Volkstümliche Universitätsbewegung

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Author/Authoress:

Reich, Emil

Title: Volkstümliche Universitätsbewegung
Year: 1897
Source:

Ethisch-socialwissenschaftliche Vortragskurse, veranstaltet von den ethischen Gesellschaften in Deutschland, Oesterreich und der Schweiz, herausgegeben von der Schweizerischen Gesellschaft für ethische Kultur (= Züricher Reden, Bd. V.), Bern 1897.

[S. 3] In Geschichte und Sage weitberühmt, von Künstlern und Poeten viel verherrlicht, ist das alte deutsche Kaisergeschlecht der Hohenstaufen. Nicht bloß auf Friedrich Barbarossa, weit mehr noch auf seinen Enkel Friedrich II., nach dessen Tode die kaiserlose, die schreckliche Zeit hereinbrach, bezieht sich die Mär vom gewaltigen Herrscher, der im Kyffhäuser lebt, um einst, wenn seine Zeit gekommen, ans Licht hervorzutreten. Wie verschieden auch die Urteile der Historiker über Kaiser Friedrich lauten, darin stimmen sie überein, seine ungewöhnliche Begabung zu rühmen. Ein geborener Fürst, war Friedrich II. seinen Zeitgenossen unendlich überlegen an freier Bildung und weitschauendem Blick. Mag auch sein Charakterbild manchen garstigen Flecken aufweisen, mag auch von ihm gelten, daß der Geist willig, aber das Fleisch schwach sei, trotz alledem hatte er einen so tiefen Eindruck auf das Volk gemacht, daß es nicht glauben wollte, er sei dahingeschieden, als er auf Schloß Fiorentino die müden Augen zugethan. Gerade in der ethischen Gesellschaft geziemt es wohl daran zu erinnern, wie er bereits 1231 in den Konstitutionen von Melfi völlige Duldung für jede der drei großen monotheistischen Religionen verkündete. Stets bemüht die Wissenschaft zu fördern, war Friedrich der Gründer der Universität Neapel (1224), der ersten, deren Einrichtung zum Teil durch die Staatsgewalt erfolgte. Den Aristoteles, der nur in schlechten verstümmelten Uebertragungen bekannt war, [S. 4] ließ er nach den besten arabischen Texten übersetzen. Von edelster Gesinnung zeugt der Brief Friedrichs an die hohe Schule zu Bologna, eine Stadt, die ihm oft feindselig entgegen trat. Gleichwohl schenkte er dieser vornehmsten Bildungsstätte jener Tage in einer Zeit, wo Bücher ein seltenes kostbares Gut waren, die für ihn angefertigten Ausgaben der klassischen Autoren und begleitete die Gabe mit folgenden Bemerkungen:

„Keinen ersparten Augenblick ließen wir in Müssiggang verfließen, sondern verwandten ihn mit freudigem Ernste zum Lesen trefflicher Werke, damit die Seele sich aufhelle und kräftige durch Erwerbung der Wissenschaft, ohne welche das Leben der Menschen der Regel und der Freiheit entbehrt. Darum haben wir jene trefflichen Werke zunächst für uns übersetzen lassen: weil aber das edle Besitztum der Wissenschaften durch Verbreitung oder Verteilung sich nicht mindert oder zu Grunde geht, sondern desto dauerhafter und fruchtbarer heranwächst, je mehr man sie mitteilt und verbreitet, so wollen wir diese gewonnenen Früchte weiser Anstrengung nicht verbergen, noch den eigenen Besitz für erfreulich halten, ehe wir ein so großes Gut anderen mitgeteilt haben.“

Goldene Worte wahrlich, die nie hätten in Vergessenheit geraten dürfen! Gesprochen mehr als ein Säkulum bevor die beiden ältesten deutschen Universitäten Prag und Wien begründet wurden. Wohl waren Gelehrte durch all die Jahrhunderte eifrig bemüht, das Wissen zu pflegen und zu vertiefen, allein es blieb eine Art esoterischer Geheimlehre nur für Eingeweihte. Darum hat es seinen guten Sinn, wenn dem Volke der ernste Forscher nicht als der redliche Arbeiter im Dienste der Wahrheit erschien, wenn es ihn vielmehr wie jenen Albertus Magnus von Köln schon zu Friedrichs [S. 5] Zeiten, als dunkler Künste kundigen Wundermann mit stillem Grausen betrachtete, eine Anschauung, die noch in den Zwischenspielen des Miguel Cervantes di Saavedra hervortritt, wo es der Bauer für selbstverständlich findet, ein Schüler der Universität zu Salamanca müsse zaubern können. Je mangelhafter die Volksbildung, desto schroffer verschlossen sich die Hochschulen in vornehm thuender Absperrung dem niedern Pöbel. Sind es doch nicht viel über 200 Jahre, daß Thomasius es zuerst wagte, statt in schlechtem Latein in gutem Deutsch vorzutragen, ein Frevel, den er bald bitter gebüßt hätte, wäre es nach jenen Anhängern des altehrwürdigen Herkommens gegangen, denen jeder Schritt aus dem gewohnten Geleise als Greuel gilt. Das hat ja nur allzu reichlich auch der Mann erfahren, dem wir vor kurzem eine Gedenkfeier weihten, der intellektuelle Schöpfer der modernen Volksschule, dessen wahre, dauernde Bedeutung in seiner unendlichen, ausharrenden Liebe für die Mühseligen und Verlassenen liegt: Pestalozzi.

Seit 120 Jahren, seit der Unabhängigkeitserklärung Amerikas, verbreiteten freiheitliche Bestrebungen sich allmählich über die civilisierte Welt, allein sie sind noch weit davon entfernt, überall gesiegt zu haben. Die erste Bedingung wahrer Freiheit ist die Fähigkeit, sich ein selbständiges Urteil über Dinge und Menschen zu bilden. Sicherlich erreicht dies mancher in reiferen Jahren durch bittere Erfahrungen gewitzigt, jedoch wie viele bringen es nie dazu und bleiben ihr Leben lang im Banne des Aberglaubens. Zum Aberglauben wird aber jedes blindlings aufgegriffene und nachgesprochene politische, religiöse und sociale Schlagwort für alle jene, die nicht fähig sind, seinen Wahrheitsgehalt mit ruhiger Ueberlegung zu prüfen, und nichts hat mehr Unheil auf Erden [S. 6] angestiftet als der Aberglaube. Bildung und Erziehung sind nötig, soll der Mensch den offenen, freien Blick erhalten, der ihn erst befähigt, ein bewußtes, nützliches Glied der Gemeinschaft zu werden.

Durch ihr Wissen hat sich die Menschheit zur Herrin der wilden, grimmigen Naturkräfte aufgeschwungen, die ihr nun unwillig dienen müssen. Denn nicht als gütige Mutter, vielmehr als erbarmungslose Feindin zeigt sich uns die Natur im Anbeginn menschlicher Geschichte. Aber nur wer an diesem erworbenen Wissen Anteil hat, kann auch an jener Herrschaft wahrhaft beteiligt erscheinen. Schmählich ist es darum, wenn die herrschenden Schichten einer Gesellschaft den vom Schicksal minder begünstigten Klassen die Möglichkeit, Wissen zu erlangen verschließen oder doch erschweren, gerade weil sie zur Erkenntnis kamen, daß Wissen Macht ist, doppelt schmählich, wenn dann noch die Unbildung der Massen als Grund dienen soll, ihnen den gebührenden Anteil an den Gütern des Lebens zu versagen. Wie lange hat es gebraucht, bis die Staatenlenker einsehen lernten, die künstliche Volksverdummung sei für ihre Zwecke kein geeignetes Mittel; der intelligentere Rekrut werde der bessere Soldat im Heer, wie am Pflug und in der Werkstatt.

Die Blüte der Industrie, der Landwirtschaft und des Handels ist nur dort zu erzielen, wo gute Schulen die heranwachsende Jugend entsprechend erzogen haben: darin können auch jene übereinstimmen, die in der Frage, ob diese Heranbildung Sache des Staates oder der Kirche sei, weit auseinandergehen. Erinnern wir uns jedoch, wie noch vor einem halben Jahrhundert englische Schulinspektoren auf die Frage, wer Christus gewesen, die Antwort erhielten, das wisse der gefragte Knabe nicht, allein er habe den Namen schon gehört, [S. 7] worauf ein anderer bestimmter erklärte: „Er war ein König von London vor langer, langer Zeit,“ dann können wir – ex ungue leonem – den Stand der Schulbildung in einem Staate beurteilen, der sich seit dem 13. Jahrhundert freier als das übrige Europa entwickelt hatte.

Wir wundern uns danach nicht mehr zu hören, wie im November 1845 von zahlreichen hervorragenden Männern eine zunächst erfolglose Petition ausgieng, man möge doch das Universitätsstudium so einrichten, daß es nicht mehr wie bisher bloß sehr wohlhabenden Leuten zugänglich sei. Die Nebeneinanderstellung dieser beiden Thatsachen aus dem klassischen Lande des Manchestertums zeigt deutlich, wohin der abstrakte Freiheitsbegriff führt, wenn er, um ja nur jede individuelle Freiheit zu wahren, das Eingreifen der organisierten Gesamtheit ängstlich scheute. Auf diese Weise wird die Bildung ein Privileg der Besitzenden, unter Umständen freilich „ein Vorrecht, das man etwa sparsam übt“ (Grillparzer).

In Deutschland ist es nie so schlecht bestellt gewesen, England jedoch erhielt erst 1870 ein Gesetz, welches die allgemeine Schulpflicht im modernen Sinne proklamierte, weil man sich überzeugt hatte, daß es sonst industriell hinter jenen Staaten zurückbleiben müßte, die mehr Gewicht auf die Entwicklung der Intelligenz ihrer Einwohner legten. Darum beschleunigte man dort mit rühmlichem Eifer das Tempo auch in solchem Maße, daß die Ziffer des Staatszuschusses für Elementarschulen binnen 30 Jahren (1864-1894) von 4½ Millionen Franken auf mehr als 160 Millionen stieg, wie ähnliche Erscheinungen ja auch in Frankreich zu beobachten sind. Ebenso hat sich in England die in Deutschland noch bitter vermißte Erkenntnis, der billige Arbeiter sei in [S. 8] Wirklichkeit der teuere Arbeiter, Bahn gebrochen. Man begreift, daß überlange Arbeitszeit bei schlechter Ernährung, wie niedrige Löhne sie bedingen, das zuverlässigste Mittel ist, die Leistungen herabzusetzen, während der wohlausgeruhte, gut genährte Arbeitsmann auch Wertvolleres in kürzerer Frist hervorzubringen vermag. Tritt noch die geschärfte Energie und erhöhte geistige Thätigkeit hinzu, welche die Erfolge einer gehörigen Schulbildung sind, dann braucht dem Staat, der solche Kräfte zur Verfügung hat, um seine Zukunft im Wettbewerb der Nationen nicht bange zu werden. So gestaltet sich Wissen in jeder Hinsicht zur Macht. Die erworbene Bildung drängt bald unwiderstehlich zu größerer Freiheit; sie gleicht die Unterschiede der Stände auf einem so wichtigen Gebiet mehr oder weniger aus, daß eine entsprechende Ausgleichung der äußeren Lebensbedingungen nur noch eine Frage der Zeit sein kann, wenn die inneren Lebensbedingungen, die geistige Entwicklung, annähernd übereinstimmende geworden sind.

Allein wir wollen uns nicht dazu verleiten lassen, auf den stürmisch bewegten Ocean der socialen Frage, der Frage nach der relativ besten Organisation der menschlichen Gesellschaft hinauszusegeln. Wir müssen auch darauf verzichten, die Erziehungsfrage als solche hier aufzurollen und uns auf jenes engere, für heute gewählte Feld beschränken: zu untersuchen, was die Universitäten für die Bildung des Volkes bisher in verschiedenen Ländern geleistet haben und was sie in nächster Zukunft leisten könnten. Nicht diejenigen wissenschaftlichen Bemühungen kommen für uns in Betracht, in denen die Hochschulen durch ein halbes Jahrtausend ihre einzige Aufgabe erblickten, sondern die neuesten Versuche, den Kreis ihres Einflusses so beträchtlich zu erweitern, daß sie in [S. 9] Wahrheit universitates seien, die Gesamtheit aller höheren Bildungsbestrebungen in irgend einer geeigneten Weise umschlössen, das gemeinsame Band für alle jene abgäben, die, gleichviel welchem Stand und Beruf im Leben sie angehörten, von dem redlichen Eifer erfüllt wären, Fühlung zu behalten mit den Ergebnissen der Wissenschaft. Immer bereit sein zu lernen und sich von gründlicher Unterrichteten belehren zu lassen, nie zufrieden mit dem erreichten Ausmaß an Wissen stets nach weiterer Erforschung begierig bleiben: das sind Eigenschaften, die unter glücklichen Umständen den großen Gelehrten hervorbringen, die aber nicht minder achtungswert, ja besonderer Unterstützung würdig bei jenen scheinen, die neben dem Erwerb des täglichen Brotes nur ihre Mußestunden der Erweiterung ihrer Kenntnisse widmen können.

Es ist sehr natürlich, daß Anstrengungen zur Erzielung einer vertieften Bildung von solchen Wissensdurstigen zuerst ausgehen, die eine gediegenere Grundlage weiterer Errungenschaften schon in ihrer Jugend erhielten, und deren tägliches Leben sie mit geistigen Fragen in stärkeren Kontakt setzt, ohne daß sie die Möglichkeit einer regulären Hochschulbildung hätten: Elementarlehrer und die Frauen des gebildeten Mittelstandes repräsentieren diese Gruppen am besten.

Charakteristisch genug sind dann thatsächlich die ersten Versuche, Universitätsbildung auch außerhalb der Hochschulen zu verbreiten vor einem Kreise unternommen worden, der diese beiden Eigenschaften in sich vereinte: vor weiblichen Lehrern. Der Privatdocent am Trinity-College von Cambridge, James Stuart, hielt im Spätherbst 1867 durch acht Wochen in den Städten Leeds, Sheffield, Manchester und Liverpool einen Kurs über Astronomie, in der Art, daß er von einem Ort zum anderen reisend jede Woche einen Abend [S. 10] in jeder Stadt sprach. Er war zunächst einer Aufforderung von Lehrerinnen gefolgt; nicht minder bedeutsam ist es, daß jene Bevölkerungsklasse, welche alsbald den neuen Gedanken aufgriff, die industrielle Arbeiterschaft war. 1868 trug Stuart den Arbeitern in Crewe und in Rochdale Astronomie vor. Dieser Mann, heute längst Professor und Parlamentsmitglied, ist der eigentliche Schöpfer der sogenannten University-Extension in England. Seinem Geist entsprang die eigentümliche Gestaltung dieser Thätigkeit wandernder Hochschullehrer. Im Lande herumreisend erscheinen sie wöchentlich an einem bestimmten Tag in der Stadt, die ihre Dienste wünscht, um in zusammenhängender, wissenschaftlicher Weise in einer größeren Zahl von Vorlesungen über ein begrenztes Gebiet zu sprechen, ihren Zuhörern durch gedruckte Leitsätze, die vorher verteilt werden, das Verständnis des Gebotenen erleichternd, vor oder nach dem Vortrag für die besonders Interessierten „Klasse“ haltend, wo Fragen gestellt und beantwortet, schriftliche Ausarbeitungen kritisiert werden und so fort. James Stuart verwirklichte derart praktisch, was von vereinzelten Stimmen (Sewell, Hervey) seit 1850 bereits mehrfach theoretisch gefordert worden war.

Ohne jetzt schon ein Urteil über diese Methode abzugeben, betrachten wir rein historisch ihre Entfaltung. Der 23. November 1871, an dem Stuart der Universität Cambridge ein Memorandum vorlegte, worin er es als ihre Verpflichtung hinstellte, das von ihm begonnene Werk unter ihren Schutz zu nehmen, es als Angelegenheit der Hochschule zu erfassen und dafür Sorge zu tragen, das vorhandene Lernbedürfnis auch durch die besten Lehrer zu befriedigen, wird stets ein denkwürdiger Erinnerungstag bleiben. Dies Verlangen wurde durch Petitionen der Vertretungen von Provinzialstädten, von [S. 11] Gewerbe- und Arbeitervereinen, Frauenvereinigungen energisch unterstützt, die eingesetzte Kommission erwies sich dem Projekt günstig und sehr bald schritt man (1873) zur That. Die Kurse fanden nunmehr unter offizieller Anerkennung und Oberleitung der Universität statt, es wurden am Schluß der Vorlesungen schriftliche Prüfungen durch Beauftrage von Cambridge abgehalten und über die erzielten Resultate Zeugnisse ausgestellt. Die erheblichen Kosten mußten die einzelnen Lokalkomitees aufbringen, und dies geschah in erster Linie durch das zu bezahlende Eintrittsgeld, welches in den verschiedenen Städten von sehr ungleicher Höhe, aber überall so ansehnlich war, daß es den Besuch der je ein Vierteljahr dauernden Kurse den ärmeren Klassen nur bei bedeutender Opferfähigkeit ermöglichte. Dieser letzte, zu wenig berücksichtigte Umstand ließ, da eben damals eine wirtschaftliche Depression eintrat, die neue Institution nicht so rasch aufblühen als man gehofft. Zwar bildete sich schon 1876 The London Society for the Extension of University-Teaching, 1878 veranstaltete die Universität Oxford gleichfalls solche Kurse, aber ohne Erfolg, so daß sie dort aufgegeben und erst 1885 wieder mit einer entscheidenden, Erfolg sichernden Abänderung aufgenommen wurde, die Cambridge seit 1881 jedoch nur als Ausnahme anwendete: man reducierte nämlich für kleinere Orte die Zahl der Vorlesungen für einen Kurs (und damit auch das Lehrgeld) auf die Hälfte, auf 6.

Seither erst ist die Universitäts-Ausdehnungs-Bewegung gesichert und auch die inzwischen (1880) entstandene Viktoria-Universität in Manchester trat von Anfang an mit Eifer in die Aktion ein. Jetzt ist ein Vierteljahrhundert seit Beginn dieser Art von Unterricht verflossen, und viele Hunderttausende von Schülern in reiferen Lebensjahren haben die treffliche, [S. 12] in diesen Vorlesungen gebotene Unterweisung genossen. Sie denken mit Vergnügen an die mit wissenschaftlicher Beschäftigung verbrachten Stunden, denen sie für ihr ganzes Leben Anregung danken. Ja man wird nicht fürchten müssen zu weit zu gehen, wenn man behauptet, es leben zur Stunde Unzählige in England, welchen die University-Extension einen reicheren Lebensinhalt, das köstlichste Gut also, das ein Mensch dem anderen schenken kann, vermittelte, indem sie dieselben lehrte, sich durch gründlichere Bekanntschaft mit der Natur der Dinge zu einer höheren, verfeinerten Lebensauffassung, einer edleren Lebensführung zu erheben.

Ohne mit Ziffern ermüden zu wollen, sei nur angeführt, daß 1892/3 57.000, 1893/4 mehr als 60.000 Hörer die Vorlesungen der University-Extension in England besuchten, wozu noch 3000 für Schottlands Universitätskurse in Glasgow kamen. In den beiden letzten Jahren hat anscheinend ein gewisser Rückgang in der Hörerzahl begonnen, der sich jedoch zwanglos aus dem Umstande erklärt, daß seit 1890 (neben der University-Extension und sogar in einem gewissen, sicherlich nicht wünschenswerten Gegensatz gegen die humanistischen Bemühungen derselben) die englischen Grafschaftsräte eigene Unterrichtskurse verwandter Art eingerichtet haben, an denen zum Teil selbst frühere Lehrer der University-Extension in gleicher Stellung wirken. Diese meist bloß der technischen Bildung gewidmeten, aber gleichfalls für Erwachsene bestimmten Kurse der Grafschaften sind dadurch vor jenen der Universitäten sehr bevorzugt, daß sie höchst ansehnliche Staatsunterstützung genießen, das sog. drink money.1 In der That, eine bessere und ich möchte sagen [S. 13] witzigere Verordnung der Trinksteuer, als diese, wo der Ertrag des Konsums der einen an trüben geistigen Getränken zur Abhilfe des Bedürfnisses nach klarem, perlendem Geistestrank für die anderen dient, läßt sich kaum denken. Indessen waren die Summen den county councils doch mit einem Vorbehalt übergeben worden, der in der Praxis zur bedenklichen Einschränkung führte; sie sollten ihre Verwendung für technische Erziehung finden und so die mangelnden Gewerbeschulen und dergleichen ersetzen.

Von Jahr zu Jahr wird dies engherziger aufgefaßt. Die Vorlesungen über Kunst, Litteratur, Geschichte, ja selbst die über Nationalökonomie, welche alle anfangs von der University-Extension auf Kosten der Grafschaftsräte weitergeführt wurden, gehen als unnötiger Ballast über Bord. Die Verbindung mit den Universitäten wird rauh gelöst, und diese sehen sich wieder ganz auf die eigene finanzielle Kraft verwiesen, dabei selbstverständlich stark im Nachteil, da sie Eintrittsgelder fordern müssen, während der naturwissenschaftliche Unterricht der Grafschaftskurse teils gegen ein sehr geringes, teils ohne Entgelt erteilt wird. Daraus beginnt sich eine Krise der bisherigen Form von University-Extension zu entwickeln, die ihrer Lösung bei der voraussichtlich im nächsten Jahr stattfindenden Beratung des neuen Unterrichtsgesetzes harrt.

Alle einsichtigen Freunde der Universitäts-Ausdehnung in England fordern jetzt staatliche Unterstützung hiefür und sind bereit, um diesen Preis auch staatliche Oberaufsicht gern mit in Kauf zu nehmen. Nur wenn ein Teil des drink money auch den humanistischen und ökonomischen Studien zu gute kommt, werden diese sich dauernd erfolgreich neben den technischen behaupten.

[S. 14] Es steht zu hoffen, daß die erwünschteste Lösung eintrete, indem Universitäten und Grafschaftsräte zusammenwirkend die naturwissenschaftlichen, die sociologischen und die schöngeistigen Fächer in gleicher Weise pflegen, wie sie doch für die harmonische Ausbildung des Menschen in gleicher Weise bedeutsam genannt werden müssen.

Eine ungemein wichtige Lehre für den großen Kampf zwischen Individualismus und Socialismus, der unsere Zeit beherrscht, bietet es jedenfalls, wenn in jenem Lande, welches als Hochburg der privaten Initiative unter eifersüchtigem Fernhalten jeder Staatseinmengung galt, die Stimmung umzuschlagen beginnt. Wird es ja allseits als notwendig bezeichnet, dem bisherigen Wirrwarr im Mittelschulwesen insoweit ein Ende zu bereiten, daß die zahllosen Privat-Mittelschulen aller Art (Realschulen und Gymnasien etc.) unter schärfere staatliche Kontrolle geraten sollen. Gerade der unbefriedigende Charakter dieser vielfach höchst mangelhaften mittleren und höheren Schulen war einer der Gründe für das Entstehen der University-Extension geworden, die eine Art Mittelweg zwischen Elementar- und Hochschulbildung einschlug und in der That Zeugnisse ausstellt, die unter gewissen Klauseln als vollgiltiger Ersatz für das vorbereitende erste Hochschuljahr von den Universitäten anerkannt werden. Damit aber hat sich meines Erachtens die englische University-Extension auf einen gefährlichen Weg begeben, der nur durch die hier nicht näher darzulegenden eigenartig englischen Unterrichtsverhältnisse zu rechtfertigen ist und auf welchem ihr kein anderes Land folgen sollte. Eitelkeit und Halbwissen wollen wir ja nicht züchten. Vollen Beifall hingegen verdienen die Sommermeetings, welche seit zehn Jahren im August die besten Schüler der über das Land [S. 15] verstreuten Unterrichtskurse zu gemeinsamem Studium in den Mauern einer Universitätsstadt vereinigen, wo sie durch drei bis vier Wochen die Unterweisung der tüchtigsten Professoren empfangen. 1896 fanden solche Sommerkurse, bei denen durch Prämien für die besten Arbeiten auch ärmeren Hörern die Teilnahme so weit als möglich gewahrt bleibt, in Cambridge und Edinburgh statt. So wie jedes menschliche Unterfangen zählt auch die Universitäts-Ausdehnungsbewegung Gegner; zu ihren Freunden darf sie aber den letzten liberalen, wie den jetzigen konservativen Unterrichtsminister, viele der berühmtesten Namen der Wissenschaft (Huxley, Lubbock etc.), Kirchenfürsten und Lords in stattlicher Zahl rechnen. Weit entfernt, sie für vollkommen zu halten, muß man doch sagen: die University-Extension hat gute Arbeit gethan und wird vermutlich künftig noch bessere leisten.

Das Gleiche in Vorzügen und Mängeln gilt von der nach englischem Vorbild geschaffenen und sich an ihr Muster ziemlich eng anlehnenden nordamerikanischen University-Extension. Nur insofern nahm diese den umgekehrten Weg, als Sommermeetings dort schon früher bekannt waren, als die 1890 zuerst in Philadelphia, 1891 in New York und 1892 in Chicago eingerichteten populären Vortragskurse, die sich über das ganze Gebiet der Vereinigten Staaten, sowie über Canada erstrecken. 1892/93 wies Philadelphia 18.822, Chicago 24.822, New York 3667 Hörer auf. Wie zumeist folgte dem glänzenden Beginn eine kurze Periode erlahmenden Eifers, jedoch 1895/96 konnte ein englischer University-Extension-Lehrer, Mr. Shaw, welcher das amerikanische System studierte, allein an den von ihm besuchten Orten über 52.000 Hörer konstatieren und er versichert, Leben, Enthusiasmus und Fortschritt gefunden zu haben, wo immer [S. 16] er hinkam. Aus öffentlichen Mitteln wird die Bewegung bloß in Chicago erhalten, wo eine eigene Abteilung der neubegründeten Universität diesem Zwecke dient. New York, wo die Kurse wie in London je zehn Wochen dauern, gewährt eine wichtige Unterstützung, indem der Staat 25.000 Dollars jährlich für Wanderbibliotheken auslegt, deren Bücher den Hörern der University-Extension unentgeltlich zur Verfügung stehen. 10.000 Dollars sind außerdem für die staatliche Oberleitung ausgeworfen, allein die direkten Auslagen für Honorare der Vortragenden, Lokalmiete u. s. f. müssen von den einzelnen Orten selbst getragen werden, d. h. eben von den Hörern.2

Dadurch sind aber in Amerika wie in England die ärmeren Klassen in der Benützung dieser doch gerade für sie notwendigsten Bildungsgelegenheit sehr beschränkt. Die Methode der Universität Chicago, auch brieflichen Unterricht zu erteilen, kann wohl nur bei geistig Begabten förderlich sein, sie dient jedenfalls bloß als Notbehelf, wo mündlicher Unterricht unmöglich ist. So anerkennenswert alle diese Bestrebungen sind, so verlangen gleichwohl auch in Amerika die Freunde der Sache Staatsunterstützung und Staatsaufsicht, um Charlatanismus fernzuhalten und allen Bevölkerungsschichten gleichmäßig gerecht zu werden.

In Australien, wo 1890 die Universität Melbourne diese Kurse ins Leben rief, breitete sich das System rasch aus; die Regierung in Sidney bewilligte Staatsunterstützung. Die [S. 17] Universität Madras trachtet die junge Institution in Britisch-Indien einzubürgern, wie auch am Cap der guten Hoffnung damit begonnen wurde. Daß gelegentlich in englischen Fremdenkolonien wie Montreux und Lausanne derlei Kurse stattfinden, bleibt natürlich auf weitere Bevölkerungskreise ohne Einfluß und hat mehr Kuriositätswert.

Von schwerwiegender Bedeutung ist dagegen die Thatsache, daß seit 1892 die Universität Gent, seit 1893 auch die Universität in Brüssel und nicht minder die eben gegründete „neue Universität“ derselben Stadt energisch und erfolgreich in vielen Städten und mit Tausenden von Hörern an der Arbeit sind. Die Kurse der freien Universität Brüssel allein erzielten 1895/96 eine Frequenz von 4150 Personen. Dies Beispiel Belgiens wird zweifellos bald in den romanischen Ländern, vor allem im benachbarten Frankreich Nacheiferung wecken. Wurden ja schon im letzten Jahr als erster Versuch im französischen Budget 100.000 Fr. für Vortragscyklen in der Art der englischen Grafschaftskurse angewiesen, wie z. B. die Universität Lille solche veranstaltet. Auch dort wird man dabei nicht stehen bleiben und in diesen rein praktischen Bemühungen, bessere Kunsthandwerker und geschicktere Industriearbeiter heranzubilden, auf die Dauer die Aufgabe nicht erschöpft sehen können, welche der volkstümlichen Hochschulbewegung vorgezeichnet ist. Oft fürchtet man Oberflächlichkeit zu züchten und den Respekt vor der Wissenschaft zu verringern, wenn auch die dem Leben fernerstehenden Wissenszweige vorgetragen würden. Wer aber dürfte mehr Ehrfurcht vor der ernsten Gedankenarbeit der Wissenschaft hegen: der, der gar keine Ahnung von ihren Problemen und Methoden besitzt oder jener, welcher in einem kurzen, in sich abgeschlossenen Lehrgang mit den wichtigsten Forschungsergebnissen auf einzelnen [S. 18] Forschungsgebieten Bekanntschaft machte und gerade dabei erkannte, wie viel ihm noch zu lernen übrig bleibe? Die selbstgefällige Oberflächlichkeit erzeugen am ehesten noch jene populären Einzelvorträge, mit denen man sich bisher in Frankreich, wie in Deutschland begnügte und die zu reichlich genossen, manchmal schädlich wirken. An sich in der Regel ganz wünschenswert, können sie doch niemals dasselbe leisten, wie zusammenhängende Kurse über größere Wissenschaftsgebiete. Als Vorbereitung für solche ernstere Arbeit sind derlei Vorposten (Pionierkurse nennt man sie England) allerdings, wie wir gleich an Wien sehen werden, sehr zu schätzen. Sie ritzen den Boden nur, aber sie bereiten ihn auf die tiefer eindringende Pflugschar vor.

In Rußland und in Ungarn wird die University-Extension in Erwägung gezogen; Odessa und Budapest weisen Anfänge bereits auf. In Skandinavien begegnet sie uns bisher mehr in der Form der Sommermeetings nach englischem Muster, wie ja auch Deutschland in Berlin, Göttingen, Greifswald, Jena und sonst derartige Ferienkurse sich zu eigen machte, die hier und dort fast nur dem Mittelstand (Beamten, Geistlichen, Fabrikanten, Lehrern) dienen, dem Proletariat und dem Bauer in der Regel unzugänglich bleiben. Gerade für den Bauernstand sorgt jedoch Skandinavien in hervorragender Weise durch die ohne fremdes Vorbild autochthon erwachsenen „Volkshochschulen“, die freilich korrekter höhere Volkshochschulen heißen sollten. Von Dänemark ging die Bewegung aus, Bischof Grundtvig wünschte sie im Interesse regliös-sittlicher Erziehung und Lehrer Flor schuf 1844 die erste Bauernhochschule zu Rödding in Nordschleswig, mehr im Interesse der eiderdänischen Aspirationen als lediglich aus pädagogischen Rücksichten. Diesen extrem-nationalen Charakter [S. 19] haben die dänischen Volkshochschulen bis heute behalten, und es entbehrt nicht eines ironischen Beigeschmacks, wenn jetzt mehrfach den Deutschen die Nachahmung dieser zum Kampf gegen das Deutschtum in Schleswig errichteten Schulen empfohlen wird. Gerade seit 1864 wandte das tiefverwundete dänische Nationalgefühl seine Aufmerksamkeit der Pflege der Volkshochschulen zu. 1864 waren es erst 7, 1896 sind es 77. Der Staat beteiligte sich damals gar nicht, jetzt gewährt er 300.000 dänische Kronen (also über 400.000 Fr.) jährlich, wovon 120.000 direkt an die Schulen als Unterstützung ausbezahlt, 180.000 den Kreisämtern überwiesen und von ihnen als Stipendienbeträge an ärmere Schüler dieser Anstalten ausgeteilt werden. Dabei bleibt den Volkshochschulen volle Selbständigkeit gewahrt, auch die Anstellung der Lehrer hängt nicht vom Ministerium ab, die Lehrpläne werden auf eigene Hand entworfen und durchgeführt, der Staat beschränkt sich auf eine milde Oberaufsicht. Durch den Besuch der Volkshochschulen wird keinerlei Vorrecht erlangt (ein beachtenswerter Unterschied gegenüber der englischen University-Extension), wer also diese Schule frequentiert – und 5-6000 thun es jährlich in dem kleinen Lande – den treibt kein anderer Wunsch als der, sich zu vervollkommnen. Darauf, die Fähigkeiten jedes Einzelnen zu entwickeln, ist die Absicht der Volkhochschulen gerichtet und hierin, nicht im Vermitteln direkt nützlicher Kenntnisse, erblickt sie ihr Ziel. Meist im Alter zwischen 18 und 25 Jahren besuchen junge Burschen und Mädchen aus allen Ständen, der Mehrzahl nach freilich Bauernsöhne und -Töchter einen Winter hindurch die Anstalt. Diese fünf Monate müssen dann ganz dem einen Zweck geistiger und körperlicher Ausbildung gewidmet bleiben. Die Zöglinge essen und wohnen in den Anstaltsräumen. Für [S. 20] jene, die mehr Zeit oder mehr Eifer besitzen, erschließen sich noch in Askov, dicht an der preußischen Grenze, höhere Bildungsquellen. Die erweiterte Volkshochschule in Askov, die ich dieses Jahr selbst sah, nimmt nur solche Schüler an, die bereits eine andere Volkshochschule besucht haben. Durch zwei Jahre, je sechs Monate (November-April) wird dort Dänisch, Englisch, Physik, Chemie, Welt- und Kirchengeschichte, Litteraturgeschichte, Geographie, Zeichnen, Geometrie, Algebra, Singen und Turnen getrieben. Ein Teil der Vorlesungen ist für Mädchen und Burschen gemeinsam. Prüfungen werden nicht abgehalten und Zeugnisse nicht ausgestellt, was mir ein großer Vorzug scheint. Der Geist der Anstalt ist ein vortrefflicher. Bedauerlicherweise vermag die Arbeiterschaft aber teils aus finanziellen, teils aus religiösen Gründen von diesen Schulen nicht entsprechenden Nutzen zu ziehen. Als teilweiser Ersatz dienen die von der radikalen „Studentengesellschaft“ in Kopenhagen eingerichteten Abendkurse für die Arbeiter, in denen meist unmittelbar Nützliches gelehrt, aber durch gemeinsame erklärende Führungen in Museen den höheren Geistesbedürfnissen Rechnung getragen wird. Auch finden öfters frei zugängliche Abendvorlesungen an der Universität selbst statt. Aehnlich wie in Dänemark liegen die Verhältnisse in Norwegen und Schweden, wo der Bauernstand ebenfalls im Staatsleben die ausschlaggebende Rolle spielt. Auch Finnland weist neun Volkshochschulen auf. Inwieweit dies System für die Schweiz passen würde, muß ich unentschieden lassen, vermutlich wäre es besonders in Frankreich mit besten Erfolgen anwendbar; in Deutschland und Oesterreich fehlt dazu die Hauptsache: die durchschnittliche Wohlhabenheit des Bauernstandes. Im Zusammenhang mit der Universität stehen diese Volkshochschulen bloß insofern [S. 21] als ihre Lehrer dort studierten. Eine eigentliche University-Extension kennt demnach Skandinavien (von jenen Sommervorträgen abgesehen) ebenso wenig als das deutsche Sprachgebiet sie bisher kannte.

Das soll nun anders werden. Oesterreich hat die Initiative hiezu ergriffen und im letzten Winter einen überraschend glücklichen Anfang gemacht. Es wird vielleicht in Erstaunen setzen, daß mein Vaterland darin seinen Nachbarländern entschieden um eine Idee voraus ist, denn nach manchen in den letzten Tagen bei Vorträgen und Diskussionen hier gefallenen Aeußerungen hält man uns für sehr zurückgeblieben. Mit Unrecht! Sie mühen sich im deutschen Reich vorläufig ohne Erfolg ab, um statt der konfessionellen die Simultanschule zu erlangen, bei uns in Oesterreich haben wir die interkonfessionelle Schule bereits seit einem Menschenalter. Es wurde hier geklagt, wie wenig Wert an reichsdeutschen Gymnasien auf die naturwissenschaftlichen Fächer gelegt und wie einseitig die klassischen Sprachen in den Vordergrund gestellt würden: dieser Uebelstand ist bei uns seit der Schulreform von 1850 weit weniger fühlbar. Wir sind unsern Nachbarn demnach da fast um ein halbes Jahrhundert vor! Die Berechtigung zum Einjährigen wird bei uns auch durch die Zeugnisse völlig lateinloser Anstalten (wie Realschulen, Handelsakademien, höhere Gewerbe- und Ackerbauschulen) erworben. Sie sehen, unser Unterrichtswesen ist keineswegs so vernachlässigt, wie viele unter Ihnen annehmen. Der Oesterreicher ist nur viel zu liebenswürdig, um den Fremden dadurch zu kränken, daß er ihm vorhalten würde, was alles bei uns besser als anderswo ist; er ist so bescheiden, daß er in der Regel meint, im Ausland müsse alles noch weit besser eingerichtet sein. Sie müssen mir schon gestatten, hie- [S. 22] von eine Ausnahme zu machen. Ich sehe gar nicht ein, weshalb wir Oesterreicher uns nicht (so gut wie alle anderen Staaten Angehörigen) dessen freuen und rühmen sollten, was bei uns in irgend einer Beziehung Hervorragendes geleistet wurde. Wenn wir in manchen Dingen noch zurück sind, so unterliegen wir damit nur einem nicht von uns verschuldeten weltgeschichtlichen Entwicklungsgesetz, welches seit 1100 Jahren die Kultur Europas von Westen nach Osten sich ausbreiten läßt. Unsere geographische Lage wirkte hemmend. Diese scheinbare Abschweifung war nicht überflüssig, denn nun werden Sie minder überrascht sein zu hören, daß Oesterreich im Begriffe steht, auf dem Gebiete der volkstümlichen Universitätsbildung bahnbrechendes und mustergiltiges zu leisten.

Seit bald 10 Jahren wirkte in Wien neben den specifischen Arbeitervereinen der Volksbildungsverein, der jährlich Hunderte von Einzelvorträgen (später auch größere Kurse) veranstaltete, die Zehntausende von Besuchern fanden, in gleicher Weise wie die Züricher Gemeinnützige Gesellschaft. Vor drei Jahren cirkulierte nun unter den Professoren und Docenten eine Bittschrift um „Organisation volkstümlicher Lehrkurse durch die Universität“, wobei vornehmlich Privatdocenten lehren und ihre Entlohnung durch eine jährliche Subvention von 6000 fl. (12.000 Fr.) seitens der Regierung sichergestellt werden sollte. Schon Anfangs November 1895 konnten nach Erfüllung dieser Wünsche seitens der zuständigen Behörden die Kurse eröffnet werden. Bis Ostern 1896 haben 58 Kurse, jeder zu 6 Vorlesungen, stattgefunden und 6172 Hörer haben sie besucht. Was das heißen will, versteht man erst recht, wenn man sich vergegenwärtigt, daß z. B. in dem an Bevölkerungszahl unseren 1½ Millionen so weit überlegenen London nebst den angrenzenden Grafschaften [S. 23] (zusammen etwa 8 Millionen Bewohner) noch 1885 bloß 5000 und 1895 erst 14.000 Personen an der University-Extension teilnahmen, daß also Wien relativ dreimal so viel Zuhörer stellt als die englische Hauptstadt. Die Ursache ist einfach: in Wien kostet der sechsmalige Besuch des 1-1½ Stunden dauernden Collegs nur 1 Krone (= 1 Fr.), in England variieren die Preise für einen Kurs von zwei Shilling bis zu der horrenden Summe von 21 Shillingen (26¼ Fr.). In Wien unterrichten ausschließlich bewährte Kräfte, in England und mehr noch in Amerika wird darüber geklagt, daß nicht alle Vortragenden – zum Teil Leute, die kaum ihre Studien absolvierten – ihren Gegenstand so gründlich beherrschen als es der stolzen Verheißung eines Universitätsunterrichtes entspricht. In Wien hält man eben an dem richtigen Princip fest: Hochschulunterricht können nur Hochschullehrer erteilen; der gute Wille allein langt dazu nicht hin.

Von größter vorbildlicher Bedeutung ist die Bewilligung einer fixen jährlichen Subvention. Der Betrag von 12.000 Franken mag vielleicht nicht sehr hoch gegriffen erscheinen. Nun, es steht den reichsdeutschen Ministerien ja frei, Oesterreich durch Anweisung weit größerer Summen für denselben Zweck tief zu beschämen. So lange dies jedoch nicht geschieht, wird man dem Oesterreicher wohl verzeihen, wenn er mit Stolz sich dessen rühmt, daß sein Vaterland der erste Staat Europas ist, wo an maßgebender Stelle die Wichtigkeit der University-Extension richtig erfaßt und dementsprechend gehandelt wurde. Besonders anzuerkennen bleibt ferner, daß der Staat zwar den größeren Teil der Kosten deckt (auch die nötigen Lokale werden zu minimalen Benützungspreisen zur Verfügung gestellt), die Verwaltung und Leitung der [S. 24] Kurse aber gänzlich der Universität überläßt, welche dies durch einen elfgliedrigen Ausschuß völlig unabhängig besorgt. An die Spitze dieser Kommission trat der Rektor unserer Hochschule, der auch bei Ihnen wohlbekannte Gelehrte Anton Menger; der Prorektor Müllner, der Dekan der theologischen Fakultät und sechs der angesehensten Professoren gehörten ihr als Mitglieder an; außerdem zwei Privatdocenten, ein Wirtschaftshistoriker: L. Hartmann, von Geburt an Schweizer Staatsbürger, der sich um die Errichtung der neuen Institution von Anfang an eifrig bemüht und sich damit ein großes Verdienst erworben hat, dann ein Socialethiker: der Sprecher, der vor Ihnen steht. Die noch so stark differierenden religiösen und politischen Anschauungen der Ausschußmitglieder haben sich niemals dem friedlichen gemeinsamen Zusammenarbeiten im geringsten abträglich gezeigt, weil alle darin völlig einig sind, daß wir die Wissenschaft und nichts als die von allen Schlacken irgendwelcher Tendenz freie, strenge und reine Wissenschaft verbreiten wollen. Unsere Kurse bieten ebenso wie die englischen die reichste Auswahl, alle Zweige des Wissens sind vertreten. Im nächsten Winterhalbjahr wird das begonnene Werk in gleichem Umfang fortgesetzt, indem 58 Kurse projektiert sind.

Wie ungemein wichtig der Staatszuschuß für die Frequenz ist, zeigt folgende Ueberlegung: erhielten wir ihn nicht, so hätte zur Deckung der Kosten vergangenen Winter jeder der 6000 Hörer statt 1 Krone 3 für den Kurs bezahlen müssen. Das würden jedoch die meisten nicht leisten können und wären nicht gekommen. Da die Kosten auch bei geringerer Hörerzahl dieselben bleiben, so hätten wir vielleicht schließlich 1800 Hörer zu 10 Kronen oder 1200 Hörer zu 15 Kronen nicht etwa gefunden, sondern gebraucht, um ohne Defizit zu arbeiten. [S. 25] Weil aber bei derart hohen, den englischen allerdings genau entsprechenden Preisen, die nötige Hörerzahl sich aller Voraussicht nach nicht eingestellt hätte, so würde der Versuch University-Extension zu treiben, mißglückt sein, während er thatsächlich einen großartigen Erfolg bedeutet. Sie begreifen zugleich, weshalb sich die englischen Universitätskurse gegen den Wettbewerb der fast unentgeltlichen Grafschaftskurse so schwer behaupten. Trotzdem in England der Ausweg gewählt wurde, von Arbeitern und Lehrern nur die Hälfte des normalen Eintrittsgeldes zu fordern, ist dort University-Extension im wesentlichen eine Sache des Mittelstandes, während in Wien auch die ärmeren Bevölkerungsklassen sich zahlreich beteiligen. Und schon dies ist in so aufgeregter, verhetzter Zeit ein schätzenswerter Erfolg, daß Angehörige aller Gesellschaftsklassen und Altersstufen, Männer und Frauen ohne Unterschied als Gleichberechtigte im selben Raum sich versammeln, um gemeinsam eine ruhige, objektive, wissenschaftliche Darlegung der Dinge zu vernehmen, der es sich nur um Erkenntnis der Wahrheit handelt, wo Parteigeist und Parteihaß schweigen müssen. Ihre Lehrer sind Männer von Begabung und Fleiß, aber Männer, deren schlichtem Rock man es ansieht, daß sie nicht in glänzender materieller Lage leben, und wenn man es ihnen nun anhört, wie sie dadurch unbeirrt nur den Zwecken der Wissenschaft mit allem Eifer nachstreben, sollte das nicht in unserer materialistischen geldgierigen Zeit eine indirekte sittliche Rückwirkung ausüben, die um so nachhaltiger sein mag, gerade weil sie eine ungewollte ist?

In der That muß ich meinen Kollegen das ehrenvolle Zeugnis geben, daß sie, während der gewöhnlich minder hoch qualificierte englische Vortragende durchschnittlich 540 Fr. für [S. 26] den Kurs erhält, sich mit 180 Fr., einem Drittel hievon, begnügen. Das ist wissenschaftlicher Idealismus, und nur so kommt es, daß in Wien die gesamten Auslagen für einen Kurs bloß 300 Fr. betragen, während sie in England mit 1100 Fr. berechnet werden. Wahrhaft erquickend ist darum das Verhältnis persönlicher Anhänglichkeit, wie es sich oft zwischen den Hörern und dem Lehrenden herausbildet, wobei die häufig weit älteren Schüler dem Docenten mit fast kindlicher Ehrerbietung begegnen. Er darf sich dessen freuen, weil diese Ehrfurcht ja nicht seinem kleinen Ich gilt: der Respekt vor der Wissenschaft kommt da naiv zum Ausdruck. Und ist es für den Docenten nicht aufrichtend und stärkend, wenn er, der an der Hochschule selbst meist nicht durch überfüllte Kollegien verwöhnt wird, einer zahlreichen, aufmerksamen Hörerschar sein Fach (wenn auch in populärer Form) vortragen darf, mit dem Bewußtsein, hier durch seine Geistesarbeit der Wissenschaft und dem Fortschritt der Kultur auf das Wirksamste zu dienen? Nicht die geringe materielle Beihilfe, die er als Honorar empfängt und die doch zu klein ist, um dem leider so vielfach herrschenden Privatdocentenelend abzuhelfen, spornt ihn, sondern die Freude, hier für seine Wissenschaft empfängliche, nach Belehrung begierig verlangende Zuhörer zu treffen.

Allein auch Professoren, deren Name in der Wissenschaft mit hoher Anerkennung genannt wird, beteiligen sich. Mit Vorträgen über Anatomie erzielte ein bekannter Fachmann die unerreichte Frequenz von 458 Hörern. Daß aber nicht der glänzende Name allein, sondern sachliches Interesse gerade für bestimmte Zweige des Wissens ausschlaggebend ist, beweist der ungewöhnliche Andrang zu den von einem jungen Assistenten gehaltenen Vorträgen über Astronomie mit Exkursionen [S. 27] auf die Sternwarte; sogleich fanden sich 302 Hörer, und als der Kurs in den folgenden Monaten „auf vielfaches Verlangen“ wiederholt wurde, waren es sogar noch mehr, 339. Vorlesungen über „Erste Hilfe und Krankenpflege“, „Elektrotechnik“ und „Shakespeare“, sowie die „Lehre vom Licht“, zeigen die nächststärksten Besuchsziffern (200-300). Auch das System, Kurse durch alle drei in diesem Winter abgehaltenen Vortragscyklen hindurchzuführen, hat sich gut bewährt, so wurden französische Geschichte (von 1700-1815), römische Geschichte, Physiologie, Anatomie, Hygieine, österreichische Geschichte und Verfassungsrecht, deutsche Litteraturgeschichte in fortgesetzten Kursen gelehrt, dabei aber darauf geachtet, daß jeder Teilkurs ein in sich abgeschlossenes Ganzes bilde. Zu sehr zu specialisieren, wie man es wohl nennen muß, wenn in England z. B. 24 Vorlesungen über „Sokrates und seine Zeit“ oder über „Shakespeares Historien“ gehalten werden, vermeiden wir. Eine Gründlichkeit, gleich jener der ganze Semester umspannenden Universitätskollegien, soll in volkstümlichen Kursen gar nicht angestrebt werden. Wir wollen ja nicht Specialisten heranbilden, die irgend ein wissenschaftliches Steckenpferd reiten gelernt haben, sonst aber auch nichts, sondern eine tüchtige Allgemeinbildung solchen Erwachsenen vermitteln, die weder Geld noch Zeit haben, die Universität zu besuchen, die jedoch in den Abendstunden, soweit es der Kampf um das tägliche Brot gestattet, anregende Belehrung suchen.

Zwei Drittel unserer Hörer bevorzugten die naturwissenschaftlichen und medizinischen Fächer, ein Drittel entschied sich für die humanistischen und juridischen Kurse. Weit entfernt, die Hintansetzung der mir persönlich näher vertrauten Gegenstände zu beklagen, erblicke ich gerade darin einen erfreulichen [S. 28 ] Beweis für den ernsten Sinn unserer Hörer, die auch schwerer zugängliche, ihrem Verständnis fernerliegenden Wissenschaften sich zu eigen machen wollen. Gerade das Studium der so streng objektiven Naturwissenschaften ist doch auch besonders geeignet, uns über uns selbst hinauszuheben, persönliche Kümmernisse vergessend beim Eindringen in ein großes, gesetzmäßig geordnetes Ganzes, das völlig jenseits der subjektiven Sphäre liegt. So kann das Erkennen als solches Trost und Beruhigung gewähren. Andererseits veredelt Wissen allein noch nicht, besonders dann nicht, wenn es bloß zu eigennützigen Zwecken erworben wird, um eine günstigere Position im Leben zu erhalten. Davor sind unsere Hörer meist gefeit, sie studieren ohne Aussicht auf greifbaren materiellen Vorteil. Was sie erstreben, ist einer der edelsten intellektuellen Genüsse: die Freude an der Erweiterung unseres geistigen Horizontes. Die umgebende Welt, Natur und Geschichte der Dinge möglichst kennen zu lernen: diesem Wunsch ebnen unsere Universitätskurse den Weg. Und auch für die künstlerische Erziehung des Volkes sind sie von hoher Wichtigkeit. Schon vor drei Jahren in Eisenach auf dem ersten ethischen Kongreß, wo es meine Aufgabe war, die Hindernisse zu besprechen, welche im 19. Jahrhundert Kunst und Volk trennten, aber im 20. hoffentlich fallen werden, betonte ich, es genüge nicht, die Museen am Sonntag zu öffnen, billige Vorstellungen und Concerte zu veranstalten: all dies werde erst wahrhaft wirksam bei gleichzeitiger Anleitung der Massen zum Verständnis der Kunstwerke. Diese Heranbildung zum Kunstgenuß ist eine der wertvollsten Seiten der volkstümlichen Universitätsbewegung.

Wird diese Bewegung sich gedeihlich weiter entwickeln? Wir dürfen es hoffen. In Oesterreich hat zu gleicher Zeit [S. 29 ] mit Wien die deutsche Universität Prag die Arbeit begonnen, indem sie (mehr dem englischen System entsprechend) in einer Anzahl deutschböhmischer Ortschaften Kurse einrichtete, deren Vortragende jedoch gleichfalls ausschließlich Hochschullehrer sind. 1897 wollen die Universitäten von Graz und Innsbruck, sowie die Brünner Technik in gleicher Weise wie die Reichshauptstadt ans Werk schreiten und erwarten zuversichtlich, daß auch ihnen der fördernde Staatsbeitrag nicht versagt werden wird, eine nach dem Vorausgegangenen wohlbegründete Hoffnung. Die Schweizer Universitäten kennen die Institution populärer Einzelvorträge seit längerer Zeit. Die Universität Basel bot 1895/96 zwei allgemein zugängliche Kurse und außerdem einen für Lehrkräfte der Primarschulen, ist also zu der geeigneteren Form zusammenhängender, grundlegender Belehrung bereits fortgeschritten. Die Universität Bern veranstaltete 1895/96 in den Ortschaften des Kantons eine Reihe von Einzelvorträgen als Vorübung für demnächst in Leben zu rufende eigentliche Kurse. Zürich soll schon im Winter 1896/97 durch die Pestalozzigesellschaft 6-8 Kurse erhalten; die Vertreter dieser Vortragsgruppen werden Lehrkräfte der Universität wie des Polytechnikums sein. Sollte nur im deutschen Reich das von den beiden ältesten deutschen Hochschulen gegebene Beispiel ohne Einfluß bleiben? Die beliebte frühere Ausrede, in England und Amerika herrschten andere Verhältnisse, trifft nicht mehr zu, seit besonders Wien bewies, daß wir weit entfernt von ängstlicher Kopie der Institutionen fremder Länder eigenartiges auf diesem Gebiet schaffen und das anderswo Geleistete gerade an wahrer Volkstümlichkeit übertreffen können. Das geistige [S. 30] Band, welches alle deutschen Hochschulen innig verbindet, möge auch hier seine Kraft bewähren.

Nicht auf die Universitätsstädte soll die Bewegung beschränkt bleiben. Gewiß werden die Hochschullehrer auch andere nahe gelegene größere Orte bereitwillig aufsuchen, aber wir sollten uns hüten, hier ins Extrem zu gehen und förmliche Wanderlehrer aus ihnen zu machen, was sie der Forschung entfremden und schließlich auch ihre Lehrleistungen beeinträchtigen müßte. In kleineren Städten werden sehr gut zunächst die fähigeren jüngeren Lehrkräfte der Gymnasien und Realschulen als Ersatz eintreten können. Es wird gerade auf diese Lehrer selbst, die nur mit Kindern und Halbwüchsigen beschäftigt sind, geistig erfrischend zurückwirken, falls sie einige Zeit hindurch, etwa 6 oder 12 Abende im Jahr, als Vortragende für Erwachsene wirken. Es würden damit auch die so notwendigen Beziehungen zwischen Schule und Haus fester geknüpft, die Achtung des Schülers vor dem Lehrer gesteigert, wenn er sieht, daß auch seine Eltern an derselben Quelle geistige Anregung suchen.

Die volkstümliche Universitätsbewegung soll und muß immer mehr in jedem Lande sich den speciellen Verhältnissen anpassend, alle Kreise zu umfassen streben. Als krönender Schlußstein der Volkserziehung hat sie gerechtfertigten Anspruch auf die Beihilfe des Staates, dem sie zum Dank weisere Väter, intelligentere Mütter der nächsten Generation zurückgiebt und damit bessere Bürger. In den Zeiten des [S. 31] allgemeinen Wahlrechtes ist die politische Bildung aller Staatsangehörigen ein dringliches Erfordernis. Nicht die Kinder in der der Elementarschule, erst die Erwachsenen können mit reifem Verständnis in den Universitätskursen die Staatswissenschaften erfassen. So will ja auch der Entwurf eines neuen ausgezeichneten Schulgesetzes für den Kanton Zürich, daß alle Jünglinge zwischen 17 und 19 Jahren verpflichtet sein sollen, durch 2 Winter staatliche Unterrichtskurse über Bürgerkunde zu besuchen. Einseitigkeit ist der gefährlichste Feind einer Zeit, in der jeder notgedrungen fast nur in seinem Beruf aufgeht, blind und taub gegen alles andere. Die Universitätskurse ermöglichen es mit geringem Zeitaufwand, Einblick in alle Gebiete menschlichen Wissens zu gewinnen; gerade unseren Hochschülern wäre darum zur Bewahrung vor Fachsimpelei der Besuch dieser höchsten Schulen des Volkes wärmstens zu empfehlen. Der Kaufmann, der Landwirt und der Handwerker, alle die vielen Gewerbe des Mittelstandes finden hier Gelegenheit zu gesunder geistiger Gymnastik, die nicht minder wichtig ist als die körperliche. Auch den Arbeiter im vollsten Maße an den Segnungen der Bildung teilnehmen zu lassen, ist erst bei weitgehender Verkürzung der Arbeitszeit denkbar; um so mehr Anerkennung verdient es, wenn jetzt schon viele Proletarier trotz körperlicher und geistiger Ermüdung manchen Abend noch ihrer wissenschaftlichen Fortbildung opfern. Je mehr Gelegenheit dazu sich ihnen bietet, desto geringer wird auch die Zahl jener werden, die keine andere Zerstreuung kennen als die Schenke. Billige Theater, Concerte, Museen, gut ausgestattete Freibüchereien und Lesehallen, nicht zuletzt aber die Universitätskurse, sollen eine würdigere Verwendung der Mußestunden ermöglichen. Wie dankbar das Volk solche Bemühungen anerkennt, dafür nur ein Beispiel: Als am [S. 32] 1. Mai wie alljährlich der große Demonstrationszug der Arbeiterschaft durch die Stadt zog, da brauchte die Wiener hohe Schule nicht wie manches andere öffentliche Gebäude durch starke Polizeiabteilungen geschützt zu werden. So lang der endlose Zug an diesem Prachtbau vorbeidefilierte, erscholl ununterbrochen aus viel tausend Kehlen der Ruf: Hoch die Universität! Hoch die Wissenschaft! Mögen bald alle deutschen Hochschulen beim Proletariat ebenso beliebt werden als es die Wiener Universität seit Einrichtung ihrer volkstümlichen Kurse ist. Ein Allheilmittel für die socialen Schäden der Zeit sind die Universitätskurse keineswegs, immerhin können sie viel dazu beitragen, jenen Zustand zu beseitigen, den ein konservativer Staatsmann, Lord Beaconsfield, als den verderblichsten bezeichnete: wo in einem Volk zwei Nationen neben einander leben, getrennt in Gefühlen, Hoffnungen und Gedanken. Diese Kurse sollen die Kluft zwischen den sogenannten Gebildeten und ihren Volksgenossen zuschütten helfen, sie werden damit nach beiden Seiten wohlthätig wirken. Der ungerechtfertigte Hochmut der Studierten muß schwinden, wenn die Wissenschaften aufhören, dem Volk unbekannte, rätselhafte Geheimlehren zu sein. Trefflich sagte der frühere Rektor der Wiener Universität, der Theologe Laurenz Müllner: „Eine Wissenschaft, die sich in die Schleier des Geheimnisses hüllen und nur Gemeingut einer in sich abgeschlossenen Kaste sein wollte, müßte in der Gegenwart auf jede Bedeutung im Organismus der Gesellschaft verzichten. Die Gesellschaft kennt nur eine Rücksicht, in der sich ihr alle treffen: das öffentliche Wohl.“ Im Interesse des öffentlichen Wohles müssen wir thatkräftige Förderung der volkstümlichen Universitätsbewegung verlangen, damit die Scheidewände fallen und wir wenigstens in der gemeinsamen Liebe für Kunst und Wissenschaft [S. 33] werden, was das höchste Ziel aller menschlichen Entwicklung ist und was wir nach dem Rütlischwur auf allen Gebieten sein sollten: ein einig Volk von Brüdern!

Nachtrag

Da der Druck dieses Vortrages sich länger verzögert hat als dem Autor lieb ist, scheint es notwendig, wenigstens die wichtigsten Fortschritte der Bewegung in den letzten fünf Monaten hier anhangsweise zu verzeichnen. Erfreulicherweise treffen ja fortwährend neue Nachrichten ein, die ein beständiges Wachstum der Universitätsausdehnung bezeugen. In Zürich haben die geplanten Vorträge mit November 1896 thatsächlich begonnen. Gleichzeitig eröffnete als erste unter den reichsdeutschen Hochschulen Jena für den Winter 1896/97 vier Kurse (ebenfalls zu je sechs Vorlesungen). Wie in Zürich die Pestalozzi-Gesellschaft, hat in Jena der dortige Zweig der Comenius-Gesellschaft die Sache der University-Extension zu der seinen gemacht. Die auf dem Kongreß der Comenius-Gesellschaft zu Berlin (Pfingsten 1896) gefaßten Entschließungen haben also bereits die ersten Früchte gezeitigt. In München konstituirte sich am 21. Dezember 1896 ein „Volkshochschulverein“ unter Vorsitz des Nationalökonomen Professor Lujo Brentano, als dessen Mitglieder sich 80 Professoren und Docenten beider Hochschulen sogleich eintragen ließen. Der Verein begann schon im ersten Quartal des Jahres 1897 zehn Vortragscyklen zu 4-6 Stunden gegen 1 Mark Eintrittsgeld abzuhalten und hofft seine Aufgabe lösen zu können, ohne Staatsmittel in Anspruch zu nehmen. Wenige Tage später richteten 52 wissenschaftlich hervorragende Ordinarien der [S. 34] Universität Berlin eine Eingabe an den akademischen Senat, derselbe möge (in Verbindung mit den anderen Hochschulen Berlins) Kurse nach dem Wiener Muster einrichten und zu diesem Zwecke 15.000 Mark von der Regierung erwirken; das Unterrichtsgeld soll 1 Mark für sechs Abende betragen. Ueberraschend und wenig anmutend ist der heftige Widerspruch, den dies Projekt bei einem Teil der öffentlichen Meinung im deutschen Reiche sogleich nach seinem Bekanntwerden findet. Noch überraschender wirkt die eben einlaufende Nachricht, daß der akademische Senat (freilich bloß mit einer Stimme Mehrheit) das Ansuchen ablehnte!

In Oesterreich dagegen ist die Bewegung nicht mehr auf das deutsche Sprachgebiet beschränkt. Im Dezember 1896 haben die Tschechen mit Hilfe von Universitäts- und Gymnasialprofessoren eine „Arbeiterakademie“ mit dem Sitz in Prag geschaffen, die nach den Angaben des Professor Masaryk eine noch systematischere Durchbildung auf philosophischer Grundlage beabsichtigt als die University-Extension bisher bot und in je drei Jahren „den Bildungsstoff der Mittelschule und einiges darüber hinaus bewältigen“ soll. Es scheint einige Aehnlichkeit mit den zuerst 1880 in Stockholm begründeten „Arbeiterinstituten“ geplant, deren Schweden jetzt 36 aufweist und die (seit 1886) 27.000 Fr. Staatsunterstützung erhalten, so daß sie fast unentgeltlich wirken können. Das österreichische Budget für 1897 weist leider die nötige Erhöhung der Subvention für die volkstümlichen Universitätskurse noch nicht auf, doch wurde die Wirksamkeit des neuen Unterrichtes im Parlament von Abgeordneten gemäßigter wie radikaler Parteischattierungen warm anerkannt. Der Herbstterm 1896 erzielte in 22 Kursen mit 3094 Hörern einen noch größeren Erfolg als die Vorträge von 1895/96. [S. 35] Die beiden folgenden Terms (zu je 18 Kursen) litten naturgemäß unter der großen Wahlbewegung, welche das Interesse der Bevölkerung stark ablenkte, fesselten aber gleichwohl mehr Hörer als im Vorjahr, so daß (mit Einrechnung zweiter Lateinkurse zu je 16 Stunden) 1896/7 im Ganzen 60 Kurse mit 7357 Hörern stattfanden. Das Unterrichtsgeld ist für Arbeiter, welche ihre Karten durch die Gewerkschaften beziehen, von 50 Kreuzer auf 25 Kreuzer herabgesetzt worden, eine Maßregel, die sich sehr zu bewähren scheint. Bei der Debatte über das Budgetkapitel „Hochschulen“ hat (am 4. Januar 1897) Unterrichtsminister Baron Gautsch die Wichtigkeit und den großen Erfolg der volkstümlichen Universitätsbewegung in Wien gewürdigt, seine Sympathie für die so weitesten Schichte zugänglich gewordene solide, höhere Bildung betont und unter dem lebhaften Beifall des Abgeordnetenhauses mit dem Wunsche geschlossen, es sollen „die Schätze des Wissens nicht als ein totes Kapital von großen ungangbaren Stücken in den Händen einzelner liegen bleiben, sondern in echter, wenn auch kleiner Münze von Haus zu Haus, von Hand zu Hand wandern und nicht bloß im Salon des Reichen, sondern auch in der Stube des Arbeiters ihren Wert behalten.“

 

Anmerkungen:

1 [S. 12] Dasselbe betrug 1893/4 647.637 Pfund 18 Schillinge, 1894/5 737.421 Pfd. 15 Sch. und wurde größtenteils für die Zwecke der Grafschaftskurse verwendet.

2 [S. 17] Unentgeltlichen Unterricht in den Abendstunden bietet hingegen Peter Coopers Union College in New York, eine Art Privatuniversität von älterem Ursprung als die spätere University-Extension-Bewegung, deren Heim ein von Cooper gestifteter Volkspalast mit großer Freibibliothek bildet.

3 [S. 29] Neuestens vertreten einzelne Stimmen die Ansicht, Deutschland besitze bereits in der Berliner Humboldt-Akademie eine nationale [S. 30] Volkshochschule. Der Preis für den 10-12stündigen Cyklus beträgt dort im II. Quartal 1896 6-9 Fr., unter den 18 Vortragenden war kein einziger Hochschullehrer. Diese für die Mittelklassen sehr schätzenswerte Anstalt hat demnach bisher weder mit dem Volk noch mit der Hochschule allzuviel Berührungspunkte.

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. In eckiger Klammer steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.)

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