Was ist Bildung?

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Author/Authoress:

Wech, Leopold

Title: Was ist Bildung?
Year: 1953
Source:

Volkshochschule Wien-Nord – Floridsdorf-Donaustadt. Mitteilungen, 2. Jg., Nr. 3 (März 1953), S. 1-2.

[S. 1] Häufig suchen wir die Bildung eines Mitmenschen zu beurteilen. Selten aber prüfen wir uns hierin selbst. Es wird kaum ein Gebiet geben, auf dem wir empfindlicher sind als auf diesem. Nichts schmeichelt unserer Eitelkeit mehr als das Lob, „gebildet“ zu sein. Und trotzdem ist es notwendig, hier besonders bescheiden und zurückhaltend zu sein. Man kann mit einem vorschnellen Urteil, ob jemand gebildet oder gar ungebildet sei, leicht genug daneben treffen. Untersuchen wir einmal mitsammen, was den Begriff „Bildung“ eigentlich ausmacht.

Zunächst verlangen wir von einem Gebildeten, daß er sich in den Zweigen des allgemeinen Wissens auskennt. Man müßte die wichtigsten Grundzüge der Erdkunde ebenso kennen wie die der Technik, die Grundregeln der Muttersprache beherrschen, einen Überblick über die Mathematik aber auch über die Biologie gewonnen haben, das Grundsätzlichste geschichtlicher Entwicklungen verstehen. Allgemeinbildung besitzt man also dann, wenn man sich in allen Situationen zurechtfindet, oder anders ausgedrückt, wenn man zu erfassen imstande ist, worauf es jeweils ankommt. Meist wird die Frage, ob jemand gebildet ist, nur nach der Richtung der Allgemeinbildung beantwortet. Aber wir erkennen leicht, daß diese noch lange nicht ausreicht, um im Leben unseres Jahrhunderts bestehen zu können. Jeder von uns hat zu seiner Mit- und Umwelt mannigfache Bezüge. Der wichtigste ist wohl der Beruf. So kommen wir wie von selbst zu einer weiteren Forderung hinsichtlich der Bildung. Wir müssen uns nicht nur im allgemeinen Wissen einigermaßen auskennen, der Lebenskampf verlangt von jedem von uns ein fachliches Wissen mit dem wir unseren Beruf bestmöglich ausfüllen können. Wie hat sich doch das Fachwissen jedes Berufszweiges in den letzten Jahrzehnten spezialisiert und vertieft! Kein Techniker der Jetztzeit kann noch die Technik, kein Arzt die Medizin, ja kaum noch Teile davon zur Gänze beherrschen. Allüberall hat sich ein Spezialistentum entwickelt und es ist kaum mehr abzusehen, wie sich das zersplitterte Wissen der Gegenwart jemals wieder überschauen lassen wird. So erwartet man von einem Gebildeten, daß er in seinem Fach genügend viel weiß, aber auch zu benachbarten Fächern Wissensbrücken zu schlagen versteht.

Allgemeinbildung und Fachwissen machen freilich die Bildung auch noch nicht aus. Heutzutage muß man sich auch eine Weltanschauung zu eigen gemacht haben, wenn man nicht als ungebildet gelten will. Allerdings herrschen darüber immer noch verschiedenste und oft genug falsche Ansichten. Von einzelnen Menschen und von Menschengruppen gingen und gehen immer noch Ansichten, ja Überzeugungen aus, die sich mit dem Sinn des Lebens, mit dem Sinn des Daseins der Welt überhaupt beschäftigen und ein Bild vom Diesseits und Jenseits entwerfen. Solche Weltanschauungen, das spüren wir schon, sind nicht nur Wissen, sondern zwingen zu Stellungnahmen, zwingen zum Handeln. Wenngleich man Weltanschauung auch mit der Allgemeinbildung und [S. 2] vielleicht auch mit dem Fachwissen in Beziehung bringen kann, sie steht doch über ihnen, beeinflußt und gestaltet diese. Wissende Menschen beobachten, stellen fest und beurteilen, weltanschaulich Eingestellte werten und das erst erhebt den Menschen über den „Wissensträger“ zum Gestalter und Former des Lebens. Wir sollten uns mit dieser Frage ein anderes Mal noch eingehender befassen. Stellen wir uns nun einen Menschen vor, der Allgemeinbildung und Fachwissen besitzt, außerdem weltanschaulich orientiert ist. Man kann mit ihm über jedes Thema plaudern, ohne ihn in Verlegenheit zu bringen und in seinem Beruf gilt er als einer der Tüchtigsten. Als ich mit ihm über die gegenwärtigen Spannungen und über den Krieg im allgemeinen sprach, da wußte er mir viele geschichtliche Ereignisse zu nennen und Jahreszahlen aufzusagen und dann meinte er: „Es sind eben zu viele Menschen auf dieser Welt. Kriege und Katastrophen dienen dazu, um die Menschen auszurotten.“ Ich wagte einen Einwurf: „Aber das Elend, das bittere Leid, das Kriege verschulden ...“ Er aber schnitt mir die Rede ab: „Solange es mich nicht selbst betrifft, rührt es mich nicht!“ Geben Sie mir recht, wenn ich diesen sonderbaren Zeitgenossen trotz seines Wissens, trotz seines beruflichen Könnens als einen ungebildeten Menschen bezeichne? Denn offenbar gehört zur Verstandesbildung unbedingt die rechte Herzensbildung. Sie verdankt man den Eltern, den Erziehern und der gesamten Umwelt. Und schließlich ist sie das Ergebnis einer strengen Selbsterziehung, die wir besonders in diesem Zusammenhang nicht unterschätzen dürfen. Mit ihr krönen wir das Bildungswerk, das von unseren Eltern und Erziehern begonnen wurde, durch die Arbeit an uns selbst werden wir zu vollwertigen Menschen, schreiten wir auf dem Weg zur Persönlichkeit.

Nun erst rundet sich das Bild. Müssen wir nicht doch manch gefaßtes Urteil zurücknehmen und revidieren? Haben wir wirklich Grund zur Eitelkeit? Unser Jahrhundert macht es uns zweifellos nicht leicht, als gebildete Menschen zu gelten. Eindringen in die Allgemeinbildung, Beherrschen des Fachwissens, Orientierung im Weltanschaulichen und taktvolle mitmenschliche Beziehungen zu pflegen, ist heutzutage nicht immer leicht. Umso glücklicher dürfen wir sein, daß Bildung heute nicht mehr das Vorrecht besonders Begüterter ist, umso wachsamer müssen wir bleiben, daß die menschliche Gesellschaft nicht mehr jene hartherzigen Schranken errichtet, die noch vor wenigen Jahrzehnten bestanden haben. Es gibt genug Einrichtungen (Schulen, Büchereien, Kurse usw.), die wir zur Arbeit an unserer Bildung benützen dürfen. Das Volksbildungswesen hat einen beachtlichen Anteil daran. Aber es erwächst uns aus diesem erkämpften Recht auch eine unmißverständliche Pflicht: Wir müssen sie nützen, wann, wie und wo immer es geht! Wenn ich zum Schlusse nochmals die Frage: Was ist Bildung? stelle, so hat sie nunmehr ein anderes Gewicht.


(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Hervorhebungen im Original in Kursive werden gleichfalls in Kursive wiedergegeben. Ausdrücke in runden Klammern stehen auch im Original in runden Klammern. In eckigen Klammern steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes.)

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