Über Wissenschaft und Bildung (Auszug)

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Author/Authoress:

Stifter, Adalbert

Title: Über Wissenschaft und Bildung (Auszug)
Year: 1849
Source:

Stifter, Adalbert: „Die Kunstschule“. In: Der Wiener Bote, 23. August 1849, H. 161.

Die wissenschaftliche Schule hat die allgemein menschliche in Europa überholt und überflügelt, daß die Bildung nur in einer Klasse von Menschen einen hohen Schwung genommen hat, während die übrigen verhältnismäßig zu weit zurückgeblieben sind. Dadurch sind zwei Klassen entstanden, die Wissenden und Nichtwissenden, zwei Klassen, die einander immer entgegengesetzt sind, die sich nicht verstehen, die andere Neigungen, andere Lebensweisen und andere Bedürfnisse haben, die sich mißtrauen, das gegenseitige Leben voneinander verachten und, sobald die Oberfläche des guten Vernehmens getrübt ist, in Kampf geraten, weil der Nichtwissende meint, er könne das Leben der Wissenden auch begehren und führen, da er den Mangel seiner Kraft und Kenntnis nicht kennt, und wie der Wissende den Nichtwissenden unterschätzt und meint, er begehre zuviel. Je mehr eine gleiche Bildung nach den natürlichsten Abstufungen die ganze Bevölkerung durchdringt, desto fester wird Liebe, Eintracht, Vertrauen, Einsicht und auch Macht und Dauer des Staates bestehen. Man muß die Wissenschaften hegen und pflegen, weil sie Kleinode der Menschen sind und sie auf den menschlichen Standpunkt heben, aber man muß auch die Kenntnisse und die Bildung der ungelehrten Stände nach größter Möglichkeit fördern, weil sie ebenfalls Kleinode sind, die den, der das Höchste nicht haben kann, schmücken und ihm nützen. Für unsere gegenwärtige Zeit, meine ich, bleibt die Landschule und die Bürgerschule das Wichtigste, und ich möchte zu unseren Zeitgenossen und Machthabern sagen: "Sucht nicht mit aller Kraft die hohe Wissenschaft nach ihrem höchsten Fluge zu leiten, sondern sucht sie zu erhalten, daß sie nicht sinke, und wendet für die Zeit eure Augen und eure Kraft dem Bildungsbedürfnis des unteren Volkes zu, daß diese Bildung sich hebe, den Forderungen der Zeit entspreche und in ein Verhältnis mit der Wissenschaft komme; dann ist es Zeit, beide in ihrem natürlichen Verhältnis den weiteren und höheren Gang gehen zu lassen".

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original.)

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