Die Bedeutung der Naturwissenschaften und der Anatomie für das Volk in Oesterreich

Titelvollanzeige

Autor/in:

Brühl, Carl Bernhard (Vortragender)

Titel: Die Bedeutung der Naturwissenschaften und der Anatomie für das Volk in Oesterreich
Jahr: 1866
Quelle:

Wiener Medizinische Wochenschrift Nr. 7, 24.1.1866, Sp. 115-117; Nr. 8, 27.1.1866, Sp. 131-134; Nr. 9, 31.1.1866, Sp. 147-150; Nr. 11, 7.2.1866, Sp. 179-184, jeweils unter dem Titel »Professor Brühl’s erste diesjährige Sonntagsvorlesung, abgehalten im Sammlungssaale des zootomischen Universitäts-Institutes. (Nach einer revidierten stenographischen Aufzeichnung.)«. Der genannte Titel wird von Brühl in Spalte 116 genannt.

[Sp. 115 ] Geehrte Herren und Frauen!

Ich heisse Sie hier, in den neuen Lokalitäten des von mir geleiteten zootomischen Institutes, freudig willkommen.

Nicht Wenigen unter Ihnen dürfte auch das frühere, kleinere Institut bekannt gewesen sein, das in einem Privathause dürftig untergebracht war. Während nun jenes Institut vor etwa drei Jahren, durch den damaligen Staatsminister, Herrn von Schmerling, dessen Namen das zootomischen Institut immer und immer mit der innigsten Verehrung zu nennen haben wird, ins Leben gerufen wurde, ist die dermalige Vergrösserung des Institutes durch das nun regierende Staatsministerium bewirkt worden, und ihm sei deshalb hier mein ergebenster, innigster Dank dargebracht; Dank vor Allem dafür, dass es mir so ermöglicht wurde, Sie nun im eigenen Hause willkommen heissen zu können.

Indem ich dies nochmal thue, erfreut mich auch ganz besonders der Gedanke, dass ich Sie nun heuer zum dritten Male zu einem und demselben schönen und edlen Zwecke vor mir vereinigt sehe.

Denn zum dritten Male folgen Viele von Ihnen der Einladung, die ich zuerst vor zwei Jahren an Männer und Frauen aller Stände in Wien ergehen liess, um sie an die als so traurig und schauerlich verrufene Stätte der anatomischen Forschung zu rufen. Zu rufen dazu, mit mir einzelne hervorragende Ergebnisse dieser Forschung durchzugehen, von ihnen übersichtliche Kenntniss und Selbstschau zu nehmen, so weit beide für Ihr ganz anderseitig beschäftigtes Leben mir wünschenwerth schienen, und aus diesem Wissen reichliche Nahrung und Begründung zu schöpfen für: Selbsterkenntniss, Selbstveredelung, und trostvolle Erhebung Ihres menschlichen Bewusstseins!

Denn reiche Nahrung für diese drei kostbaren Faktoren eines jeden Menschenlebens sind in jener Forschung, wie in keiner anderen, enthalten!

Und wenn ich so in Stunden der Musse die Namen- und Standeslisten der Herren und Frauen durchblättere, die meinen Sonntags-Vorlesungen bereits gefolgt sind, – nun wissen Sie auch, warum die persönlichen Einschreibungen in diese Listen mir so wünschenswerth sind, – und wenn ich die zahlreichen mündlichen und schriftlichen, mir von diesen Herren und Frauen zugegangenen Beweise in Erinnerung durchgehe, die mir ganz deutlich bewiesen, Viele von Ihnen seien mit dem von mir gewünschten Verständnisse meinem Bestreben entgegen gekommen, dann bewegt mich ein wahrhaft wohlthätiges Gefühl, ein erhebender Gedanke, der sich darin koncentrirt: die Bevölkerung von Wien ist ganz anders, als man sie, besonders im Norden von Deutschland, auszugeben pflegt; sie ist nicht ein Haufe von Sybariten, die nur an Sinnesgenüssen Befriedigung finden; in dieser Bevölkerung wohnt ein Sinn für Wahrheit, für Wissen, für Veredelung, den anzuerkennen und zu verkünden, ganz wohl ich das Recht habe und die Pflicht fühle, weil ich Zeuge dieses Sinnes in seinen eben so reichlichen als mannigfaltigen Ausdrücken gewesen bin.

Erlauben Sie mir, geehrte Herren und Frauen, hierbei noch ein wenig zu verweilen.

Ich lernte in den letzten Jahren hier in Wien eine nicht unbeträchtliche Menge von Leuten aus den verschiedensten Ständen (meine Einschreibelisten weisen bis 65 Stände auf, vom „Tagarbeiter“ bis zum „Sektionschef“ und „General“) kennen, die vordem ein anatomisches Präparat, besonders vom Menschen, für etwas Abscheuliches, Ekelhaftes, höchstens dem Arzte Nützliches gehalten haben, und ein solches um keinen Preis auch nur angerührt, geschweige länger beschaut, und prüfend hin und her gelegt hätten; ganz besonders gilt dies namentlich von den Frauen, denen schon die Erinnerung an einen Todten in der Regel Herzbeben verursacht. Alle Diese haben nun in den Sonntags-Vorlesungen, wie Viele von Ihnen wohl selbst bezeugen können, mit Leichentheilen, mit Präparaten, mit Spritiusgetränkten [Sp. 116] halb verschrumpften Thierleibern in einer Weise und mit einer Selbstüberwindung handtiert, als wenn sie von Jugend auf in anatomischen Sammlungen gross gezogen worden wären. Manche, bisher nur mit den feinsten Parfums zufriedene, Dame hat mit wahrem Heroismus den Alkoholgeruch eines im stärksten Weingeist erhärteten Gehirns ihres Mitmenschen ganz unbeachtet gelassen, um die vielsagende Oberfläche eines solchen Gehirns mit ihren zarten Fingern genauer prüfend betasten zu können. Sie Alle haben sich mit einem Worte an Dinge gewöhnt, deren Namen allein schon Sie früher schaudern gemacht hat.

Warum haben Sie sich aber daran gewöhnt? war es etwa Ihre Pflicht? oder war es blosse müssige Neugierde, und diese so gross, dass sie den Schauder überwand?

Nein, nimmermehr kann ich dies annehmen, nach dem, was ich von Ihnen gesehen und gehört! Sie haben sich daran gewöhnt, und zwar nach und nach, weil durch die mit der Vorzeigung dieser Dinge verbundenen Erläuterungen, nach und nach aber immer stärker und siegreicher, die Ueberzeugung in Ihnen auftauchte, durch die Kenntnissnahme dieser Dinge entstehe eine erhebende, eine beruhigende, eine klärende Stimmung von grossem Werthe in vielen Lagen des Lebens.

Sie sahen sich mit einer Masse von Vorstellungen und Begriffen vertraut werden, deren Namen Sie früher kaum ahnten, die aber Sie mit einem Male einführten in die unerschöpfliche Schatzkammer der wahren Natur-Wunder.

Und das Bewusstsein, dass diese Schatzkammer nun, wenigstens theilweise, auch Ihnen gehöre, dass auch Sie, wie fernab immer Ihre Lebensbahnen von der Forschung des positivsten und dauerndsten aller menschlichen Forschungsobjekte liegen mögen, dass auch Sie mit in den Kreis der Wissenden eingetreten seien, diess hat Sie das oben berührte Schaudern überwinden lassen.

Versuche ich aber mir noch genauer diese Ihre Stimmung zu zerlegen und um das wahre Motiv Ihrer, alle Vorurtheile so mächtig besiegenden Theilnahme zu forschen, so weiss ich Nichts anderes herauszufinden, als – den Geist unserer Zeit, der Sie alle beherrscht, den naturwissenschaftlichen Geist unserer Zeit, das ursächliche Denken, das, trotz und alledem, in die Menge (als siegverkündender Herold des menschlichen Fortschrittes), gedrungen ist.

Wenn ich also der Menge ein Tugendzeugniss auszustellen hätte, nach den Erfahrungen, die ich auf slavischem, ungarischen und deutschen Boden an dieser Menge machte, – denn ich war auch Lehrer der Naturwissenschaft in Krakau und Pest, – die ich machte an Menschen beiderlei Geschlechter und aller Stände, so klänge dieses Zeugniss ganz anders, als man es von so manchen Stätten ertönen hört, an welchen wohl nicht Messer und Scheere des Anatomen, aber auch nicht die veredelnde Anschauung, die vorurtheilsose Auffassung des Naturforschers, das Urtheil über die Nebenmenschen bilden helfen.

Von diesen Stätten aus, an denen man nur im Geiste der Liebe und der Versöhnung sprechen sollte, ertönt nämlich leider nur zu oft ein markerschütterndes Anathema über die Menschen, und besonders über die Menschen von heute. Die Menschen von heute sind schlechter als vormals, sie weichen mehr als je von dem Wege der eigentlichen menschlichen Bestimmung ab u. s. f., heisst es.

Was ist es denn aber, das an diesen Stätten das entgegengesetzte Urtheil von jenem hervorruft, das ich früher aussprach?

Es ist das von mir früher betonte Faktum des nun in die Menge gedrungenen ursächlichen Denkens.

Denn dasselbe ursächliche Denken, das Sie mir so werth macht, wegen dessen ich Sie mit Stolz und Freude meine Mitbürger, meine Mitmenschen nenne, veranlasst an jenen Stätten nur zu oft ein Verdammungsurtheil über die Menschen, welche dieses Denken üben.

Mit dem Ausspruche dieser eben nicht erfreulichen aber jedenfalls näher zu untersuchenden Wahrheit, bin ich nun mitten in den Gegenstand hineingekommen, den ich mir zum Hauptthema meiner heutigen Vorlesung bestimmt habe, und das lautet: die Bedeutung der Naturwissenschaften und Anatomie insbesondere für das Volk in Oesterreich, mit Rückblicken auf andere diesbezügliche weltliche und nicht weltliche Reden.

[Sp. 117] Zum Theile habe ich nun, wie Sie g. H. u F. wohl, zugeben werden, dieses mein Thema schon durch meine bisherigen Einleitungsworte beleuchtet und ausgeführt, denn das Lob für das ursächliche naturwissenschaftliche Denken, welches ich früher aussprach, ist ja schon ein Urtheil über die „Bedeutung der Naturwissenschaften;“ doch gehe ich nun daran, dies Alles weiter und mit Begründung aller, in meiner Ankündigung enthaltenen Zusätze, als für das Volk in Oesterreich u. s. w., auseinanderzusetzen.

Nur gestatten Sie mir früher, eine Frage, die ich auf den Lippen so Vieler von Ihnen in diesem Augenblicke schweben sehe, zu beantworten. Der Inhalt dieser Frage ist: wie kömmt man denn in einem zootomischen Institute dazu, Themata so allgemeiner Art zu behandeln? warum beschäftigen Sie sich nicht mit den Gegenständen Ihres speciellen Faches? warum rufen Sie uns in einen anatomischen Präparaten-Saal, um uns zu sagen, ob der Geist der Zeit dieser oder jener Art ist?

Meine Herren und Frauen! meine Antwort auf diese scheinbar ganz berechtigten Vorwurfs-Fragen hängt aber so innig zusammen mit meiner Vorstellung über die wahren Zwecke und die ganze Bedeutung eines zootomischen Institutes, wie ich es mir in seiner vollkommensten Gestaltung denke, und wie es, wenigstens annähernd, zu realisiren, meine ganze weitere Lebensaufgabe bildet, dass ich mir schon Ihre Erlaubniss ein wenig dazu erbitten muss, Ihnen diese meine Vorstellung kurz aber eindringlich auseinanderzusetzen zu dürfen. Weitläufiger geschieht diess demnächst in einer bereits, wie Viele von Ihnen wissen, im vorigen Jahre angekündigten, und nur durch die Verlegung und Vergrösserung des Institutes bisher zurückgehaltenen Schrift: „das zootomische Institut der Wiener-Universität etc.“; hier will ich bloss für so Viele, die den Namen zootomisches Institut nun zum ersten Male hören und es vielleicht für eine Art Thierspital halten, – was mir auch schon vorgekommen ist, – sagen, was ein solches Institut eigentlich ist und soll.

[Sp. 131] Ein zootomisches Institut, geehrte H. u. F., ist eine Anstalt, an der, wie der Wortlaut schon es sagt, Thiere, und zwar alle Thiere, vom niedrigsten, dem mikroskopischen sich eben noch regenden Schleimklümpchen, bis zur erhabensten Thierform, dem Menschen, zu dem Zwecke zerlegt werden, um sämmtliche wesentlichen Bestandtheile ihrer Körper zur Anschauung zu bringen.

Wir thun dies makroskopisch und mikroskopisch, d. h. mit unbewaffnetem Auge für die gröberen Theile, und mit bewaffnetem, – Abschnitte geschliffener Glaskugeln, optische Linsen genannt, sind die hierzu dienenden Waffen, – für die feinere Zusammensetzung dieser Theile.

Die Zwecke, die wir hierbei verfolgen, sind aber nicht etwa jene, die man in den Seciersälen der menschlichen Medizin und in den Thierspitälern, wo auch Zootomie und zwar jene unserer Hausthiere getrieben wird, vor Augen hat. Dort ist die Anatomie reine Nützlichkeits-Sache; sie ist eine Art Handwerkszeug, mit dem der Menschen- und Thier-Arzt vertraut gemacht werden muss, um seinen Beruf, wenigstens anscheinend, mit Anstand erfüllen zu können. Von einem höheren, das anatomische Studium belebenden allgemeinen Gedanken, von dem Drange, die Thier-Körper als solche, um ihrer selbst willen, zu ergründen, ist aber in jenen Schulen keine Rede. Will man die oft unausstehliche Dürre der dort Statt findenden Aufzählungen ein wenig erfrischend beleben, so wird, wenigstens an manchen Orten, zu – Anekdoten und Zötchen gegriffen, deren Wirkung auf das Zwerchfell der Hörer jedenfalls viel sicherer ist, als jene auf deren Bildungskreis.

In ganz anderer Weise, zu ganz anderem Zwecke soll aber das zootomische Institut, in dem wir uns hier befinden, die Thiere zerlegen, und die Resultate der Zerlegungen verschiedener Thiere mit einander vergleichen.

Die Erforschung der den Thieren verliehenen Werkzeuge in ihren allgemeinsten und wieder auch in ihren speziellsten Zügen, die klare Darlegung der Architektur-Pläne, nach welchen die schaffende Natur die höchste Wesensform dieser Erde, das Thier, in Tausenden von Varietäten (Typen und Abarten) ausgeführt hat, die Verfolgung der leitenden Gedanken, welche bei der Modellirung des organischen, sich bewegenden Stoffes in zahllose Gestalten vorgeschwebt haben mögen, – mit Einem Worte das Studium der Thier-Organisation in allen ihren Beziehungen, und Pflege aller Kenntnisse und Handgriffe, welche dieses Studium fördern, aber um ihrer selbst willen und nicht zu sogenannten praktischen Nützlichkeitszwecken, ist die Aufgabe des zootomischen Institutes, wie ich mir es denke.

Und da der Mensch, wie herrlich und erhaben er auch in diesem Augenblicke! vor anderen Thieren durch die Eigenschaften seines Gehirns dasteht, doch, den Grundzügen seines Baues nach, nichts anderes ist als ganz und gar ein Thier, so gehört mehr als Verdrehung der Wahrheit, gehört absichtliche Verläugnung derselben dazu, den Menschen aus diesem Institute verdrängen zu wollen, wie bei der Gründung dieses Institutes von manchen, selbst massgebenden Seiten beabsichtigt worden ist.

Doch so lange ich lebe, und so lange das Blut noch in meinen Adern rollt wie jetzt, werde ich dies nicht zugeben, werde ich nicht aufhören, den Menschen als einen der wesentlichsten Gegenstände der Lehre und der Forschung in diesem Institute zu betrachten, und werde ich, von ihm ausgehend oder zu ihm [Sp. 132] zurückkehrend, je nachdem, die Thier-Organisation zu beleuchten unternehmen.

Die Thier-Organsiation! mit diesem Worte habe ich das Schiboleth der Begeisterung bezeichnet, die mich durchlebt bei meinen Studien und Lehrbemühungen, und welches in seinem vollen Verständnisse alle Jene durchdringen möge, die meine Mitarbeiter und meine Hörer sind.

Denn das erhabenste Werk des Schöpfers ist nach meinem Dafürhalten, g. H. u F., die Thier-Organisation. Höheres, Weiseres, Schöneres hat Gott nicht geschaffen und – konnte er, nach unseren, freilich beschränkten, menschlichen Begriffen, nicht schaffen.

Es drückt dies in unübertroffener Weise schon ein sehr altes Buch, die Bibel aus, welches Buch, was man auch von ihm immer sagen möge, des Schätzbaren an Wahrheit und Weisheit und des Trostvollen für eine grosse Menge von Menschen sehr viel enthält; bei welcher Anerkennung von Seite eines Naturforschers es sich übrigens fast von selbst versteht, dass er einer buchstäblichen (litteralen) Deutung oder Befürwortung jedes Ausspruches und Angabe jenes Buches nicht das Wort reden kann.

Dieses Buch nun, die Bibel, sage ich, gibt in der überzeugendsten Weise zu, und verkündet es auch mit den bezeichnendsten Worten, die Thier-Organisation sei die Perle der Schöpfung. Denn es lehrt bekanntlich: der Mensch sei im Ebenbilde Gottes geschaffen. „Und Gott schuf den Menschen, ihm zum Bilde; zum Bilde Gottes schuf er ihn,“ lautet die berühmte Stelle in einer bekanntlich sehr guten Uebersetzung des Original-Textes. Was sagen diese Bibel-Worte aber Anderes, als was ich früher ausdrückte: die Thier-Organisation sei das erhabenste Werk des Schöpfers. Ist ja doch der Mensch, wie ich schon wiederholt hervorhob, nur die kompleteste und edelste Durchführung dieser Organisation.

Diese Organisation nun in ihre Elemente (Bestandstücke) zu zerlegen; die Ursächlichkeit jedes einzelnen Elementes aus seinem feineren Baue zu ergründen; zu vergleichen, warum diese Elemente in dem einen Thiere so und in dem anderen anders und wie sie anders sind; darzuthun, wie es kommt, dass diese Elemente trotz ihrer Formunterschiede doch sehr ähnlichen Zwecken dienen können; endlich, das Form- und Geistes-Band zu finden, von der scheinbar einfachsten Form bis zum komplicirtesten Bau der thierischen Welt; – Alles dies ein Forschen der erhabensten Art, ist die Aufgabe des Zootomen, ist das Ziel eines zootomischen Institutes.

Und wenn ich weiter hinzufüge, dass Jene, welche ihr Leben hiermit verbringen, ganz gut Priester der Natur genannt werden dürfen, so sage ich dies nicht etwa aus Eitelkeit über meinen Stand. Sondern, weil ich mir mit dem Begriffe Priester zugleich die Verpflichtung verknüpft denke, das, was erkannt wurde, auch zu lehren, zu lehren an Alle, Alt und Jung, Wissende und Unwissende, Reiche und Arme. So sage ich dies, weil ich in der Zootomie eine Wissenschaft mit einem Kerne ersehe, an dem Menschen aller Zeiten und aller Stände geistige Nahrung finden und Erkenntnisse schöpfen können, wie sie heut zu Tage eben auch alle Menschen brauchen.

Ein zootomisches Institut kann aber diese seine grosse und allgemein bedeutsame Aufgabe nur dann erfüllen, wenn es die Mittel besitzt, welche zu einer allseitigen Erforschung der Thierwelt nöthig sind. Dieser Mittel sind viele; sie sind kostspielig; sie können nur durch mannigfache Zugeständnisse von Seiten aller hierbei massgebenden Faktoren herbeigeführt werden; es bedarf hierzu der Gunst von oben und von unten.

Das von mir geleitete Institut hat alle diese Mittel dermalen noch nicht; es hat die meisten sogar nur in sehr beschränktem und seine Förderung sehr lähmenden Maasse.

Ja selbst, diejenigen Mitarbeiter eines solchen Institutes, solche Schüler desselben, die sich, bei nur einiger vernünftigen Ueberlegung, eigentlich ex professo an demselben [Sp. 133] betheiligen sollten, sind, durch ein völliges Verkennen der Bedeutung und Zwecke des Institutes von Seiten mit Stimme oder Einfluss versehener Männer, durch gewisse unzweckmässige Einrichtungen vom Institute entfernt, ihm entfremdet worden.

Ich habe nun zwar die feste Hoffnung, dass auch dieser Umstand sich ändern werde; wenn auch nicht bei meinen Lebzeiten, doch wenigstens nach meinem Tode, unter einem eventuellen Nachfolger, – wenn nämlich Vernunft und Recht gesiegt haben werden!

Allein, – lassen wir jene durch ein officiöses Publikum ermöglichte Mittel-Förderung des Institutes, über die ich in meiner früher erwähnten Instituts-Schrift ausführlicher meine unumwundene Meinung abgeben werde; erlauben Sie mir lieber, um was es mir hier und heute mehr zu thun ist, Ihnen, g. H. u. F., zurufen zu dürfen: Sie alle sind es, welche ein solches Institut fördern und grösser machen können. Sie fragen, wie dies möglich, ich will es Ihnen sagen.

Sie alle können das zootomische Institut in zweierlei Weise fördern: moralisch und materiell:

Moralisch haben Sie es eigentlich schon durch zwei Jahre gefördert, und fördern es auch heute: einfach durch Ihre Gegenwart in so grosser Zahl, mit solcher Ausdauer, und mit so sittlichem Ernste. Leider ist es nun einmal so in der Welt, dass viele Dinge erst dann geschätzt werden, wenn die Menge sie begehrt. Da Sie nun, geehrte Herren und Frauen, diesen meinen Vorlesungen die Ehre erweisen, sich in einer Zahl zu betheiligen, die alle meine Erwartungen, und wie es scheint, auch die Anderer weit übertrifft, hat man angefangen zu denken, es müsse doch am Objekte und an dessen Behandlungsweise im zootomischen Institute Etwas sein, und dieses Denken hat dem Institute entschieden schon genützt. Ich fühle mich daher verpflichtet, Ihnen Allen meinen Dank für diese Ihre moralische Unterstützung auszusprechen, und Sie um deren Fortsetzung zu ersuchen.

Allein auch materiell können Sie das Institut unterstützen. Indem ich Ihnen das Wie bezeichne, spreche ich Etwas aus, was vorläufig freilich nur als Keim in meiner Vorstellung liegt, von dem ich aber sehnlichst wünsche, es wachse zur Blüthe, zur Frucht heran. Vernehmen Sie gefälligst, was ich meine.

Mancher von Ihnen dürfte vielleicht schon von den Peripatetikern (wandernden Lehrern) des Alterthumes gehört haben, von jenen Forschern und Lehrern der Griechen und deren Schülern, welche alle zusammen nicht in dumpfen Stuben, sondern auf dem Markte, unter luftigen Säulenhallen, oder gar in Gottes freier Natur auf- und abgegangen, und sich in gegenseitigem Gedankenaustausche über allerlei Dinge unterrichtet haben.

Zu solchen Peripatetikern im Interesse des Institutes, wobei vielleicht auch Ihr eigenes Interesse, freilich nur ein geistiges, nicht ganz leer ausginge, möchte ich Sie gerne machen; ich möchte nämlich, dass Mehrere von Ihnen, – ich appellire natürlich hiebei nur an das starke Geschlecht, – sich mit mir im Frühling und Sommer vereinigen würden, die Umgegenden Wiens in gewissen naturhistorischen, von mir seinerzeit näher zu bezeichnenden Beziehungen kennen zu lernen. Wir würden also im Sommer so zu sagen statt der Sonntags-Vorlesungen etwa Sonntags-Spaziergänge mit einander verabreden, deren jeder einen gewissen Zweck hätte, jedoch freilich nur in kleineren Abtheilungen geschehen könnte. Ich deute übrigens diesen Gegenstand heute nur an, weil ich am heurigen Schlusse meiner Sonntags-Vorlesungen auf ihn noch einmal eingehender zurückkommen will; haben Sie bis dahin die Güte, darüber nachzudenken, ob sie dieses Institut auch materiell unterstützen wollen oder nicht. (Allgemeiner Beifall.)

Ich habe aber, g. H. u. F., wie Sie vielleicht mit Bedauern bemerken werden, bisher Ihre Geduld fast nur durch Nachrichten über mein Institut in Anspruch genommen, also über einen Gegenstand, um dessentwillen Sie, wenigstens Viele von Ihnen, heute gewiss nicht hergekommen sind. Denn ich glaube fast, annehmen zu sollen, ein nicht unbedeutender Theil dieser meiner geehrten so zahlreichen Hörerschaft, die hier im Schweisse ihre Angesichtes (buchstäblich) steht, sei hergekommen, verlockt durch das früher angeführte und in manchen Tagesblättern enthalten gewesene Hauptthema meiner heutigen Vorlesung. Dieser Titel scheint mindestens etwas – Pikantes, schon durch den Beisatz „für das Volk etc.,“ „mit Rückblick auf andere Reden etc.,“ versprochen zu haben.

[Sp. 134] Nun – ich will Ihre Neugier bezüglich dieser Dinge nicht länger mehr spannen. Denn jetzt, nachdem ich Ihnen gesagt habe, welche Meinung ich von Ihnen habe, nachdem ich die Stätte charakterisirte, an welcher wir uns zusammen finden, und nachdem ich die ganze Bedeutung dieser Stätte nach meinem Sinne Ihnen näher zu bringen versucht habe, jetzt, aber auch jetzt erst, glaube ich, von diesem so gekennzeichneten Katheder aus, zu Ihnen „von der Bedeutung der Naturwissenschaften für das Volk in Oesterreich“ u. s. w. sprechen zu können.

Die Naturwissenschaften, g. H. u. F., sind heut zu Tage ein verrufenes Ding bei den Einen, ein hoch in Ansehen stehender Wissenszweig bei den Anderen.

Den Einen scheinen sie eine ungeheure Summe von Gefahren für die höhere Stellung des Menschen zu enthalten; den Anderen sind sie die stolzeste Blüthe aller menschlichen Forschung, der sicherste Leitfaden alles menschlichen Bewusstseins.

Sollte es nun nicht möglich sein, vermittelnd zwischen beiden sich schroff gegenüberstehenden Ansichten eintreten zu können? Und ist dies nicht geradezu die Pflicht des unbefangenen, sich nicht überhebenden Naturforschers?

Sollte es nicht gelingen können, durch den Nachweis, dass die Naturwissenschaften Nichts von den Gefahren enthalten, die Einige in ihnen wittern, die Parthei der Schwarzseher zu uns – Sie sehen, ich rechne Sie schon zu „uns“ – herüber zu bringen?

Andererseits gehört es, wie die Partheien heute stehen, und eben, weil sie so schroff einander entgegen stehen, nicht geradezu zu den Pflichten eines nüchternen Forschers in der Natur und ihren Erscheinungen, vor Uebermass in der Schätzung der naturwissenschaftlichen Resultate für die moralische Stellung und Bedeutung der Menschen zu warnen? Und dies um so mehr, je mehr die Positivität der naturwissenschaftlichen Resultate unseren Stolz zu verführen droht, und je mehr sehr hochbegabte Männer, auf welche die Leute horchen, die Naturwissenschaft zu überschätzen scheinen?

Ja, – ich halte auch diese Warnung für eine Pflicht. Und ich halte sie für eben so nützlich, damit nicht durch Jene, die zu viel verlangen, selbst das der Naturwissenschaft mit Recht zu Gewährende in seinen Ansprüchen verdächtigt werde.

Meine g. H. u F., ich weiss sehr wohl, was ich mit der Aussprache solcher Sätze unternehme, und in welches Wespennest ich steche.

Die unerquicklichste Stellung ist die des Juste-milieu, so natürlich und so berechtigt sie auch ist; Eklektiker (Auswähler) waren nie beliebt; die eine und die andere Parthei mochte sie nicht.

Aber, – ich fühle den Muth in mir, erzeugt durch das redliche Bewusstsein eines völlig absichtslosen Gedankenganges, die rechte (wenigstens mir die rechte scheinende) Mitte zu halten, zwischen der donnernden Kanzel der Finsterlinge und dem negirenden Katheder des überspannten Naturforschers, – und im Sinne dieser Mitte will ich zu Ihnen von der Bedeutung der Naturwissenschaften weiter sprechen.

[Sp. 147] Ich habe jedoch zur Charakterisirung dieser Mitte so wie überhaupt meines Standpunktes, Ihnen noch ein paar Worte zu sagen, die ich Ihrer Beachtung empfohlen haben möchte.

Wollen Sie, g. H u. F., sich vor Allem darauf gefasst machen, in meinem Vortrage über das angezeigte Thema durchaus nicht so viel – Pikantes zu hören, als Sie vielleicht vermuthen dürften. Jedenfalls thäte es mir sehr leid, wenn Sie nur darum hergekommen sein sollten; denn ich weiss im Voraus, dass Sie in diesem Falle sehr enttäuscht von hier gehen werden. Ich beabsichtige nämlich nur die Wahrheit über gewisse Dinge anzudeuten, nicht minder, aber auch nicht mehr; zu voller Ausführung fehlt mir die Zeit, scheint mir auch die Gelegenheit nicht geeignet. Zu Ohren kitzelnden, zweifarbigen Beziehungen habe ich weiter in so ernster Angelegenheit nicht die geringste Neigung.

Ich halte es nur für meine Gewissenspflicht, über die Bedeutung der Naturwissenschaften, Ihnen eine so unbefangene Auffassung vorzulegen, dass bei deren Anhörung auch nicht im Geringsten die Frage entstehen kann: hat der Mensch auch wirklich so gedacht, wie er spricht. Und man kann, wie Sie vielleicht wissen, nicht von allen bei uns geschehenen Auslassungen über diesen Gegenstand dasselbe behaupten; darum lege ich Gewicht darauf, dass Niemand sagen kann, ich hätte je öffentlich mit Bewusstsein etwas Anderes vorgebracht, als ich dachte. Auch spreche ich es ganz unumwunden aus, dass ich das Resultat Ihres Urtheils über meine Gedanken in voller Ruhe erwarte. Es wird mich freuen, wenn meine Gedanken Ihnen gefallen; es wird mich nicht schmerzen, wenn sie es nicht thuen.

Ich habe das, was ich über hieher gehörige Gegenstände ausspreche, viele Jahre und nach allen Richtungen hin erwogen; ich habe die Resultate dieser Erwägung mit meinem innersten Leben verwoben; ich habe endlich des Trostes für dieses mein Leben, das durchaus kein vom Glücke begünstigtes war, aus meiner Auffassung über die Stellung und Bedeutung der Naturwissenschaften, so viel geschöpft, dass es mir ganz gleichgültig ist, ob meine Gedanken auch Anderen zusagen oder nicht; nach oben oder nach unten.

[Sp. 148] Nachdem diese aufrichtige Erklärung nun abgegeben, gehe ich zur Sache.

Lassen Sie uns zunächst, – da über die Bedeutung der Naturwissenschaften im Allgemeinen, schon durch früher von mir Angedeutetes, sowie durch meine Lobrede auf das ursächliche Denken, Ihr Urtheil wohl schon halb gebildet, und Ihre Neugierde vorläufig befriedigt sein dürfte, – die, wie ich weiss, auf den Lippen fast aller Anwesenden brennende Hauptfrage beleuchten, warum ich von einer Bedeutung der Naturwissenschaften für das Volk in Oesterreich zu sprechen, für passend und für nöthig erachte.

Haben die Naturwissenschaften für das Volk in Oesterreich eine andere Bedeutung, rufen Sie mir zu, als für das Volk in Preussen, Polen, Italien u. s. w.?

Und wieder: hat die Naturwissenschaft in Oesterreich eine andere Aufgabe als anderswo?

Ja, g. H. u. F., die Naturwissenschaften haben für das Volk in Oesterreich eine andere Bedeutung als für die Völker anderer Länder. Denn das Volk in Oesterreich, ich meine natürlich im Kaiserthume Oesterreich, nicht etwa im Erzherzogthume, ist ein anderes Volk als etwa jenes in Pommern, Podolien, Piemont u. s. w.

Unter „Volk in Oesterreich“ verstehe ich nämlich die Summe aller jener, den verschiedensten Nationalitäten angehörenden Menschen (Staatsbürger, Bürger von Gesammt-Oesterreich), welche alle zusammen die wichtige Aufgabe haben, Oesterreich neu aufzubauen, (es zu einem mächtigen, wohl gekitteten, harmonischen, nach innen und aussen festen Ganzen zu gestalten).

In diese Summe von Menschen sind aber viele falsche Begriffe hineingetragen worden, unter ihr sind so viele irrige Gedanken über ihre gegenseitigen Beziehungen als Menschen verbreitet worden, dass ich es für eine wesentliche Pflicht der unbefangenen Naturforschung erachte (die ja auch über die Beziehungen der Menschen vom Standpunkte ihrer wesentlichsten, der angebornen, Grund-Eigenschaften nachzudenken hat), auf die möglichste Beseitigung dieser so verhängnissvollen falschen Begriffe und Irrthümer jenen Einfluss zu nehmen, welcher der Naturforschung zukommt.

Denn, ich erachte, ganz allein durch naturwissenschaftliches Denken, ganz allein durch ein, in Folge von Erwägung der wahren natürlichen Verhältnisse und Beziehungen der Menschen, unbefangen gewordenes Denken über sich und seines Gleichen, können jene früher erwähnten Irrthümer und alle jene Gedanken gründlich beseitigt werden, welche die wahrhaft [Sp. 149] naturgemässen Beziehungen der menschlichen Gesellschaft zu entstellen suchen.

Und warum ich noch einmal betone: Ja, über die Bedeutung der Naturwissenschaften für das Volk in Oesterreich sei hier besonders zu sprechen; ich will es Ihnen sagen.

Eine weltliche Rede ist es, die mich hierzu bewogen hat, eine weltliche, in Hannover, am 20. September des v. J. in der Versammlung deutscher Naturforscher gehaltene Rede. Sie veranlasst mich nämlich, durch einen mir nicht ganz berechtigt scheinenden Gedankengang, den sie aber zum Kernpunkt ihres Inhaltes machte, in Gegenwart von Oestereichern, diesen Gedankengang, wenigstens theilweise, etwas näher ins Auge zu fassen.

Jene Rede führte den Titel: „über die nationale Entwickelung und Bedeutung der Naturwissenschaften.“ und diese Rede hielt ein Gelehrter, den ich, seiner Gesinnungen und seiner positiven Forschungen wegen, hoch halte, ja, den ich nicht anstehe, geradezu für den geistreichsten, dermalen lebenden Naturforscher Deutschlands zu erklären; diese Rede hielt Hr. Prof. Virchow aus Berlin, ein Mann, dem vielleicht Mancher von Ihnen seiner politischen Gesinnung wegen gram, Andere hingegen wieder sehr zugethan sein dürften.

Doch ich, ich treibe hier keine Politik, und wenn ich hier von dem Volke in Oesterreich, zum Volke in Oesterreich (– sind ja doch unter Ihnen zahlreiche Vertreter aller Nationalitäten unserer Monarchie –) rede, so thue ich dies ganz allein als Naturforscher; als solcher nur will ich auch Einiges aus Herrn Virchow’s Rede beleuchten.

Herr Virchow hat in der besagten Rede (die in jeder Buchhandlung zu kaufen ist) das grösste Gewicht darauf gelegt, dass die Naturwissenschaften in Deutschland erst von der Zeit an gross geworden sind, seitdem Deutschland zum deutschen Bewusstsein gekommen ist. „Wir Einzelnen,“ sagt Virchow, „haben, meine ich, die Pflicht, uns jederzeit daran zu erinnern, dass wir unsere eigene Befähigung für Naturforschung eben nur dem Umstande verdanken, dass zum Theile schon unsere Vorgänger, zum Theile wir selbst, uns immer mehr an das nationale Leben angeschlossen haben.“

Ja, die ganze Rede V.‘s scheint mir so angelegt, als ob sie sagen wollte, die Naturwissenschaften hätten in Deutschland gar keinen eigentlichen Boden gehabt, sie hätten sich in ihm gar nicht fortschrittlich entwickeln können, wenn dieses Deutschland nicht (in Folge der Ereignisse nach dem Befreiungskriege von 1815, und durch Männer, wie Oken u. A. angeregt) zum nationalen Selbstbewusstsein gekommen wäre. Auch behauptet Herr Virchow, der deutsche Geist sei es, welcher der Naturwissenschaft in Deutschland eine eigenthümliche Färbung, einen specifischen Charakter verleiht.

Nun sehen Sie, geehrte Herren und Frauen, einem Lehrer einer Naturwissenschaft in Oesterreich wird es wohl erlaubt sein, die Frage ein wenig in Erwägung zu ziehen, ob das sogenannte deutsche Bewusstsein wirklich eine deutsche Naturforschung hervorgerufen habe, ob wirklich die deutsche Naturforschung vorzüglich das deutsche Bewusstsein gestählt habe und weiter stählen könne, ob es endlich überhaupt specielle Beziehungen von allgemeinem Werthe zwischen den Naturwissenschaften und einer besonderen Zunge gebe.

Ich meine weiter, ein Lehrer der Naturwissenschaft in Oesterreich habe nicht nur das Recht, er habe vielmehr die Pflicht, darüber nachzudenken, welche Beziehungen denn die Naturwissenschaft wirklich zu den kursirenden Begriffen von Nationalität (will sagen, zu den Begriffen von besonderen Eigenschaften, Berechtigungen, Charakterzügen der verschiedenen Nationalitäten) etwa haben.

Und, weil ich dies meine, habe ich es auch heute unternommen, über die Bedeutung der Naturwissenschaft für das Volk in Oesterreich einiges vorzubringen.

Der Inhalt der Naturwissenschaft, g. H. u. F., ist zweifellos ein solcher, dass er für Jedermann auf der ganzen bewohnten Erde eine und dieselbe Bedeutung hat; er ist auch für Jedermann von gleichem Werthe; er muss allüberall nach einer grundsätzlichen Methode betrieben werden, wenn er wahre Erfolge haben soll, sei die Sprache, in der dies geschieht, welche immer; er verleiht endlich allen Menschen ein und dasselbe Bewusstsein, in welcher Zunge er auch ausgesprochen wird; mit einem Worte: es gibt für alle Menschen und unter allen Menschen der jetzt bestehenden Erde nur Eine Naturwissenschaft.

[Sp. 150] Ich hebe zuerst noch einmal hervor: die Naturwissenschaft verleiht, und kann allen Menschen nur ein und dasselbe (erhabene) Bewusstsein verleihen.

Sie werden daher begreifen, dass ich keinen Geschmack am nachfolgenden Satze jener Rede des Hrn. Virchow finden, ja ihn nicht zugeben kann, der lautet: „Ich (Virchow) kann wohl behaupten, dass der Charakter der deutschen Wissenschaft viel angenommen hat von jenem wahrhaft sittlichen Ernste, mit dem sich unser Volk jeder Arbeit unterzieht, und der das eigentliche Wesen der religiösen Stimmung ist. Ich scheue mich nicht zu sagen, es ist die Wissenschaft für uns Religion geworden“ u. s. f.

Indem ich nun zu diesem Satze nur noch bemerken will, dass in ihm statt „Wissenschaft“ überall „Naturwissenschaft“ zu setzen ist, wie aus dem, jenem Satze folgenden Nachsatze in Herrn Virchow’s Rede unwiderleglich hervorgeht, will ich diesem Satze auf das Entschiedenste entgegenrufen: ich kann eine Behauptung nicht zugeben, die den Charakter der deutschen Naturforschung mit einer „religiösen Stimmung“ in Deutschland, und nur in ihm, in Zusammenhang gebracht wissen will.

Die religiöse Stimmung, g. H. u. F. ist das schöne und von den Staatsmännern sehr zu berücksichtigende Resultat einer ehrlichen Naturforschung, in welcher Sprache diese immer betrieben werden mag! Es giebt kein Volk, sei es nun deutsch oder nicht, welches nicht theilhaben kann an dieser religiösen Stimmung, und das nicht auch wirklich daran Theil hat, sobald es naturforscht.

Denn das wichtigste allgemeinste und letzte Resultat jeder Naturforschung, wenn sie anders auch mit Gemüth (einem der schönsten Vorzüge des menschlichen Gehirns) betrieben wird, ist eben die „religiöse Stimmung“.

Ist sie dies wirklich? ruft die Naturforschung wirklich eine „religiöse Stimmung“ hervor? höre ich nun sogleich von vielen Seiten mir fragend einwerfen. Viele von uns – so erzählen Sie weiter, vernahmen sehr oft, ja zweimal im Jahre, nicht selten zweimal an einem Tage, das Gegentheil; wir hörten behaupten: die auf ihre Fortschritte pochende Naturforschung, sei der grösste Feind der „religiösen Stimmung.“

Erlauben Sie mir daher, dass ich Ihnen meine Meinung über „religiöse Stimmung“ sage, so weit sie die Naturwissenschaften betrifft; wir kehren dann, nach diesem Exkurse, noch einmal zu den Nationalitäten zurück.

[Sp. 179] Unter „religiöser Stimmung,“ oder, setzen wir doch lieber gleich statt der Umschreibung das wahre Wort, unter „Religion“ kann, wie glaube, der Naturforscher, wenn er durch Nachdenken Erfahrung über diesen Gegenstand hat, nur Ein Gefühl verstehen, das Gefühl der Liebe, ich meine natürlich die Liebe in ihrem weitesten, edelsten, aufschwungvollsten Sinne genommen.

Das Gefühl der Liebe, geehrte Herren und Frauen, ist die wahrste (die erhebendste und zugleich die beglückendste) Religion, die ein Sterblicher besitzen, und zu seinem Leitfaden im Leben machen kann. Wer sich von den Principien der Liebe in allen seinen Handlungen leiten lässt, ist ein wahrhaft frommer Mensch, und nur dieser allein ist es. Alles andere sogenannte religiöse Thun ist hohle Formel, ist „Lippenwerk“, wie die Phrase richtig lautet; wirkt auch nicht beglückend, weder nach aussen, und noch weniger nach innen. Die Form ist hierbei gleichgiltig; nur der Geist der Liebe, der sich durch Thaten kundgibt, kennzeichnet das wahre Wesen einer echten Menschenreligion.

[Sp. 180] Dass die Liebe den so gewinnenden Grundgedanken des Christenthums ausmachte, war es auch ganz allein, was diesem zum Siege über alle anderen Religionen des Erdballs verholfen hat; (der unbefangene Geschichtsforscher, wenn er zugleich Psycholog ist, muss dies zugeben). Die im reinen Christenthume enthaltene Liebe hat die Bundeslade des ewig dräuenden Gottes der Israeliten in den Hintergrund gedrängt; sie hat die goldstrotzenden Tempel der ersonnenen Griechen- und Römergötter für alle Zeiten in den Staub gestürzt.

Und diese Liebe, diese Alles so beseligende, erhebende und durchwärmende Liebe, – wer kann ihr Prophet begeisterter sein, wer kann mit stolzerer, mit sicherer Stirne sie als das oberste Symbol der Schöpfung verkünden, wer sie in grossartigeren und zahlloseren Zügen des „geschaffenen Werkes“ nachweisen, als die Naturforschung, und deren Dolmetsch – der Naturforscher!

Diese Erkenntnis, diese Wissenschaft sollte nun den Gegensatz von dem aussagen, was die Menschen als „Glaubwürdiges“, als zu Glaubendes, als „Glauben“ für ihr Leben umfassen mögen?

Nein, meine geehrten Herren und Frauen, es scheint nur ein Missverständnis über die Forschungsweise und den Inhalt der Naturwissenschaft bei Jenen vorzuwalten, die da sagen: „der Glaube stehe höher als das Wissen,“ und die meinen, mit diesem Wahlspruche der Naturwissenschaft in berechtigter Art entgegenzutreten, sie auf ihr richtiges Mass zurückzuführen, wie [Sp. 181] sie es nennen, und in scheinbar verdienter Weise herabzuwürdigen. Und nur in Folge dieses Missverständnisses mag es wohl so gekommen sein, dass in den Augen vieler, oft ganz ehrlichen und wohlwollenden, Leute ein so schroffer Gegensatz zwischen Glauben und Wissenschaft, worunter hier eigentlich nur Naturwissenschaft gemeint sein kann, besteht.

Da ich aber nun die entschiedene Absicht habe, den angeführten Satz „der Glaube steht höher als das Wissen“ – in meinem Sinne offen zu beleuchten, erlauben Sie mir, bei ihm noch etwas zu verweilen. Es ist, wie ich wohl weiss, ein sehr heikles Thema, das ich berühre, allein ich bin der Meinung, es soll einmal auch von einem naturhistorischen Katheder aus mit Aufrichtigkeit berührt werden.

Also: „der Glaube stehe höher als das Wissen,“ wird behauptet. Und die Frage hierauf an den Naturforscher (– die anderen Wissenschaften, Historie, Philologie, Technik, selbst die reine Mathematik etc. kommen meines Erachtens als grösstentheils rein bürgerliche, konventionelle Wissenschaften, möchte ich sagen, hier gar nicht in Betracht –), also die Frage an den Naturforscher lautet dann von allen Seiten: ist dieser Satz vom Glauben, wenn statt Wissen Naturforschung gesetzt wird, wahr? ist er nicht wahr? oder ist er vielleicht in anderem Sinne wahr, als in dem er in der Regel hingestellt wird?

Nun sehen Sie, geehrte Herren und Frauen, es ist auch meine innerste Ueberzeugung: der Glaube stehe für uns armen Menschenkinder höher als das Wissen, und ich spreche diese Ueberzeugung mit vollem Bedacht aus, auf die Gefahr hin, welcher Gesinnung immer von verschiedenen Leuten beschuldigt zu werden. Ich spreche sie aus, obgleich ich ganz gut weiss, dass Viele von Ihnen sehr stutzen werden, einen solchen Satz von einem anatomischen Katheder herab zu hören.

Doch ich hoffe, einige Worte der Verständigung werden bald zwischen uns Licht schaffen, und Ihnen zeigen, in welchem Sinne ich diesen Satz meine.

Stellen wir vor Allem das Eine fest: der Glaube, den ich hier im Auge habe, ist durchaus nicht die Summe Alles dessen, was von verschiedenen Seiten als glaubwürdig, als zu Glaubendes hingestellt wird; ja, hat mit fast dem ganzen Inhalte dieses „zu Glaubenden“ gar nichts gemein.

Für mich ist Glaube: das Bewusstsein, die Empfindung möchte ich sagen, dass wir, oft ganz gegen unser Wollen, immer und immer wieder an eine letzte Ursache aller Dinge denken müssen, die, ihrem Entstehen so wie ihrem Wirken nach, für unser Gehirn gleich unerklärlich und unerforschlich ist, zu der wir aber trotz dieser Unerklärlichkeit immer und immer wieder, als zu unserem letzten Hort in aller Trübsal des Lebens, und als zu unserem besten Gedanken in der begeistertsten Stimmung der Allbewunderung zurückkehren.

Jeder menschliche Geist, er stehe so hoch wie er wolle, und sein Kenntnisskreis sei der grösstmöglichste, kommt über diesen Gedanken einer letzten Ursache nicht hinaus, und flüchtet zu ihm in jenen Stunden, wo alles Wissen, selbst das positivste, nur als ein winziges Stück Erwerbes unseres, durch die Sinne beschränkten Erdenlebens, nicht aber als ein trostreicher Halt für unser Gemüth erscheint.

Denn unser Gemüth, eine nicht wegzuläugnende Eigenschaft unserer, der menschlichen Organisation, und zwar eine seiner allerherrlichsten, eine, welche die Liebe des Schöpfers zu seinem Werke, dem Menschen, am glänzendsten verkündet, dieses Gemüth wird durch das Wissen allein gar nicht befriedigt; am allerwenigsten aber durch das Wissen über die letzte Ursache; weil wir eben hierüber Nichts wissen, und Nichts wissen können. Aber der Glaube an diese, d. h. die Empfindung dieser letzten, über alle Beschreibung erhabenen, weisen, vorsorglichen und liebestrotzenden Ursache ist ein Geschenk an unsere Organisation, dessen beseligendes Bewusstsein gewiss schon Viele von Ihnen, vielleicht die Frauen mehr als die Männer, in schweren Stunden ihrer Existenz empfunden haben.

Freilich muss auch diese Eigenschaft unserer Gehirn-Organisation, ganz so wie jene der musikalischen, der poetischen, der plastischen, der formsuchenden Begabung des Gehirns, durch entsprechende Erziehung, Gedankenrichtung und Lebensumstände geweckt, und ausgebildet werden. Ich kann es daher nicht als zutreffenden Einwurf gegen meine Anschauung: die Empfindung einer letzten Ursache sei eben so gut eine angeborne Eigenschaft des Menschengehirns als dessen musikalische Begabung, gelten lassen, wenn [Sp. 182] von manchen Seiten mit Ironie der Stumpfsinn der Wilden, und vieler ihnen in dieser Beziehung ähnlichen europäischen Menschen als Beweis gegen das Geburtsgeschenk des Gottesglaubens hingestellt wird.

Man muss zum Glauben, wie ich ihn meine, eben so durch Schule und Leben gebildet werden, man muss ihn ebenso nach und nach fassen lernen, wie jeden anderen Gedankenkreis; nur lernt er sich leichter, und bei weitem mehrere Menschen können ihn lernen, als Musik, Poesie u. s. w., weil die Gehirnfähigkeit für ihn eine bei weitem verbreitetere ist, als jene für Musik, Poesie u. s. w.

Indem ich also unter Glauben die Empfindung, das lebhafte Bewusstsein der letzten Ursache alles Seienden verstehe, indem ich den durch Nichts anderes zu ersetzenden Werth dieser Empfindung für gewisse Lebensphasen fühle, indem ich weiter aber auch erkenne, und wohl Sie Alle mit mir, dass unser Wissen über die Ursächlichkeit und Natur dieser Empfindung uns gar keinen Aufschluss gibt, gebe ich unwillkürlich – gleichsam gegen meine gewohnte, durch den Verstand diktirte Auffassungsweise, – zu, dass in vielen Lebensstunden der Glaube für uns arme Menschenkinder höher stehe als das Wissen, und – dies nur habe ich früher gesagt, und so genommen kann ich es wohl, ohne Verläugnung meines sonstigen Erkenntniss-Standpunktes, auch auf einem anatomischen Katheder aussprechen.

Hat aber dieses „menschliche“ Bekenntniss eines Naturforschers wohl irgend einen Zusammenhang mit dem Ausspruche Jener, die da lehren: „Glaube ist die Summe alles dessen, was wir Euch als glaubwürdig hinstellen,“ und die unbedingt nöthige Annahme dieser Summe durch die Menschen aus dem von Jenen sehr ausgedehnten Satz ableiten: Glauben stehe höher als Wissen.

Geehrte Herren und Frauen! Der völlig verschiedene Standpunkt des Naturforschers und der Jener, welche – Feinde der Naturforschung sind, ist in dieser Beziehung leicht zu kennzeichnen.

Für uns ist Glaube die angeborne Empfindung einer letzten Ursache, Nichts weiter. Für Jene ist Glaube eine (nach Zeit und Ort wechselnde) von ihnen hingestellte Summe des ihnen als „Glaubensnothwendiges“ Erscheinenden. Und hieran knüpfen sie auch gleich die Warnung: jene Menschen begehen Verrath an dem (ihrem) Glauben, die über die Ursächlichkeit des „Glaubensnothwendigen“ nachdenken. Diese Warnung ist aber charakteristisch; sie widerspricht ganz und gar der menschlichen Organisation.

Die Summe des von Menschen hingestellten „zu Glaubenden“ darf und muss der Mensch prüfen; er prüft sie auch, trotz aller Verbote und Strafen, weil er sich durch das ihm angeborne, und nun zum Glücke, immer mehr und mehr sich entwickelnde ursächliche Denken dazu genöthigt sieht. Denn, wem von uns wäre es wohl gegeben, wenn Jemand ihm etwas als Geschehenes erzählt, nicht sogleich zu fragen: ist dies auch wahr? ist dies auch möglich?

Man reisse heraus aus unserem Gehirne die Ursachs-Organisation; man rüttle durcheinander jene Anordnung der Gehirnelemente, welche uns zwingt, den Ausgangspunkten der Erscheinungen so weit nachzugehen, so weit nur unsere Sinne hiefür ausreichen; man nehme von uns das unsere Nerven zwingende Gefühl, welches uns bei jedem Begegniss die Fragezeichen in die Gehirnkammern schiebt! So lange Ihr dies nicht vermögt, gebt Ihr Euch umsonst Mühe, den Geist der Zeit, das „ursächliche Denken“ zu unterdrücken.

Und weil dieses ursächliche Denken durch die Naturforschung ganz besonders angeregt und erzogen wird, ist sie auch ein Dorn im Auge Jener, welche die Ursachsforschung zu scheuen haben.

Mit dieser Erklärung beende ich aber meine heutige Auslassung über Alles das, was ich als „nicht weltliche“ Reden zusammenfasse; in Weiteres werde ich heute nicht eingehen, und ich bedaure noch einmal alle Jene, welche unter dieser Ueberschrift vielleicht etwas Anderes erwartet haben, als ich ihnen bot. Ich sagte so viel, als ich darf. Freilich wird Mancher von Ihnen meinen: ein Mann spricht mehr als er darf; er spricht wie er denkt, oder er schweigt. Geehrte Herren und Frauen! Ich habe gesprochen, wie ich denke. Ich darf ganz gut sprechen, was ich denke; nur denke ich nicht Alles, was ich noch sprechen dürfte; – dies macht den Unterschied meines Standpunktes von dem – Anderer aus.

[Sp. 183] Und nun; – nach diesem Exkurse über „religiöse Stimmung“ – kehre ich noch einmal, wie oben zugesagt, dazu zurück, die Beziehungen der Naturwissenschaft zum Volk in Oesterreich etwas näher zu betrachten.

Diese Betrachtung hat, wie mir scheint, zunächst und am dringendsten für unsere heimischen Bedürfnisse auf die Frage einzugehen, in wie weit durch die Naturforschung das Verhältniss verschiedener Nationen zu einander festgestellt, und welches moralische Licht, möchte ich weiter sagen, durch diese Forschung auf jenes Verhältniss geworfen wird.

Vor dem unbefangenen Naturforscher, geehrte Herren und Frauen, schwindet, meines Erachtens, der Begriff der Nationen als der von etwas wirklich und wesentlich Verschiedenem unter den Menschen völlig. Der Naturhistoriker, der einen offenen Blick für das Ganze hat, vermag die verschiedenen Nationalitäten in ihrem systematischen, d. i. naturhistorischen Werthe nicht einmal so hoch zu stellen als verschiedene Käferarten, da diese sich untereinander nicht zu vermehren im Stande sind, jene, die verschiedenen Menschen-Nationen, aber ganz wohl. Auf dem Tische des Anatomen sind die Nationalitäten keine differenteren Wesen als die Spielarten etwa eines Maikäfers mit je 2–4 Fühlergliedern mehr oder weniger.

Ich hielte es, nebenbei gesagt, für höchst wünschenswerth, wenn der jeweilige Staatsminister von Oesterreich dieser naturhistorischen Anschauung beitreten würde, und ich möchte fast, nach dem was ich aus den verschiedenen Zeitungsnachrichten herauslese, glauben, der dermalige Staatsminister habe, trotz des entgegengesetzten Scheines, eine vollkommen unbefangene, und naturhistorisch tendenzirte Auffassung von dem wahren Werthe, der wahren Bedeutung des Begriffes: Nationalität.

Der wahre Staatsmann kann ja auch gar keiner anderen Anschauung als der eben berührten sein. Er muss es wissen, dass so wie gewisse Grundgesetze des Thier-Organismus als oberste Norm aller Thiere gelten, – es mögen diese Thiere majestätisch auf hohen Füssen daherschreiten, oder mühsam mit ihren Leibesmassen im Staube kreuchen; sie mögen einen einfachen Magensack besitzen, oder Verdauungsorgane, welche die französische Küche in Thätigkeit versetzen, – so sage ich, muss der wahre Staatsmann klar erkannt haben, dass es auch nur Eine Art von Grundgesetzen für die verschiedensten Menschen-Stämme eines Staates geben könne und soll und darf. Alle moralischen, alle sozialen, und alle politischen Verhältnisse sämmtlicher Menschen-Stämme (Nationen) können und sollen, nach vernünftiger Ueberlegung, nur durch eine und dieselben grundsätzlichen Einrichtungen regulirt werden; dies liegt, wie mir scheint, unwiderleglich im naturhistorischen Begriffe der menschlichen Organisation, vor dem die, von sogenannten Kulturhistorikern hervorgehobenen kleinlichen physischen Merkmale der „Nationen“ (2–4 Fühlerglieder der Maikäfer) zu Nichts zusammen schrumpfen.

Weil nun eine solche ausgleichende, eine solche verständigende Anschauung nur durch die Kenntniss der Naturwissenschaften allein erweckt wird, habe ich deren Bedeutung für das Volk in Oesterreich ganz besonders betont, und – eine solche Anschauung thut bei uns wirklich noch Noth.

Denn kaum würde Jemand mehr für freisinnig und wohldenkend gehalten, der sogenannte Religions-Vorurtheile hat. Die unter dem Begriffe der „Form-Religionen“ zusammengefassten Nebensätze der, Einen Gott bekennenden Religionen, als einen erheblichen Grund zum Unterschiede zwischen den Menschen anzusehen, ist nach und nach aus der Mode gekommen.

Nationale Vorurtheile hingegen vergönnen sich noch die meisten Menschen, selbst die gebildetsten. Von den Spässen an, die Sie in den Berliner Theatern über den Oesterreicher, will sagen Wiener, hören, von den Verdrehungen des deutschen Idioms, welche den böhmischen Mägden in unseren Vorstadttheatern in den Mund gelegt werden, – bis zu dem Vorurtheile, dass A oder B eine oder die andere Stelle nicht erhält, weil er dieser oder jener Nation angehört, – in dieser ganzen Breite machen nationale Vorurtheile bei uns und auch in andern Staaten sich noch sehr geltend. Und doch sind diese Vorurtheile, naturhistorisch betrachtet, noch viel erbärmlichere, auf noch kleinlicherer, unwürdigerer Anschauung beruhende, als Religions-Vorurtheile, die unter Umständen einen tieferen moralischen Grund haben können.

Ich wünschte nun sehnlichst, dass die an dieser Stätte hier von Ihnen aufzunehmenden Gedanken, die hier zu gewinnenden [Sp. 184] Anschauungen von den obersten Gesetzen der Thierwelt, die hieraus mit Leichtigkeit abzuleitende Ueberzeugung: der oberste Zweck der ganzen organischen Schöpfung sei die Verkörperung der Liebe, – ich wünsche, sage ich, sehnlichst, dass Sie durch dies Alles jene und alle Vorurtheile kräftig verbannen lernen.

Mögen Sie, g. H. u. F., weiter durch die anatomischen Betrachtungen, die wir in den folgenden Stunden mit einander, und zwar heuer über die Verdauungswerkzeuge, vornehmen wollen, noch überzeugender einsehen lernen, dass durch die Erkenntniss der Thier-Organisation, im weitesten Sinne des Wortes, der Weg zu den erhabensten Ideen, die ein Mensch denken kann, nicht nur angebahnt, sondern auch wesentlich vorgezeichnet wird.

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. In eckigen Klammern steht die Zahl der jeweiligen Spalte des Originaltextes. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.)

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