Erziehers aus und behandelte die Rolle des Emotionalen in der Politik, die hier ausdrücklich zur Sprache kommen sollte. [...] Der hier aus der methodischen Woche übernommene Beitrag von Frau Dr. Kelber über Gruppenpädagogik wurde als interessant für die Praxis angesehen.“[14] Und weiter: „Mit den Gastreferenten war man im allgemeinen einverstanden, nur wünschte man eine eingehendere Berücksichtigung der besonderen Probleme der Erwachsenenbildung von Seiten der verschiedenen Fachreferenten. Es ist zu hoffen, dass es bei längerer Arbeit möglich sein wird, einen größeren Stamm an wissenschaftlichen Mitarbeitern heranzuziehen, der durch regelmäßige Information in die Lage versetzt wird, die Verbindung zwischen den Sachproblemen und den Fragen der Erwachsenenbildung herzustellen.“[15]

Auch in Beiträgen für Zeitschriften der Erwachsenenbildung wurde darauf Bezug genommen: „Es bestand Einigkeit darüber, dass es bei der besonderen Dringlichkeit der politischen Arbeit an den Volkshochschulen kein besseres Thema für eine spezielle Behandlung der Erwachsenenbildung hätte geben können. Umso mehr wurde bedauert, dass kein Politologe zu Wort gekommen ist.“[16] Ein anderer schrieb: „Die mit nicht geringem Interesse erwarteten Ausführungen von Prof. Wilhelm, Flensburg über ,Das Selbstverständnis des politischen Erziehers‘ hielten leider nicht, was man von ihm erhofft hatte. Es mag auch sein, dass der Referent die Bereitschaft und Fähigkeit zur Kritik seitens der Teilnehmer unterschätzt hatte. Es würde in diesem Zusammenhang zu weit führen, die einzelnen Probleme, die in dem zehn Punkte umfassenden katalogartigen Vormittagsreferat dargelegt wurden, einzeln aufzugreifen. [...] Darlegungen von Frau Dr. M. Kelber (Haus Schwalbach) über gruppenpädagogische Methoden. Der Mangel an Zeit sowie die Art und der Inhalt der Ausführungen, nicht zuletzt eine zu partiell ansetzende Kritik gaben leider nicht die Möglichkeit zu einer Diskussion über Grundlagen und Theorie der Gruppenpädagogik “[17]

Abbildung Titelseite „Partnerschaft“, Stuttgart 1956 (zuerst 1951)

Bild: Titelseite „Partnerschaft“, Stuttgart 1956 (zuerst 1951)

Ausführlich äußerte sich A. Pressel im Interview: „Es stellte sich heraus, dass das Tagungsprogramm einfach zu viel war. Es gab so eine Art ,Lagerkoller‘.[Pause] Wir haben die Notgemeinschaft ,Rettet den Überbau‘ gegründet. Wir hatten alles bis zum ,Überbaurat‘ und auch andere Geschichten ausgesponnen. Wir hatten richtig Strategien entwickelt, nicht gerade freundlich mit den Referenten, die oft Rang und Namen hatten, umzugehen. Wir waren relativ jung, kritisch auch. Und wir waren nicht jugendbewegt. Wir hatten eher noch die Perversion von Jugendbewegung, den Nationalsozialismus, am eigenen Leib erlebt und konnten dem nichts mehr abgewinnen. [Pause] Man hatte gemerkt, so was wie die Re-Education der Amerikaner hatte nicht voll gegriffen. Es gab durchaus Zeichen, dass damit die Folgen des Nationalsozialismus nicht zu bearbeiten waren. Sie musste eigentlich auch eine deutsche Sache werden. [Pause] Die Volkshochschule war die einzige Institution, die im größeren Umfang Menschen erreichen konnte, die den Nationalsozialismus erlebt hatten. Und das ist als Chance gesehen worden, aber eben auch als Problem ganz klar. Wie kommt man an die Menschen ran, was kann man da machen? Das war eben zum Teil in den Referaten sehr idealistisch formuliert und weniger kritisch fundiert. Die Themen wurden eben auch manchmal sehr elitär daher gebracht. Das waren eigentlich nicht gerade die Töne, die man brauchte. [Pause] Man hätte mehr Überlegungen aus dem Kreis der Teilnehmenden gebraucht. Das war frontal drüber. Die Diskussionsgelegenheit wurde gegeben, das war klar. Aber die Themen waren immer vorgegeben. Wir entwickelten einen gewissen Widerstand gegen dieses von oben belehrt zu werden. [...] wir hatten ein System die Leute abzuschießen, das war schon böse. Erich Weniger sagte daraufhin: ich verstehe schon solche Argumente, aber ich kann nicht mehr umdenken oder ich will das auch nicht anders. Das war das Positive. Deshalb habe ich das auch behalten. Das war authentisch. Das war nicht aufgesetzt. Da hat jemand gesagt, ihr könnt ja von anderen Ecken denken, aber das ist meine. Also die Frau Kelber vom Haus Schwalbach, die hat ihre formale Bildung, diese ganz formale Gruppenpädagogik vorgestellt. Das war grausig. Die haben wir voll abgeschossen eigentlich. Es war völlig klar. Das war dermaßen inhaltsleer und formalistisch, dass wir gesagt haben: mit diesen Argumenten können Sie eine militärische Organisation genauso aufbauen wie alles andere. Demokratie wurde von ihr über die Form definiert, aber nicht über die Intention. Und da haben wir gesagt: Moment mal, bevor wir diskutieren, wollen wir erst mal real gucken, wo ist denn die Gleichheit. Und dieses Spiel brauchen wir nicht. Nach zwei Wochen war eine bestimmte Erschöpfung da. Man hätte eine Zäsur gebraucht oder einen völligen Wechsel der Arbeitsform, der viel mehr die Gruppe aktiviert. Sie mal fordert, statt dass sie konsumiert. Dass sie auch mal produziert. Und sich dann auch mal einer Kritik stellt, anstatt dass sie immer nur den Kritiker macht. Dass sie auch mal was tut. Und dabei vielleicht auch die eigenen Grenzen ein bisschen besser erfährt. Die Teilnehmerkritik, die war überdeutlich. Sie war Ausdruck für dieses allgemeine Unbehagen. [...] Das ist nun wirklich nicht so, dass da irgendeine Person zu greifen wäre. Das Konzept war einfach eine Überforderung. Die Referenten und Referentinnen haben eigentlich genau das gemacht, was kennzeichnend war. Sie hatten keinen eigenen Zugang zum Erwachsenen. Sie haben die Erwachsenen mit Pädagogik voll gedröhnt. Im Grunde genommen frontal [...] Von der Menge her überzeugend, aber ohne ein Gespür dafür, was da eigentlich so nieder geht auf eine Gruppe.“[18]

Kommentierung der Quellenaussagen

Sowohl die Kritik an Th. Wilhelm als auch an M. Kelber richten sich von der Teilnehmerseite sehr stark gegen die Personen. Sie unterscheiden sich nur graduell. In den schriftlichen Äußerungen ist auffällig, dass eine massive Kritik an Stil und Haltung der Vortragenden im Vordergrund stehen. Magda Kelbers Beitrag entsprach demnach „nicht dem sonstigen Niveau“. Und Theodor Wilhelm stellte selbst das Negativbeispiel dar, das er mit seinem Vortrag kritisierte: er „exemplifiziert [...] auf leider etwas negative Weise“. Die Kritik an den beiden geht in ihrer Tragweite weit über das hinaus, wie die Kritik an dem Seminar sonst ausfiel. Trivial und alltagsweltlich ausgedrückt: Die eine konnte nicht besser, der andere war von der Person her nicht besser. Die Konzepte, die beide vertraten, und besonders das inhaltlich Anstößige wurden in den schriftlichen Quellen gar nicht zur Sprache gebracht. Und das geschieht auch nicht in den beschönigenden Glättungen, die der Seminarleiter W. Strelewicz vornahm. H. Tietgens nahm auf die inhaltlichen Kontroversen mit M. Kelber auch erst viele Jahre später und nur in einer indirekten Andeutung Bezug: In einer Diskussion erinnerte er sich: „Ich habe mich damals mit ihr kräftig gestritten, weil mir das alles zu formalistisch erschien, aber die Bedeutung, die das gehabt hat in den ersten Jahren der Bundesrepublik, das, glaube ich, sollte man nicht unterschätzen.“[19] Belege dafür lassen sich in der Literatur nicht finden. Auch in seiner Darstellung von 1972 hatte er auf die Kontroversen nicht Bezug genommen.

Theodor Wilhelm war schon 1959 aufgrund seiner nationalsozialistischen Vergangenheit eine in der Pädagogik umstrittene Persönlichkeit. Insbesondere in späteren Forschungen wurde nachgewiesen, dass er als verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift für internationale Erziehungswissenschaft nationalsozialistische, insbesondere antisemitische, den Holocaust unterstützende Positionen veröffentlicht hatte[20]. Dabei ist anzumerken, dass die Zeitschrift Neue Sammlung ihm immer wieder quasi als Beispiel für einen bekehrten Nationalsozialisten ein Forum bot, sich zu rechtfertigen[21]. Sein renommierter Schüler Hermann Giesecke verteidigte ihn bis in die jüngste Gegenwart[22]. Inwieweit die Unterstützung des Nationalsozialismus für die negative Charakterisierung Wilhelms seitens der Teilnehmenden eine Rolle spielte, ist nicht zu belegen. Die Semantik der Wortwahl lässt es vermuten.

Wilhelm hatte schon 1951, unter dem Pseudonym Friedrich Oetinger, ein für die 1950er Jahre als Standardwerk geltendes Buch geschrieben. Er schreibt dort unter anderem: „[...] die Überzeugung, dass die Ereignisse der letzten zwanzig Jahre erwiesen haben, dass nicht allein der nationalsozialistische Weg der Erziehung verhängnisvoll war, sondern dass auch die sogenannte staatsbürgerliche Bildung vor 1933 nicht ohne weiteres das Fundament abgeben kann für die politische Erziehungsaufgabe der Gegenwart.“[23]

Das Kontroverse und Anstößige der inhaltlichen Konzeptionen und möglicherweise auch der zeitgeschichtlich aufgeladenen Lebensgeschichten wird nur im Interview mit A. Pressel von 2008 angesprochen, wobei er sich auf den gruppenpädagogischen Ansatz – insbesondere in der politischen Bildung – und eingeschränkt auf den geisteswissenschaftlichen Bildungsbegriff von E. Weniger bezog.

Pressel erinnerte sich an die Gleichsetzung von Jugendbewegung und Nationalsozialismus, wie sie von seiner Generation erlebt worden war. Dafür standen Weniger, Kelber und Wilhelm, ungeachtet dessen, welchem politischen Lager oder Milieu sie angehört und welchen Lebensweg sie während des NS-Regimes genommen hatten. Da verkörperte Kelber, die als eine während des Nationalsozialismus in England ausgebildete Quäkerin, nach 1945 als Emigrantin zurückgekehrt war und mit Unterstützung der aus den USA importierten Gruppenpädagogik Re-Education-Konzepte mit dem Haus Schwalbach umsetzte[24], den gleichen Typus wie Wilhelm, der sich für den Nationalsozialismus engagiert und nach 1945 insbesondere durch einen längeren Studienaufenthalt in den USA das auch von John Dewey vertretene formale Demokratiekonzept kennen gelernt und als Konzept der politischen Bildung für deutsche Verhältnisse weiter entwickelt hatte.

War es damals zu brisant, sich öffentlich gegen die einflussreichen Positionen und Konzepte der politischen Erwachsenenbildung, die von Kelber und Wilhelm vertreten wurden, zu stellen? Stellte eine nach außen, vor der Fachwelt, vorgetragene inhaltliche Kritik, eine Überforderung der berichtenden Teilnehmenden dar? Fehlte es an notwendigem Differenzierungsvermögen? Oder war es schlichtweg nicht erwünscht?

Augenscheinlich fehlte es an einer Unterstützung durch die Seminarleitung. Es kam weder in noch nach dem Seminar zu einer Klärung der durch die Teilnehmenden aufgeworfenen inhaltlichen Problemstellungen. Strzelewicz glättete in seinem Bericht die Kritik zur Unkenntlichkeit. Er reduzierte sie auf eher allgemeine, kaum durch die Tagungsleitung beeinflussbare Probleme der Tagungsorganisation.

Es scheint, als seien die Teilnehmenden in ihrem Verständnis um einiges weiter gewesen als die Veranstalter. Sie kritisierten an der Gruppenpädagogik, dass sie nicht erwachsenengerecht sei. Sie lehnten die dort vertretene paternalistische, lehrerhafte Rollenzuschreibung für die Erwachsenenpädagoginnen und -pädagogen ab. Erziehung zur Demokratie beschränkte sich für sie nicht auf formales Regelwissen über demokratisches Gruppenverhalten, sondern erforderte auch eine Auseinandersetzung mit den Interessengegensätzen in einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft.

Fast zeitgleich mit dem ersten Einführungsseminar wurde in der Zeitschrift „Kulturarbeit“ die Kontroverse zur Gruppenpädagogik mit einem wissenschaftlichen Anspruch öffentlich geführt. Wortführer der Kritiker war Jürgen Henningsen[25]. Auf diese Diskussion, in der die inhaltliche Kritik der Seminarteilnehmenden elaboriert vorgetragen wurde, nahmen zwar spätere Veröffentlichungen Bezug[26], ausgetragen wurde diese Kontroverse aber nicht. Bis heute sind die historischen Anknüpfungspunkte – und eben auch die unterschwelligen Wirkungsgeschichten – der Erwachsenenbildung an Konzepte der Weimarer Republik und nach 1945 an angelsächsische Vorbilder nicht aufgearbeitet. Bezeichnend ist meiner Auffassung nach, dass auf einen der zentralen Kritikpunkte von Henningsen, die auf historische Anknüpfungspunkte der „Gruppenpädagogik“ anspielen, in der Rezeption dieser Kontroverse bislang nicht eingegangen wurde. So monierte Henningsen: „Man gestatte uns, dass wir einen anderen Satz daneben stellen, nicht um auf irgendeine historische Abhängigkeit hinzuweisen (das wäre in diesem Fall absurd), sondern um die allgemeine Denkform herauszuarbeiten, die hinter dieser Aussage steckt: ,ob heute von diesem, morgen von jenem gesprochen wird, ist belanglos. Es kommt nur darauf an, das für das innere und äußere Leben der Zuhörer von Wert ist.‘ Das sind Worte von Johannes Tews aus dem Jahr 1932 zur Rechtfertigung des reichlich bunten Vortragswesens der ,Gesellschaft zur Volksbildung‘. Ist jetzt deutlich geworden, wogegen sich unser Angriff richtet?“[27]

Henningsen spielte in gewisser Weise mit der historischen Anknüpfung und nutzte sie dann als normative Setzung, sich eben nicht mehr damit auseinandersetzen zu sollen. Dass er dabei den Ansatz von Kelber mit dem von Tews gleichsetzte, ist ihm als Etikettierung wichtig, der Anstrengung, einen Nachweis zu erbringen, unterzog er sich nicht.

Liest man die resümierende Darstellung der Einführungsseminare von 1959 bis 1966 von Tietgens, dann fällt auf, dass auch bei ihm die problematischen inhaltlichen Aspekte des ersten Einführungsseminars nicht benannt werden. So formulierte er abschließend: „Es mag auffallen, dass bei der Darstellung der Seminarerfahrungen die Probleme des inhaltlichen ,Kanons‘ nicht ausdrücklich erwähnt worden sind. Er ist aber, abgesehen von der häufig diskutierten Zeitnot nicht strittig gewesen. Die Akzentverlagerungen, die im Laufe der Zeit vorgenommen worden sind, wurden schon auf S. 177f. erläutert.“[28]

War sein Gedächtnis so unzuverlässig? Hatte er die anders lautenden Befunde, die sich aus den unterschiedlichen – hier vorgestellten – Quellen ergeben, vergessen? Beschreibt der „inhaltliche Kanon“, dass die Themenstellungen nicht problematisch waren und bleibt davon unbenommen, dass möglicherweise die Formen der Thematisierung problematisch gewesen sein konnten? Tietgens schließt mit seinem Resümee unbearbeitete Reste aus und nach außen eine Erfolgsgeschichte als fraglos ab. Schlägt man auf der angegebenen Seite nach, so steht dort folgendes zur hier interessierenden Thematik: „Nicht zufällig ergibt sich aus dem Vergleich mit den Programmen, dass der historische Aspekt im Laufe der Jahre immer mehr in den Hintergrund getreten ist […]“[29].

Die Begründung, dass der historische Aspekt in den Hintergrund trat, konnte nach der Ausrichtung des ganzen Beitrags eigentlich nur den in der Erwachsenenbildungspraxis auftretenden methodologischen Anforderungen und ihrer notwendigen Thematisierung geschuldet gewesen sein. Tietgens suggerierte in gewisser Weise, dass die Ausrichtung des Seminars der „Sache“ geschuldet gewesen sei. Dass die Preisgabe der historischen Dimension, den ungelösten – und konfliktträchtigen erkenntnistheoretischen – Fragestellungen nach der Anschlussfähigkeit an reformpädagogische Konzepte der Weimarer Republik mit geschuldet war, wird dadurch abgespalten und verschleiert.

Zusammenfassung und weiterführende Fragestellungen

Als Resümee des ersten Einführungsseminars steht nach den hier vorgelegten Quellen fest: Es war erfolgreich gescheitert. Die Teilnehmenden hatten in seinem kleinen Rahmen die Dominanz der reformpädagogischen Traditionen der Weimarer Republik und die Konzepte der Re-Education für die Erwachsenenbildung gleichermaßen kritisiert und die Erziehung zur Demokratie zur eigenen, generationell verpflichtenden Aufgabe gemacht, und zwar, so scheint es zumindest in den Erinnerungen von Pressel durch, als innerdeutsche Angelegenheit.

Das Modell des politisch gebildeten Menschen, prototypisch vom hauptberuflichen Leiter der Volkshochschule und perspektivisch auch vom hauptberuflichen pädagogischen Mitarbeiter verkörpert, war aus Sicht der Teilnehmenden schon zum Zeitpunkt des Seminars überholt. Die Absicht, nämlich reformpädagogische Ansätze der Weimarer Republik und ihrer Weiterentwicklung in der angelsächsischen Diskussion und eine durch die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus belehrte geisteswissenschaftliche Pädagogik zusammenzubringen, war gescheitert. Ungelöste erkenntnistheoretische Problemstellungen der Demokratieerziehung und inhaltliche Schwächen der „Gruppenpädagogik“ vermischten sich mit aktuellen normativen politischen Leitvorstellungen, insbesondere der Bekämpfung wieder auftretender neonazistischer Gruppierungen.

Teilnehmende und Seminarleitung vertraten unterschiedliche Konzepte des politisch gebildeten Menschen. Die Teilnehmenden wollten die geisteswissenschaftliche Pädagogik und den neuhumanistischen Bildungsbegriff, die den Nationalsozialismus zumindest nicht verhindert hatten, hinter sich lassen. Dass diese Traditionen in den älteren Referentinnen und Referenten präsent waren, war augenfällig. Dass Kelber und Wilhelm, ganz unterschiedlich belehrt – nämlich aus der Perspektive der Emigrantin mit angelsächsischen Erfahrungen und des an US-amerikanischen Vorbildern bekehrten Nazis, ältere reformpädagogische Weimarer Traditionen zu integrieren versuchten, war für die schon politisierten Teilnehmenden kein Grund, die unterschiedlichen Traditionsstränge differenzierter zu betrachten. Sie wurden darin auch nicht von den Leitern unterstützt. Auch sie unterschieden nicht zwischen den erkenntnistheoretischen Problemen, die sich durch das Konzept der Gruppenpädagogik, insbesondere auch als Methode der politischen Erwachsenenbildung stellten, und den gesellschaftspolitischen Hoffnungen und Erwartungen, die sie als umgreifende Demokratisierung der Gesellschaft normativ durchzusetzen hofften.

Die frühen Einführungsseminare für Erwachsenenbildner von 1959 bis 1966 bieten sich aufgrund der konstitutiven Bedeutung für die öffentlich verantwortete Erwachsenenbildung seit den 1960er Jahren für weitere sozial- und mentalitätsgeschichtliche Forschungen an, ebenso wie zu Forschungen über bis heute ungelöste erkenntnistheoretische Fragestellungen, wie nach einer spezifischen erwachsenengerechten Gruppenpädagogik oder auch politischen Subtexten in der Rollenzuschreibung von in der Weiterbildung Beschäftigten. Die Rekonstruktion der Inszenierung des Lernorts „Einführungsseminar“ ist dafür ein Baustein.

Zum Lernort wurde das Seminar auch, weil es unbeabsichtigt von der Tagungsregie den Widerstand und die Selbststeuerungskräfte der Gruppe in Gang setzte und auf diese Weise die Tagungsleitung mit der äußeren Realität konfrontierte.

 

 

Anmerkungen:

[1] Erhard Schlutz, Begleitung eines Sinneswandels. „Organisationen“ als pädagogische Leistungsträger. In: Ekkehard Nuissl (Hrsg.), 50 Jahre für die Erwachsenenbildung: Das DIE – Werden und Wirken eines wissenschaftlichen Serviceinstituts, Bielefeld 2007, 63-84.

[2] Interview mit Horst Siebert, vom 10.10.2005 (Klaus Heuer, Privatarchiv).

[3] Detlef Kuhlenkamp, Die Einführungsseminare der Pädagogischen Arbeitsstelle des Deutschen Volkshochschul-Verbandes, in: Hessische Blätter für Volksbildung 23. Jg., 1973, Heft 3, 244-258; Hans Tietgens, Vorbereitungsseminare. In: Wolfgang Schulenberg (Hrsg.), Zur Professionalisierung der Erwachsenenbildung, Braunschweig 1972, 175-200.

[4] Cornelia Scholz-Rüger (Hrsg.), Nach Falkenstein Rufe. Ein Lehrstück von Politik und Bildung, Falkenstein 2003.

[5] Klaus Heuer, Die Einführungsseminare für Erwachsenenbildner der PAS/DVV von 1959-67 – innovative Beiträge zur Professionalisierungsentwicklung der Erwachsenenbildung. In: Christian Hof (Hrsg.), Professionalität zwischen Praxis, Politik und Disziplin. Dokumentation der Jahrestagung der Sektion Erwachsenenbildung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft vom 25. bis 27. September 2008 an der Freien Universität Berlin, Baltmannsweiler 2008, 144-157.

[6] Tietgens, Vorbereitungsseminare, a.a.O.

[7] Johannes Schwerdtfeger, Eindrücke eines Teilnehmers. In: Berliner Blätter für Volkshochschulen, 1960, Heft 11, 111-116; Ingeborg Kleinert, Ein erfreulicher Beginn. Das Seminar für Erwachsenenbildner in „Haus Ahlenberg“. In: Hessische Blätter für Volksbildung, 9. Jg., 1959, Heft 5, 303-305.

[8] Johannes Weinberg, Seminar für Erwachsenenbildner veranstaltet vom DVV in der Heimvolkshochschule Falkenstein vom 25.9.-21.10.1961. In: Hessische Blätter für Volksbildung, 11. Jg., 1961, Heft 12, 507-511.

[9] Franz Pöggeler, Ein neuer Weg andragogischer Fortbildung im Institut für Erwachsenenbildung, in: Erwachsenenbildung, 1957, Heft 1, 15-26.

[10] Paul Steinmetz, Seminar für Arbeiterbildung 1955. In: Hustedt-Briefe, Herbst-Winter 1995, 5-6.

[11] DIE-Archiv: Einführungsseminare der PAS/DVV, Sign.: EIN007.

[12] Protokoll, Gruppe I, 4. In: DIE-Archiv, Einführungsseminare der PAS/DVV, Sign.: EIN007.

[13] Protokoll, Gruppe 2, 3 f. In: DIE-Archiv, Einführungsseminare der PAS/DVV, Sign.: EIN007.

[14] Bericht, Strzelewicz, 5. In: DIE-Archiv, Einführungsseminare der PAS/DVV, Sign.: EIN007.

[15] Ebd., 5.

[16] Kleinert, Ein erfreulicher Beginn, a.a.O., 305.

[17] Schwerdtfeger, Eindrücke, a.a.O., 114.

[18] Interview mit Alfred Pressel vom 8.4.2008 (Klaus Heuer, Privatarchiv).

[19] Hans Tietgens, Diskussionsbeitrag. In: Volker Otto (Hrsg.), Von Hohenrodt zur Gegenwart: Rückblicke und Ausblicke, Frankfurt 1987, 48.

[20] Wolfgang Keim, Pädagogen und Pädagogik im Nationalsozialismus, Frankfurt a. Main 1991.

[21] Siehe bspw.: Theodor Wilhelm, Verwandlungen im Nationalsozialismus. Anmerkungen eines Betroffenen. In: Neue Sammlung. Zeitschrift für Kultur und Erziehung, 1989, Heft 1, 498-506.

[22] Hermann Giesecke, Demokratie als Denk- und Lebensform. Ein Nachruf auf Theodor Wilhelm (1906-2005). In: Das Gespräch aus der Ferne. Vierteljahreshefte zu wesentlichen Fragen unserer Zeit, Nr. 375, 2005, Heft 4, 37-38; online: http://5tc1.de/giesecke/wilhelm.htm (16.02.2012).

[23] Friedrich Oetinger [Pseudonym für Theodor Wilhelm], Partnerschaft. Die Aufgabe der politischen Erziehung, Stuttgart 1953, 5.

[24] Alfred Knierim, Die Entwicklung des hessischen Volkshochschulwesens im Zeitraum von 1945 bis 1952, Frankfurt a. Main 1982, 135-140; Karlheinz A . Geißler/Marianne Hege, Konzepte sozialpädagogischen Handelns, 10. überarb. Aufl., Weinheim 2001.

[25] Jürgen Henningsen, Zur Kritik der „Gruppenpädagogik. In: Kulturarbeit, 1959, Heft 10, 193-197; ders., Die Diskussion der Gruppenpädagogik. In: Kulturarbeit, 1960, Heft 6, 111-114.

[26] Geißler/Marianne Hege, Konzepte, a.a.O.; Kurt Frey, Die Gruppe als der Mensch im Plural. Die Gruppenpädagogik Magda Kelbers, Frankfurt a. Main 2003

[27] Henningsen, Die Diskussion, a.a.O., 114.

[28] Tietgens, Vorbereitungsseminare, a.a.O., 190.

[29] Ebd., 177.

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