Über Aufklärung

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Author/Authoress:

Bolzano, Bernard

Title: Über Aufklärung
Year: 1849
Source:

Hans Altenhuber/Aladar Pfniß, Bildung - Freiheit - Fortschritt. Gedanken österreichischer Volksbildner, Wien 1965, S. 11-20.

Ich bin der Meinung, daß wir unmöglich besser tun können, als wenn wir nach dem Beispiele, das uns Jesus gegeben, auch jetzt noch die wahre Ursache von allen Übeln, die uns drücken, in der Unwissenheit und in den Vorurteilen, oder mit anderen Worten: im Mangel an Aufklärung suchen. Dies will ich keineswegs so ausgelegt wissen, als ob es meiner Meinung nach gar keine andere Ursache von unseren Leiden gäbe; sondern nur dies will ich sagen, es sei am zweckmäßigsten, wenn wir uns selbst sowohl, als andere Menschen gewöhnen, alles nur immer auf diese eine Ursache zurückzuführen1 (…)

Die Pflicht, aufgeklärter zu werden

Wofern es wahr ist, daß wir uns alle Übel, die wir zu jeglicher Zeit in so gehäuftem Maße erfahren, ja überhaupt alle, die es auf Erden gibt, nur durch Unwissenheit und Irrtum zugezogen haben, so folgt hieraus offenbar für einen jeden Menschen die Pflicht, nach allen Kräften zu streben, auf daß er aufgeklärter werde, d. h. auf daß er seinen Verstand je mehr und mehr entwickle, von jeder Meinung, die unrichtig ist, nach und nach abkomme; den Vorrat seiner Kenntnisse aber durch Einsammlung neuer Begriffe, die nur nicht unnütz sind, je länger je vollzähliger mache. Dies, sage ich, liege einem jeden Menschen ob, als eine unabweisbare Pfllcht und Verbindlichkelt; denn was kann uns sonst all unser Klagen über das Elend helfen, wenn wir die Ursachen derselben nicht wegräumen? Wollen wir etwa, daß uns Gott Hilfe schaffe wider die Ordnung der Natur, daß er uns bessere Zeiten gebe, während wir selbst nicht durch Ausbildung unseres Verstandes dafür sorgen wollen, daß wir sie besser zu benützen vermögen? Wollen wir, daß er durch stete, gewaltsame Unterbrechung des natürlichen Laufes der Dinge die üblen Folgen unserer Torheiten aufhebe? Nein, - wäre dies auch seiner Allmacht möglich, so würde es doch seine Weisheit verbieten; er muß vielmehr durch das gehäufte und sich immer mehr an [S. 11] häufende Maß des Elends, das wir uns selbst bereiten, uns zur Besinnung bringen und den Entschluß in uns zu erwecken suchen, endlich die wahre Ursache all dieses Elends hinwegzuräumen. Oh, daß wir dies einmal täten, daß wir einmal unser Elend groß genug fänden, um den so deutlich in ihm verkündeten Ruf Gottes anzunehmen; daß wir doch weiser werden möchten! Dieser Ruf Gottes ergeht an jeden einzelnen von uns; jeder einzelne kann dadurch, daß er sich selbst aufklärt, die Menge der Torheiten auf Erden und dadurch auch die Menge der menschlichen Leiden vermindern2 (...)

Unwissenheit, die Mutter aller Übel

Und eben deshalb, meine Freunde, ist es höchst notwendig, daß wir die Wahrheit, die wir neulich kennengelernt haben, nicht für uns selbst behalten, sondern, soviel wir immer vermögen, unter den Menschen zu verbreiten suchen. Betrachten Sie dies gleich als die dritte Pflicht*, die uns die Einsicht in diese Wahrheit auflegt. - Wenn wir es nämlich erst selbst eingesehen haben, daß nur Unwissenheit und Irrtum die letzte Ursache von allem Übel ist, so ist dies keineswegs eine von jenen Wahrheiten, die wir verschweigen dürfen, die es nicht nötig haben, daß wir sie weiter ausbreiten, sondern im Gegenteil, wenn es von irgendeiner Wahrheit gilt, daß wir, wie der Erlöser sich ausdrückt, sie von den Dächern herab verkündigen sollen, so ist es diese: alles, was lebt, soll wissen, daß nicht Gott selbst, der Heilige und Allgütige, schuld ist an unseren Übeln, sondern daß nur wir selbst es sind; - alles, was lebt, soll wissen, daß diese Übel nicht in einer Einrichtung gegründet sind, die an sich notwendig und unabänderlich ist, sondern in etwas, das zufällig ist, das sich vermeiden läßt, das auch gewiß einmal vermieden werden wird; - alles, was lebt, soll dies erfahren, um sich durch diese Nachricht zu trösten und in der Aussicht auf eine bessere Zukunft die rauhe Gegenwart tragen zu können; - alles, was lebt, soll hören, daß es die Unvernunft, die bloße Unvernunft der Menschen sei, die alle Übel erzeugt hat, und nicht die Ursache der Übel in etwas, das noch viel schlimmer wäre, in ihrer Bosheit suchen; - alles, was lebt, soll wissen, worin die Ursache aller Übel liegt, damit auch alle vor ihr sich in acht nehmen und mit vereinter Kraft sie bekämpfen können. Soviel wir es also nur immer vermögen, meine Freunde, soweit sich [S. 12] nur unsere Stimme erstreckt, so weit und breit müssen wir es zu verkündigen suchen, daß nur Unwissenheit die Mutter von allen Übeln sei. Aber wie werden wir es machen, daß uns die Menschen glauben? Wie werden wir sie überzeugen, daß es auch wahr sei, was wir sagen? Von bloßen Vernunftschlüssen, von bloßen allgemeinen Gründen dürfen wir wenig erwarten. Durch Beispiele, und zwar durch Beispiele, die aus dem Kreise ihrer eigenen Erfahrung hergenommen sind, kann man die Menschen immer am besten überzeugen. Auf die Erfahrung also müssen wir hinweisen, aus ihr müssen wir es anschaulich dartun, wie bei einzelnen Menschen sowohl, als auch bei ganzen Völkerschaften die wahre Ursache von ihrem Unglück immer in einer Torheit nur gelegen sei, in einer Torheit, die bald die nämlichen Menschen, welche das Unglück betraf, bald wohl auch andere begangen hatten. Wir müssen durch vielerlei Beispiele zeigen, wie oft Menschen sich in das größte Unglück gestürzt, bloß weil sie unwissend waren, weil sie die wichtigsten Kenntnisse von der Natur nicht hatten, weil sie die Einrichtung ihres eigenen Körpers und die Bedingungen, auf denen sein Wohlsein beruht, nicht kannten, weil sie nicht wußten, was für Gesetze und Gewohnheiten in ihrem Lande herrschen, welche Verpflichtungen und Rechte ein jeder Bürger habe, und wie er es anfangen müsse, sich zu verteidigen, wenn man in dem Genusse dieser letzteren ihn stört. Wir müssen es dartun aus der Geschichte der Vergangenheit sowohl, als auch aus den Ereignissen, die wir in neuester Zeit erlebt, daß sich der Wohlstand der Völker genau nach ihrer Geistesbildung richte und ihren Einsichten, daß sie um desto glücklicher werden, je größer die Sorgfalt ist, die sie auf Unterricht und Erziehung verwenden, je weiser und verständiger sie werden, daß sie dagegen um desto tiefer sinken, je mehr Unwissenheit und Aberglaube überhand genommen haben. Ich kann nicht glauben, meine Freunde, daß Beweise die wir auf solche Art aus der Erfahrung selbst ableiten, irgend jemand unüberzeugt lassen sollten.

Die Pflicht, andere zu ermuntern

Ist es uns aber erst gelungen, anderen einleuchtend zu machen, worin die eigentlidie Ursache von ihren Leiden liege, so können wir auch erwarten, daß sie den Vorsatz fassen werden, sie zu entfernen; besonders wenn wir ihnen mit unserem eigenen Beispiel vorangehen, wenn der Eifer, mit dem wir nach der Erkenntnis der Wahrbeit streben, nicht nur an sich [S. 13] groß ist, sondern auch für andere Menschen bemerkbar und in die Sinne fallend ist. Ihm diese Eigenschaft zu geben, ist eben die letzte Pflicht, auf die ich heute aufmerksam machen will. Sie müssen, meine Freunde, das Streben nach Weisheit und die vernünftige Wißbegierde, von der Ihr Inneres durchdrungen ist, auch zur Ermunterung für andere sichtbar werden lassen. Denn freilich ist es nur allzu wahr, daß man den Vorsatz, weise zu werden, viel leichter fasse, als zur Ausführung bringe. Es gibt der Schwierigkeiten, die sich der Ausbildung unseres Verstandes und der Erlernung nützlicher Kenntnisse gerade im ersten Anfang entgegenstellen, so viele; der Pfad, der zu dem Tempel der Weisheit führt, ist gerade im Anfange so steil und unerfreulich, daß sich die meisten Menschen gleich nach den ersten Schritten, die sie auf ihm versucht, ermüdet und abgeschreckt fühlen und wieder umkehren. Wie notwendig ist es also, daß man den Anfänger auf diesem Pfade ermuntere, daß man ihn bemerken lasse, er wandere nicht allein, es wären auch andere da, die mit denselben Schwierigkeiten wie er zu kämpfen gehabt, und auch jetzt noch kämpfen, aber sich keineswegs durch sie abschrecken lassen! Wie notwendig ist es, daß alle, die sich als Wanderer auf diesem Pfade erblicken und nur nicht allzu weit voneinander abstehen, sich in Verbindungen begeben und durch Vereinigung der Kräfte die Überwindung jeder Schwierigkeit einander wechselseitig erleichtern! Wie notwendig ist dieses besonders dann, wenn man Entdeckungen im Gebiete der Wissenschaften, vollends in jener machen will, welche die schwerste aus allen, welche die einzige ist, in der es dem menschlichen Verstande noch bis auf den heutigen Tag nicht gelungen ist, nur einen sicheren Schritt zu tun! Oh, wie viel glücklicher wäre man gewiß auch selbst in dieser Wissenschaft gewesen, wenn man es nicht verschmäht hätte, in traulicher Gemeinschaft zu arbeiten! Aber so weigert man sich, andere zu Mitarbeitern zu gebrauchen, weil man den Ruhm haben will, alles allein erfunden zu haben! - so hält man andere von sich entfernt, weil man nicht will, daß sie die Grenze, die unser Wissen hat, bemerken; - so schämt man sich, je einen anderen um seine Meinung zu befragen, weil man den Schein haben will, daß man die Wahrheit nicht erst suche, sondern bereits in ihrem vollsten Besitze sei. Welch eine Torheit, und doppelt unverantwortlich bei Männern, die so viele Ansprüche auf Bildung und Weisheit machen!

Der echte Freund der Weisheit ist immer sehr bescheiden; er kennt und gesteht die Grenzen seines Wissens gern vor jedermann ein; er verhehlt niemandem, daß er noch vieles nicht wisse und vieles andere nur mit Wahrscheinlichkeit vermute. Überall wird seine Wißbegierde sichtbar, überall [S. 14] sucht er zu lernen, und schämt sich nicht, auch an den Unwissendsten der Menschen Fragen zu stellen, kann er nur irgend in einem Stücke Belehrung von ihm hoffen. Gerade durch dieses Betragen gibt er den augenscheinlichsten Beweis, daß die Erlernung nützlicher Kenntnisse ihm über alles gehe; gerade durch dieses Betragen erzeugt er in einem jeden, der mit ihm umgeht, die Lust, ihm dieses nachzutun; gerade durch ein Benehmen dieser Art wird der Schwächste ermuntert und faßt den Mut, gleichfalls ein Weiser zu werden. Diesem Benehmen, meine Freunde, müsse auch das Ihrige gleichen, und dies zwar nicht nur in den jetzigen Jahren, wo es ganz unverzeihlich wäre, wenn Sie des Lernens und Fragens sich schämen wollten, sondern auch durch Ihr ganzes künftiges Leben müsse Sie nie verlassen der Geist der Wißbegierde und der Bescheidenheit; Sie müssen immer lernen wollen, um immer auch anderen zum Lernen Lust zu machen. So werden Sie nicht nur die Weisheit anderer befördern, sondern auch Ihrer eigenen die Vollendung geben.

Denn nur derjenige, der immer lernt, der lernt auch aus; er lernt nämlich nur so viel, als eben Menschen hier auf Erden lernen können, und kommt auf diese Art ganz vorbereitet in jenen besseren Gegenden an, dahin ihn der Vater ruft, damit er das Weitere lerne. Amen3 (…)

Die Pflicht, mitteilend zu sein

Lassen Sie mich nun zu diesen Forderungen gleich eine fünfte hinzufügen, denn es ist noch nicht alles, was Sie vermögen, geschehen, wenn Sie nur bloß durch Worte und Beispiele andere zur Weisheit aufmuntern. Sie haben sich bereits selbst verschiedene Einsichten verschafft, Begriffe kennengelernt, die noch sehr wenigen Menschen bekannt sind; Sie werden auch künftig noch, wie ich voraussetzen muß, fortfahren, Ihren Geist mit nützlichen Kenntnissen zu bereichern. Ihre Pflicht ist es, in diesen mitteilend zu sein, bei jeder Gelegenheit gern und mit Liebe das, was Sie wissen, auch anderen beizubringen. Wie viele Menschen gibt es, die einen recht schönen Vorrat nützlicher Kenntnisse besitzen, von denen jeder, der mit ihnen Umgang pflegt, täglich recht vieles Neue und recht Wissenswürdige erlernen könnte, wenn sie den Fehler der Verschlossenheit nicht hätten, wenn sie mitteilender wären, wenn sie aus Trägheit die doch so angenehm sich lohnende Mühe, die Lehrer anderer zu sein, nicht scheuten, wenn sie aus Leichtsinn nicht die nutzlosesten Gespräche, die zur bloßen Unterhaltung dienen, lieber anknüpften als eine ernste und für jeden [S. 15] lehrreiche Unterredung. Nicht also wünschte ich Sie, meine Freunde, jetzt und künftig beschaffen; mitteilend sollen Sie sein in jeder Art Kenntnissen, um die Sie reicher als andere sind, und die für andere von einem Nutzen sein können. Nie sollen Sie sich die Mühe verdrießen lassen, auf jede Frage, die Ihnen eine vernünftige Wißbegierde vorgelegt hat, eine so viel es in Ihren Kräften steht, genügende Antwort zu geben. Nicht einmal warten sollen Sie immer, bis man Sie fragt, sondern demjenigen, der nicht zu fragen wagt oder der nicht einmal weiß, wie und worauf er fragen soll, müssen Sie Mut zum Fragen machen und dazu Stoff und Anleitung geben. Selbst wer zu träge ist, um eine Frage aufzuwerfen, oder aus falscher Schamhaftigkeit nicht an den Tag legen will, daß er dies oder jenes noch nicht wisse, selbst dieser darf nicht von Ihnen unbelehrt bleiben. Unangesprochen, und auf eine Art, die seine Ehrliebe am allerwenigsten verletzt, auf eine Art, bei der es womöglich nicht einmal den Anschein hat, als ob Sie ihn belehrten, bringen Sie ihm die Kenntnis, die ihm zu mangeln scheint, bei. Wer immer in diesem Geiste handelt, wer jedes Gespräch mit anderen, wo er nicht selbst belehrt wurde oder nicht zur Belehrung eines anderen beitrug, für einen Zeitverlust hält, der wird gewiß vom Herzen gram sein jener allzu ausgebreiteten Sitte, zufolge der wir oft stundenlang selbst in Gesellschaften, die auf Bildung Anspruch machen wollen, nicht ein vernünftiges Wort, nicht eine lehrreiche Bemerkung anbringen, sondern einander nur mit den zwecklosesten Nachrichten darüber, was dieser oder jener tat, unterhalten. Oh, wieviel Zeit geht uns durch diese üble Sitte ungenützt verloren! Um wieviel reicher an Kenntnissen aller Art, um wieviel weiser könnten die meisten Menschen sein, wenn sie die Zeit, die sie derlei nutzlosen Gesprächen widmen, zweckmäßiger anwenden wollten, ohne daß sie in ihrem Vergnügen hierdurch nur im geringsten dürften beeinträchtigt werden! Denn gibt es nicht tausenderlei Dinge, die man gesprächsweise und ohne beschwerliche Anstrengung gleichsam im Spiele lernen kann? Wie vieles Lehrreiche vermag ein weiser Mann in bloße Tischreden zu legen? Sollte es denn nicht einem jeden vernünftigen Menschen ungleich mehr Freude gewähren, von etwas Nützlichem zu sprechen, als von Dingen, die weder für ihn noch für andere von einer Anwendung sind? Sollte ein Gespräch aufhören unterhaltend zu sein, sobald es belehrend wird? Gewiß, das Gegenteil muß bei jedem stattfinden, dessen Geschmack nicht ganz verdorben und verkehrt ist. Und eben deshalb, meine Freunde, wirken Sie, so viel Sie nur immer vermögen, darauf hin, daß es allmählich abkomme von jener zweckwidrigen Sitte, daß sich der Ton, in dem wir uns in unseren Gesellschaften unterhalten, allmählich veredle, [S. 16] daß wir durch unsere Gespräche, nicht wie es zu geschehen pflegt, in unseren Vorurteilen einander nur bestärken, sondern vielmehr einander aufklären, und den Lobspruch wahrhaft geistreicher Gesellschaften zu verdienen streben. Sooft es nur angehen will, leiten Sie das Gespräch, das einen gleichgültigen Inhalt hat, auf einen lehrreichen Gegenstand hin, und wird dieser auch nicht erschöpfend abgehandelt, genug, wenn auch nur ein guter Gedanke in jemandem angeregt worden ist.

Das Buch als Bildungsmittel

Doch wer die Kunst des Lesens versteht, den kann man ja nicht bloß mündlich, sondern auch durch Schriften und Bücher unterrichten. Dies leitet mich auf die sechste Pflicht, deren Beobachtung vielleicht in keinem Lande so dringend notwendig ist, wie in dem unseren. Ich meine die Pflicht, Bücher, die man als Eigentum besitzt, recht vielen anderen Menschen, für die sie lehrreich sein können, zum Gebrauche mitzuteilen. Denn wenn von irgendeiner Erfindung gesagt werden kann, daß sie das Fortschreiten des menschlichen Geschlechtes verbürge, so ist es die Erfindung der Schrift und die Vervollkommnung derselben durch die Erfindung des Druckes. Wie jener farbige Bogen am Himmel dem zweiten Stammvater des menschlichen Geschlechtes eine heilige Bürgschaft war, daß der allgütige Gott seine Nachkommen durch keine zweite Flut Je wieder ausrotten wolle, so können wir auch, seit uns Gott schreiben und Geschriebenes drucken gelehrt hatte, mit aller Zuversicht hoffen, daß es der Macht der Hölle niemals gelingen werde, eine allgemeine Finsternis auf Erden auszubreiten. Nur müssen wir freilich auch von dieser unschätzbaren Erfindung soviel Gebrauch machen, als es die Feinde des Guten erlauben. Aber wie wenig geschieht dies in unserem Vaterlande! Wo ist ein Land in Europa - ich nehme die östlichen aus -, in welchem weniger gelesen wird als in dem unsrigen? Gibt es in irgendeinem der Staaten, die westlich und nördlich von uns liegen, der Bücher so wenige wie hier? Und wenn nur diese wenigen fleißig gelesen werden könnten! Aber so glaubt man allgemein, ein Buch sei einer Ware gleich, die man für Geld erstehen und sich so eigen machen kann, daß niemand anderer einen Anspruch mehr auf den Gebrauch derselben hat. Wer also Reichtümer hat, und sei es nun, weil er selbst gerne liest oder aus bloßer Eitelkeit eine beträchtliche Sammlung von Büchern sich wünscht, der bringt wohl freilich der Bücher viele an sich; aber es fällt ihm nichts weniger ein, als daß er verpflichtet wäre, den Gebrauch der [S. 17] selben auch anderen zu gestatten. Und doch ist nichts gewisser als dies, wenn man die Sache nur mit unbefangenem Gemüte überlegt. Denn ein Buch ist doch kein Gegenstand, der durch den Gebrauch verzehrt wird; dasselbe Buch, aus dem wir jetzt uns unterrichtet haben, kann noch zehn andern Belehrung gewähren, wenn es nur ihren Händen anvertraut wird. Entziehen wir es ihnen, indem wir es in unserem Bücherschrank versperren, so mögen wir uns nur nicht rühmen, Freunde der Weisheit zu sein, da wir mit größerem Rechte ihre Verhinderer heißen. Denn eben dadurch, daß wir so viele brauchbare Bücher, so viele Hilfsmittel der Weisheit käuflich an uns bringen, entziehen wir sie anderen und sind Ursache daran, daß sie nicht lernen, was sie gelernt haben würden, wenn diese Bücher in ihre oder in die Hände eines Freigebigeren gekommen wären. Je kleiner die Anzahl der Bücher im ganzen Lande ist, je teurer sie jetzt zu stehen kommen, je weniger Menschen es gibt, die bei dem allgemeinen Geldmangel imstande sind, sich Bücher selbst zu kaufen, desto sträflicher ist jeder, der Bücher besitzt und sie anderen nicht mitteilen will. Und wenn wir jeden, der zur Zeit einer Hungersnot Getreide aufhäufen kann in seinem Kornboden, mit allem Rechte verfluchen, wird nicht auch derjenige des strengsten Tadels wert sein, der dem Verstande seiner Mitbürger die Nahrung, die ihm so nötig wie dem Leibe das Brot ist, entzieht, und zwar nur darum entzieht, weil er die kleine Mühe scheut, die das Hervorsuchen eines Buclies und das Anmerken dessen, dem es geliehen wird, kostet? Nein, meine Freunde, dies müsse man Ihnen nie vorwerfen können! Sie müsse selbst die Gefahr einer Beschädigung oder eines Verlustes nicht abhalten, mit Ihrem kleinen oder großen Büchervorrate jedem, der davon Gebrauch machen will, zu Diensten zu sein. Sie müssen den Grundsatz annehmen, daß jedes gute Buch ein Heiligtum sei, welches der Menschheit und nicht Ihnen angehöre, durch dessen Ankauf Sie nur die Verbindlichkeit übernommen haben, dem Buche die möglichst größte Anzahl der Leser zu verschaffen, und so Veranlassung zu geben, daß es der Früchte so viele erzeuge, als es durch seinen inneren Wert vermag4(...)

Die Ausbildung der Urteilskraft

Doch es ist nicht zu vergessen, daß selbst die heilsamste Wahrheit von der Gefahr eines Mißbrauches und einer falschen Anwendung nicht frei sei, wenn man zu Menschen spricht, deren Vernunft noch nicht die gehörige Ausbildung erlangt hat. Dies leitet mich denn auf die letzte und wichtigste Regel, die jeder beobachten muß, dem es um eine wahre Aufklärung zu [S. 18] tun ist. Viel mehr, als um die Verbreitung nützlicher Wahrheiten selbst, muß er sich bemühen, die Urteilskraft der Menschen durch Übung auszubilden. Allgemein tut man gerade das Gegenteil. Die Ausbildung des Verstandes wird bei dem größten Teile der Menschen beinahe ganz vernachlässigt, und man glaubt schon alles, was sich für ihre Aufklärung tun läßt, geleistet zu haben, wenn man nur jene Wahrheiten, die man durch eigenes Nachdenken gefunden und für gemeinnützig hält, ihnen als Sätze, die sie glauben sollen, vorträgt. Welch ein verkehrtes Benehmen! Was können Wahrheiten nützen, die man auf diese Art mehr nur dem Gedächtnisse als dem Verstande eingeprägt hat, die nicht begriffen und eingesehen worden sind, sondern nur auf das Zeugnis eines anderen angenommen wurden? Kann eine Wahrheit fruchten, wenn man sie nicht versteht, nicht überzeugt von ihr ist, nicht sie anzuwenden weiß, nicht zu beurteilen vermag, was aus ihr folgt oder nicht? Wie will man dies aber vermögen, wenn man die Kräfte des Geistes nicht erst geübt und durch diese Übung ihnen eine gewisse Fertigkeit verschafft hat? Oh, es ist nicht zu wundern, wenn eine so verkehrte Art, die Menschen aufzuklären, oft eine Wirkung erzeugt, die der beabsichtigten gerade entgegengesetzt ist!

Es ist nicht zu wundern, wenn uns die Menschen mißverstehen und aus unseren Lehren folgern, was in denselben nicht liegt und was wir nimmermehr aus ihnen gefolgert wissen wollen. Es ist begreiflich, wenn solch ein Unterricht statt Nutzen zu stiften, nur Unheil anrichtet. Fangen wir also die Sache besser an, meine Freunde, arbeiten wir bei allen denjenigen Menschen, auf die wir einen Einfluß entweder schon jetzt haben oder erst in der Zukunft erhalten, vornehmlich darauf hin, daß ihr Verstand ausgebildet werde; erwecken wir sie zuvörderst aus ihrer todesähnlichen Gedankenlosigkeit; ermuntern wir sie, auf alles aufzumerken und ihren Geist, so lange es möglich ist, in einem Zustande des deutlichen Bewußtseins zu erhalten; leiten wir sie, so gut es sich schon tun läßt, an, bestimmte Begriffe zu fassen, diese in Urteile zu verbinden, aus diesen Schlüsse abzuleiten; üben wir sie, auch selbst bei einer längeren Reihe von Schlüssen, die Aufmerksamkeit nicht zu verlieren; zeigen wir ihnen an vielen Beispielen, wie sie Behauptungen, welche einander ähnlich sind, doch unterscheiden sollen; wie sie dasjenige, was beinahe auf dasselbe hinausläuft, nicht für ganz einerlei mit diesem halten sollen; wie endlich Trugschlüsse, wenn sie auch noch so täuschend wären, erkannt und aufgedeckt werden. Haben wir dieses bewirkt, meine Freunde, dann haben wir alles gewonnen. Die Menschen, deren Verstand gehörig entwickelt ist, vermögen nicht nur jede Wahrheit, die sie von anderen hören, richtig zu fassen und vernünftig [S. 19] anzuwenden; sondern, was noch unendlich mehr wert ist, sie besitzen die Schlüssel, durch die sie sich das Reich der Wahrheit selbst aufschließen können. Sie brauchen nicht erst alles von anderen zu hören; sie können selbst ausgehen, um nützliche Wahrheiten zu suchen, Und was sie finden, was sie durch eigenes Nachdenken finden, muß es sie nicht umso inniger freuen, muß es nicht eine viel festere Überzeugung gewinnen? Wird es nicht umso williger und umso eifriger befolgt und angewendet werden? So ist es, meine Freunde; erst wenn die Urteilskraft der Menschen gehörig gebildet sein wird, wird sich die Wahrheit recht gedeihlich zeigen, und eine segensreiche Aufklärung wird sich auf Erden ausbreiten; der Baum, durch dessen Früchte das erste Menschenpaar sich so unglücklich gemacht, heißt der Baum der Erkenntnis, nicht, um uns alle Erkenntnis als etwas Gefährliches darzustellen, sondern um anzuzeigen, wie gefährlich Kenntnis ist, wenn ein so ungeübter Verstand, wie es der der ersten Menschen war, sie findet. Wächst unsere Kraft zu erkennen, dann mögen und sollen immerhin unsere Erkenntnisse wachsen. Sorgen wir also nur für das Erstere, und zwar bei uns sowohl als auch bei anderen Menschen, so wird sich das Zweite schon von selbst einfinden und in dem Maße einfinden, als wir es vertragen können. Es wird nicht ferner heißen: Siehe, Dein Wissen hat Dich unglücklich gemacht, sondern vielmehr dann wird und muß an uns in Erfüllung gehen, was das Wort Gottes spricht: Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird Euch frei machen*. Amen5 (...)

Anmerkungen:

1 Aus: "Dr. Bernard Bolzanos Erbauungsreden an die akademische Jugend", Prag 1849, Bd. 1, S. 4 (Rede vom 2. Sonntag nach Ostern des Jahres 1817: "Mangel an Aufklärung ist als die wahre Ursache der Übel anzusehen, die unser Vaterland bedrücken".)

2 Ebenda, S. 11. (Rede vom 3. Sonntag nach Ostern des Jahres 1817: "Einige sehr wichtige Folgerungen und Pflichten, die sich für uns aus der Überzeugung ergeben, daß Mangel an Aufklärung die Ursache der Übel sei, die unser Vaterland bedrücken".)

3 Ebenda, S. 14-17. (Rede vorn 3. Sonntag nach Ostern des Jahres 1817.)

4 Ebenda, S. 20-23. (Rede vom 4. Sonntag nach Ostern des Jahres 1817; Thema wie bei der Rede vom 3. Sonntag nach Ostern.)

5 Ebenda, S. 33-35. (Rede vom 5. Sonntag nach Ostern des Jahres 1817: "Von den Fehlern, die man bei der Ausbreitung der Aufklärung zu begehen pflegt, und von der Art, ihnen auszuweichen".)

*S. 12: Als zweite Pflicht nannte Bolzano: “Nicht die Weisheit anderer Menschen als einen Abbruch zu betrachten, der einem selbst geschieht.”

*S. 20: Joh. 8, 32.

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. In eckiger Klammer steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.)

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