Warum Fremdsprachen in der Volkshochschule?

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Author/Authoress:

Schindler, Hans

Title: Warum Fremdsprachen in der Volkshochschule?
Year: 1947
Source:

Mitteilungen des Volksbildungshauses Margareten, 1947, Nr. 7, S. 1-2.

[S. 1] Die Tradition an den Wiener Volkshochschulen Fremdsprachen zu unterrichten, datiert von den Tagen, nun schon mehr als 40 Jahre her, an denen die ersten Volkshochschulkurse abgehalten wurden. Zum Unterschiede von den öffentlichen Schulen stand in den Volkshochschulen von allem Anfang an das Englische an bei weitem erster Stelle, dann folgte Französisch und Italienisch. Nach dem Krieg 1914-1918 kamen noch andere Weltsprachen dazu, wie etwa Russisch und Spanisch, und erst in neuester Zeit auch Kleinsprachen.

Der Grund, warum das Englische den Vorsprung errang, war teilweise, daß die liberal-denkenden, fortschrittlich-gesinnten Gründer der Volkshochschulen in jenen politisch dunklen Tagen auf diese Weise den Blick der Hörer bewußt auf die beiden großen angelsächsischen Demokratien richten wollten, teilweise aber auch, weil sich eine hervorragende Engländerin, Miß Levetus, unter ihnen befand, die nicht nur ihre Muttersprache meisterhaft unterrichtete, sondern auch die politischen, volkswirtschaftlichen und philosophischen Ideen und Ideale eines John Ruskin, eines William Morris, eines John Stuart Mill – um nur einige zu nennen – den Hörern näherbrachte. Von dieser Frau stammten die bedeutenderen Wiener Englischdozenten der nächsten zwei Generationen in direkter geistiger Linie ab.

Der Englischunterricht hatte also von allem Anfang an viel tiefere Hintergründe als das bloße Parlieren oder Korrespondieren. Er hat demnach im Lehrplan der Wiener Volkshochschulen hohen Rang und altes Recht. Richtig betrieben hat das Erlernen und das Beherrschen einer fremden Sprache, besonders einer der anerkannten Weltsprachen, auch bedeutenden formal und allgemein bildenden Wert. Schon Goethe bemerkt: „Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.“ Hand aufs Herz: unsere Muttersprache ist den Durchschnittsmenschen unter uns grammatisch, phonetisch und etymologisch weitgehend unbekannt. Nur wenige beherrschen sie souverän. Den Volkshochschülern aus der Arbeiterklasse könnte also das Studium des Englischen, Französischen oder Spanischen dem Studium des Lateinischen oder Griechischen der adeligen und bourgeoisen Klassen der vergangenen Welt voll und ganz entsprechen.

Für echte und ehrliche Österreicher ist die Kenntnis von Fremdsprachen noch von einem anderen Gesichtspunkte aus von ganz besonderer Wichtigkeit. Wir sind gezwungen, unsere Muttersprache mit einem uns politisch und historisch völlig fremden, ja offen feindlichen Volke zu teilen. Das bringt uns, wie wir zu unserem Leidwesen schon mehrmals empfindlich fühlen mußten, bei sinkender Wachsamkeit stets in die Gefahr, unter die Botmäßigkeit jenes anders-ambitionierten Volkes zu kommen. Können wir aber den freien Blick in die Welt der älteren, westlichen, Demokratien hinauswenden, nehmen wir ihre bewährte Denk- und Anschauungsweise durch Eindringen in ihre Literatur des Tages und der Zeiten in uns auf, dann kann diese Gefahr bedeutend verringert werden. Dadurch, daß wir eine fremde Sprache lernen, kommen wir auch dem Volke, das diese Sprache spricht, näher, was auch wieder zur Völkerverständigung und zum Völkerfrieden beiträgt.

In der heutigen Zeit hat das Fremdsprachenlernen an den Volkshochschulen vielleicht noch eine weitere wichtige Seite, die nicht zu unterschätzen ist. Die fürchterlichen Erlebnisse und das geistige Vakuum der Faschistenjahre von 1934 bis 1945 haben es vielen Menschen ganz unmöglich gemacht, klar, folgerichtig, geordnet, und in längeren Ketten zu denken. Man weicht dem selbständigen und konsequenten Denken und Urteilen gerne aus und betrachtet wegen böser Erfahrungen [S. 2] mit reaktionären Wissenschaftlern unwillkürlich auch international gesicherte Erkenntnisse der Wissenschaft mit Mißtrauen. Jedem der zur alten Volkshochschultradition des Studiums aus reiner Liebe zum Wissen (fast der einzigen Tradition dieser Art, die es in Österreich und vielen Teilen Europas überhaupt gab) zurückfinden will, aber noch geistig und seelisch zu zerrüttet und verworren ist, um wissenschaftlichen Kursen zu folgen, und dem jede persönliche Autorität verdächtig vorkommt, dem mag da die straffe unpersönliche Disziplin, die das Erlernen einer Fremdsprache erfordert, viel helfen. Die fördernden Freudegefühle des deutlich merkbaren Fortschrittes sind dabei von ähnlichem Wert und wecken und steigern das Vertrauen und das Selbstvertrauen.

 

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Ausdrücke in runden Klammern stehen auch im Original in runden Klammern. In eckigen Klammern steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes.)

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