Theodor W. Adorno und die Volksbildung oder: Laienbildung versus organisierte Banausie

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Author/Authoress:

Stifter, Christian H.

Title: Theodor W. Adorno und die Volksbildung oder: Laienbildung versus organisierte Banausie
Year: 2005
Source:

Streibel, Robert/Vorzellner Markus (Hrsg.): Adorno hören. Von der Sprache des Denkens (= Edition Volkshochschule), Wien 2005, S. 111-123.

„Im Dunkeln lässt sich's munkeln. Adorno könne man so schwer verstehen, lautet der gängige Hauptvorwurf. Der schreibe so kompliziert und so komisch, weshalb sich seiner eine Heerschar von Adornoverstehern angenommen hat, die ihn als Anleitung zur eigenen Geschwätzigkeit begreifen.“1

Was für eine Zelebrität post mortem: gleich eine ganzes Jahr lang wurde 2003 Theodor W. Adorno zum hundertsten Geburtstag die intellektuelle Reverenz erwiesen. Zahlreich die Zahl der Symposien, der öffentlichen oder halböffentlichen Diskussionsrunden, nahezu unüberschaubar die Zahl der Zeitschriftenartikel und Schriften, der (zumeist spätabendlichen) Hinweise und Erwähnungen in Rundfunk und Fernsehen sowie der Thematisierungen im Internet, die sich aus gegebenem Anlass mit dem Leben, dem Werk, dem Einfluss und der Frage nach der gegenwärtigen Aktualität seines Denkens beschäftigten; dies freilich nicht nur im deutschsprachigen Raum, wobei es in Österreich der Volkshochschule Hietzing und dem Institut für Wissenschaft und Kunst vorbehalten blieb, in Form zweier Symposien an diesen bedeutenden Philosophen, Soziologen und Musiktheoretiker des 20. Jahrhunderts erinnert zu haben.2

Fast konnte man im vergangenen Jahr den Eindruck gewinnen, Adorno wäre, als eine der letzten großintellektuellen Ikonen deutschen Geistes und deutscher Gelehrsamkeit, nunmehr selbst vollständig von der von ihm präzise analysierten „Kulturindustrie“ erfasst und der kommerziellen Vermarktung überantwortet. Freilich nur fast, denn so groß die mediale Aufmerksamkeit für den vor vierunddreißig Jahren verstorbenen Philosophen auch war, zur Lektüre seiner Werke vordringen werden, trotz nachmals gesteigerter Popularität, wohl auch zukünftig nur wenige, und dies nur zum Teil deshalb, weil die „Anstrengung des Begriffs“ eben Denk-Arbeit bedeutet: In den Regalfächern der meisten [S. 111] großen Buchhandelsketten finden sich seine Werke ebenso zufällig wie die der Philosophen vor und nach ihm: Philosophie ist „out“ – Psychologie und Esoterik ist „in“.

Wie auch immer. Das Spektrum der jubilierenden Auseinandersetzung mit Adorno reichte von veritablen Wiederbelebungsversuchen dialektischer Gesellschaftskritik, über weihevolle Huldigungen bis hin zu sarkastischen Grabgesängen auf den Tod kritischer Theorie als solcher. Inhaltlich wurde dabei so ziemlich alles berührt, was sich im Adornoschen Ideen-Fundus findet, zum Teil garniert und illustriert mit neuem biografischem und anekdotischem Material.

Adornos Bildungstheorie wurde dabei aber bestenfalls kurz angerissen, als handle es sich um einen ganz unwichtigen Nebenstrang seines Denkens, was der bisherigen Rezeptionsgeschichte seines Werks durchaus korrespondiert.3 Dies, obwohl Adorno starken Einfluss auf die antiautoritären Strömungen der Erziehungswissenschaft der Nachkriegsgesellschaft ausübte (z.B. H. J. Heydorn) und sich in seinem gesamten Oeuvre ein gewisser edukativer Zug ausmachen lässt. Für künftige LehrerInnen werden seine kritischen „Tabus über den Lehrberuf“ (1965) jedenfalls nach wie vor in den Pädagogikunterricht als Textlektüre eingeplant, im Bereich philosophisch-soziologischer Erörterungen fand seine Theorie der Halbbildung bislang aber vergleichsweise wenig Beachtung.

Dass nun gerade Adorno, einer der schärfsten Kritiker volkstümlicher Halbbildung und „frisch-fröhliche-unresolved- Verbreitung von Bildung unter den herrschenden Bedingungen“4, als Fürsprecher moderner Erwachsenenbildung auftrat, mag verwundern, lässt sich aber, ebenso wie der allgemeine Stellenwert des Pädagogischen innerhalb seines Denkens, nicht zuletzt auch aus der Erfahrung und der Reflexion des Holocaust heraus verstehen.

So hielt Adorno, entgegen anderen Stimmen, beispielsweise die alliierte Reeducation5, die mentale Umerziehung nach 1945 im Sinne einer gelebten Demokratie, für geradezu elementar und notwendig. An einer Stelle meinte er in diesem Zusammenhang: „Ich gehe so weit, die Entbarbarisierung des Landes für eines der wichtigsten Erziehungsziele zu halten.“6

Der zentrale Einleitungssatz aus seinem „Erziehung zur Mündigkeit“ betitelten Gespräch im Hessischen Rundfunk vom [S. 112] 13. August 1969 gibt das programmatische Ziel der Adornoschen Bildungstheorie klar vor: „Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste der Erziehung. (...) Es war die Barbarei, gegen die alle Erziehung geht.“7

Erziehung zum Widerstand

Im Zusammenhang mit dieser grundlegenden, demokratischen Präventiv-Funktion von Erziehung gegenüber jedwedem Rückfall in die Barbarei unterschied Adorno dabei zwei Formen beziehungsweise Adressaten: zum einen die Kinder- und Jugenderziehung, zum anderen allgemeine, gesellschaftliche Aufklärung, „die ein geistiges, kulturelles und gesellschaftliches Klima schafft, das eine Wiederholung nicht zuläßt.“8 Entscheidend scheint dabei, dass Adorno Erziehung – im Sinne des Kantschen „Sapere aude!“ – „sinnvoll überhaupt erst als kritische Reflexion“9 auffasste, als Vermögen und zugleich Mut, sich mittels seines eigenen Verstandes kritisch gegen den „Verblendungszusammenhang“ gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse sowie gegen „jede Form von falschem Bewußtsein und Verschleierungen der Wirklichkeit“10 zu stellen.

Eine funktionierende, eine verwirklichte, eine tatsächlich gelebte Demokratie konnte sich Adorno – ebenso wie die Proponenten aufklärerischer Volks- beziehungsweise Erwachsenenbildungsarbeit11 – einzig „als Gesellschaft von Mündigen vorstellen.“12

In dem spezifisch gesellschaftskritischen Sinne verstand Adorno, der im allseitigen Bescheidwissen den gereizten und bösen Feind tatsächlicher Bildung sah, unter Bildung allerdings nicht Wissensvermittlung, sondern „Herstellung eines richtigen Bewußsteins.“13 An dieser Stelle ist kurz auf Adornos negative Ontologie, die Philosophie der Negativen Dialektik zu verweisen, die den theoretischen Bezugsrahmen seiner edukativen Überlegungen bildet.

„Identität ist die Urform von Ideologie“14 formulierte Adorno in seinem theoretischen Hauptwerk pointiert gegen Hegel gerichtet, und bezog dies sowohl auf die „instrumentelle Gewaltherrschaft des Begriffs“ über das jeweils zu Begreifende, über das irreduzibel Unaussprechliche, als auch auf den Warencharakter der gesell- [S. 113] schaftlichen Sphäre, die durch den gesellschaftlichen Tausch als gesellschaftliches Modell die Gesamtheit der nichtidentischen Individuen und Leistungen „kommensurabel“ mache. Die durch die Verlockungen der industriellen Warenwirtschaft und die Logik kapitalistischer Ökonomie gleichermaßen erzeugte Verdinglichung, also die grundsätzliche Ausdrückbarkeit von allem durch den Faktor „Geld“, schien ihm gefährlich allumfassend zu sein: „Die Ausbreitung des Prinzips verhält die ganze Welt zum Identischen, zur Totalität“15.

Und gegenüber dieser falschen Totalität entfesselter kapitalistischer Produktion und Konsumption, die jeden Widerspruch sogleich mit neuen Verheißungen zukleistere, innerhalb derer der „Fetischcharakter der Ware“ alles dominiere und sich längst zum gesellschaftlichen „Verblendungszusammenhang“ zusammengezogen habe, gegenüber diesem „falschen Ganzen“ hätte im Verständnis Adornos insbesondere Erziehung eher die „Aufgabe, Widerstand zu kräftigen, als Anpassung zu verstärken.“16

Indem Adorno Mündigkeit als eine „dynamische Kategorie“17 fasste, bedeutete die Herstellung eines richtigen Bewussteins angesichts der kritischen Diagnose der gesellschaftlichen Verhältnisse an vorderster Stelle „Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand“18 , zur „Immunisierung“19 vor allem der Kinder und der Jugend gegen die „sich ausbreitende synthetische Banausenkultur (...) und (...) gegen die reaktionären Gegentendenzen“20. In unvergleichlichem Ton und unerbittlicher Radikalität votierte Adorno hier, ganz auf Seite der Schüler, gegen die reale Schule und der systemisch bedingten „deformation professionelle“21 ihrer Erzieher: „Ich würde eine solche Erziehung des »Madigmachens« außerordentlich advozieren.“22

Den theoretischen Hintergrund für die von Adorno „advozierte“ widerständige Bildung und Erziehung bildete die Kritik spätkapitalistischer Massen(kultur) beziehungsweise die Kritik der die Masse als solche prägend formierenden Macht: die Kulturindustrie. [S. 114]

Kritik der Halbbildung

„Das halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind (...). Unassimilierte Bildungselemente verstärken jene Verdinglichung des Bewußtseins, vor der Bildung bewahren soll.“23

In seinem Aufsatz zur „Theorie der Halbbildung“, der ursprünglich als Vortrag für die Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im Mai 1959 geplant war, beschäftigte sich Adorno eingehend mit den „allerorten bemerkbaren Symptomen des Verfalls von Bildung, auch in der Schicht der Gebildeten selbst“24 sowie mit dem Prozess, wodurch „Halbbildung (...) zur herrschenden Form des gegenwärtigen Bewußtsein wird.“25

Diese Schrift stellt nicht nur eine scharfe Abrechnung mit der Halbbildung als dem „vom Fetischcharakter der Ware ergriffene-unresolved- Geist“26 dar, sondern darüber hinaus auch mit dem traditionellen kleinbürgerlichen Kultur- und Bildungsbegriff sowie der ungebrochenen Verabsolutierung von Kultur angesichts der „über alle Grenzen der politischen Systeme hinweg sich manifestierenden Tendenz zu ihrer Liquidation.“27

In seiner Kritik der Massengesellschaft und der industriellen Nivellierung von Kultur auf geistlose und entseelte Konfektionsware sparte Adorno auch die geläufige Rede von der Demokratisierung von Bildung nicht von der Kritik aus: „Daß Technik und höherer Lebensstandard ohne weiteres der Bildung dadurch zugute kommen, daß alle von Kulturellem erreicht werden, ist pseudodemokratische Verkäuferideologie (...).“28

Mit anderen Worten, und noch um eine Spur schärfer formuliert, konstatierte Adorno im Hinblick auf die um sich greifende Surrogat-Bildung: „Frisch-fröhliche Verbreitung von Bildung unter den herrschenden Bedingungen ist unmittelbar eins mit ihrer Vernichtung.“29

Die beißende Kritik Adornos an „frisch-fröhlicher“ Popularisierung richtete sich hier unter anderem auch gegen die Volksbildung in ihren traditionellen, volkstümlichen Varianten, wobei zu vermuten bleibt, dass er sich vermutlich nie eingehender mit den unterschiedlichen historischen Traditionslinien und Entwicklungsverläufen moderner Volksbildung auseinandergesetzt [S. 115] hat. Es nimmt daher nicht wunder, dass Adorno, dem alles Völkische, das Volksganze betreffende anrüchig erscheinen musste, in seiner Fundamentalkritik der Volksbildung wenig differenzierte:

„Die Besitzenden verfügten über das Bildungsmonopol auch in einer Gesellschaft formal Gleicher; die Entmenschlichung durch den kapitalistischen Produktionsprozeß verweigerte den Arbeitenden alle Voraussetzungen zur Bildung, vorab Muße. Versuche zur pädagogischen Abhilfe mißrieten zur Karikatur. Alle sogenannten Volksbildung – mittlerweile ist man hellhörig genug, das Wort zu umgehen – krankte an dem Wahn, den gesellschaftlich diktierten Ausschluß des Proletariats von der Bildung durch die bloße Bildung revozieren zu können.“30

Wie sich zeigt, schien Adorno Halbbildung als direktes vis a vis echter Bildung geradezu synonym mit Volksbildung zu sein:

„Im Klima der Halbbildung überdauern die wahrhaften verdinglichten Sachgehalte von Bildung auf Kosten ihres Wahrheitsgehaltes und ihrer lebendigen Beziehung zu lebendigen Subjekten. Das etwa entspräche ihrer Definition. Daß heute ihr Name den gleichen antiquierten und arroganten Klang angenommen hat wie Volksbildung, bekundet nicht, daß das Phänomen verschwand, sondern dass eigentlich sein Gegenbegriff, der der Bildung selber, an dem allein es ablesbar würde, nicht mehr gegenwärtig ist.“31

Adornos Bild der (ruralen32) Volksbildung war – im Gegensatz zur (urbanen) Erwachsenenbildung – ganz offenkundig geprägt von der Aversion gegenüber der volkstümlich-nationalen Begriffskomponente „Volk“ des Kompositums, die Adorno, aus nachvollziehbaren Gründen, verdächtig erschien. Daneben hielt er auch die liberal-edukative Versöhnungstheorie der Klassen für bedenklich, da diese den Kampf um die ökonomische und soziale Hegemonie auf die Frage des Zugangs zu Bildung und Wissen zu verkürzen schien. Indes, so bleibt an dieser Stelle hinzuzufügen, waren die Proponenten der neutralen Volksbildung alten Stils freilich keineswegs so naiv gewesen, die Veränderung der sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnisse zu einer alleinigen Frage der Bildung stilisieren zu wollen; in der Demokratisierung von Wissen und Bildung sahen sie allerdings – aus gutem Grund – ein taugliches Instrument zu Befreiung aus geistiger Unterdrückung und Unmündigkeit. [S. 116]

Tatsächlich hatte Adorno, anders als viele andere Intellektuelle, wie zum Beispiel der spätere Mitbegründer und erste Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Carl Grünberg33, weder während der Zeit seines Wien-Aufenthaltes in den Jahren zwischen 1925 und 1926 noch in der unmittelbaren Zeit danach – Adorno emigrierte nach dem Entzug der Lehrbefugnis 1934 über England/Oxford 1938 nach Kalifornien – direkten Kontakt zu Volkshochschulen, zumindest ist nichts derartiges belegt.34

Aus welchen Quellen sich Adornos harsche Kritik der traditionellen Volksbildung auch immer gespeist haben mag, sie verdankte sich – anders als im Fall der Erwachsenenbildung nach 1945 – offenkundig keinen wie immer gearteten persönlichen Erfahrungen.

Ambivalentes Votum für die Erwachsenenbildung

Nach 1949/50, also nach seiner Rückkehr aus dem US-amerikanischen Exil – und aus dieser Zeit stammen sämtliche seiner Ausführungen zu Erziehung, Bildung, Medienkritik – veränderte sich diese Situation insofern, als sich Adorno nun in verschiedenen Kontexten dezidiert mit Erziehung- und Bildungsfragen, dabei auch mit Erwachsenenbildung, auseinandersetzte.

Zentral sind hierbei sicherlich die Gespräche, die Adorno unter anderem mit Hellmut Becker35, dem damaligen Präsidenten des Deutschen Volkshochschulverbandes, im Hessischen Rundfunk führte. Neben Fragen der Schul- und Jugenderziehung, der Medienkritik und Medienerziehung berührten diese Gespräche auch allgemeine Fragen der Erwachsenbildung, der Adorno nun – womöglich unterstützt durch die hohe Intellektualität seines Gesprächspartners Helmut Becker –, mit Aufmerksamkeit und Respekt in der Sache begegnete. Dies, obwohl sich Adorno hier wie auch grundsätzlich, trotz aller Unterstützung demokratischer Bildungsprozesse, eher vorsichtig und zuweilen auch leicht pessimistisch äußerte. Dem aufklärerischen Bildungsenthusiasmus hielt er entgegen: „Die Idee einer Art Harmonie, wie sie noch Humboldt vorgeschwebt hat, zwischen dem gesellschaftlich funktionierenden und dem in sich ausgebildeten Menschen ist nicht mehr zu erreichen.“36 Und Bildung, verstanden als moderne [S. 117] Dienstleistung, die man je nach Interesse bucht, schien sich für Adorno geradezu in ihr krasses Gegenteil zu verkehren: „Bildung läßt sich, dem Spruch aus dem Faust entgegen, überhaupt nicht erwerben; Erwerb und schlechter Besitz wären eins.“37 Anders als im Fall beruflicher Ausbildung, die sich curricular organisieren lässt, gibt es für den „Erwerb“ von Bildung nach Adorno strictu sensu keine Verfahrensrichtlinien:

„Denn Bildung ist eben das, wofür es keine richtigen Bräuche gibt; sie ist zu erwerben nur durch spontane Anstrengung und Interesse, nicht garantiert allein durch Kurse, und wären es auch solche vom Typus des Studium generale.“38

Hinsichtlich seiner bildungstheoretischen Überlegungen sowie seiner scharfen Kritik der Massenkultur fühlte sich Adorno aber zuweilen deutlich missverstanden, so dass er sich beispielsweise anlässlich einer Einladung seitens der Kulturabteilung der Stadt Wien zu den Europa-Gesprächen 1963 veranlasst sah, seinem Referat „Laienkunst – organisierte Banausie?“ eine „declaration of intention“ voranzustellen,39 die jeden Verdacht einer „elitären Apologetik“ oder eines elitären Snobismus ausräumen helfen sollte. Adorno strich bei dieser Gelegenheit heraus, dass seine Kritik der Massenkultur keineswegs die Verherrlichung eines Humanismus alten Stils impliziere, sondern er sich lediglich die Frage stelle, was genau passiere, wenn Kultur innerhalb einer kapitalistischen Kulturindustrie den Massen vermittelt wird; mithin wäre die Kritik der Massenkultur keineswegs als eine der Massen zu verstehen, sondern als Kritik der Kulturindustrie sowie der von ihr produzierten Massengesellschaft. Und hier ging es ihm insbesondere darum, darzulegen, „dass die Massen gerade, indem man sie scheinbar an den sogenannten Kulturgütern heute teilnehmen läßt, um die Gehalte eigentlich betrogen werden, um die es dabei geht.“40 Der Gefahr des Missverstandenwerdens gerade durch Proponenten von Schule und Erwachsenenbildung war sich Adorno aber vollauf bewusst, wenn er meinte: „Zweifel an dem unbedingt aufklärerischen Wert der Popularisierung von Bildung unter den gegenwärtigen Bedingungen setzen dem Verdacht des Reaktionären sich aus.“41

In Kontext des Gesagten scheint nun besonders interessant zu sein, dass Adorno anlässlich des II. Deutschen Volkshochschultages im Oktober 1956, der in Frankfurt am Main stattfand, und auf dem [S. 118] Hellmut Becker als frisch gewählter neuer Präsident des Deutschen Volkshochschulverbandes eine ein große Rede hielt42, einen ausführlichen Bericht für die Hamburger Wochenzeitschrift DIE ZEIT verfasste. „In einer Zeit, in der das überkommene Bildungsideal als Grundlage geistiger Schulung immer fragwürdiger zu werden scheint, erwächst auch für die Volkshochschulbewegung eine nicht zu übersehende Problematik“ meinte die ZEIT-Redaktion und lud daher den „skeptischen Geist“ ein, zu dieser Frage Stellung zu beziehen. In diesem Zeitungsartikel ergriff Adorno in einer Deutlichkeit für die Volkshochschulen beziehungsweise für die Erwachsenenbildung öffentlich Partei, wie er dies an keiner anderen Stelle je wieder getan hat. Adorno eröffnete sein theoretisch inspiriertes, geradezu kämpferisch vorgetragenes Plädoyer für die Erwachsenenbildung – worin sich freilich so gut wie nichts Konkretes über den Deutschen Volkshochschultag findet, hingegen einige Elemente seiner Kritik traditioneller Kultur und Bildung – mit folgender Eingangsfeststellung, die hier ausführlich zitiert zu werden verdient:

„Früher nannte man, was heute Erwachsenenbildung heißt, Volksbildung, und das Wort hatte einen herablassenden Klang, etwa wie die populären Konzerte der großen Sinfonieorchester. Man stellte sich Bildung für die Ungebildeten darunter vor. Diese Einschätzung wurde von der wahrscheinlich damals bereits fragwürdigen Vorstellung eines fest gefügten Bildungsgefüges getragen, dessen Monopol die Höheren Schulen und die Universitäten hüteten. Es galt als vorneherein dem verschlossen, der nicht aus jenen Institutionen kam. Was dann für die Volksbildung übrigblieb, bestand oft aus Gleichgültigem und Peripherem, hatte den Charakter des Tropfens auf den heißen Stein. Das Lückenbüßerische, das der Volksbildung trotz allen guten Willens anhaftete, ihre eigene Qualität, entsprach recht genau der Funktion, die ihr die offiziellen Mächte zubilligten. Zu dem Hochmut der Volksbildung gegenüber, der aus dieser Ära überlebte, ist kein Anlaß mehr. Gerade der akademische Lehrer, der Gelegenheit hat, in Volkshochschulen Vorlesungen zu halten, und dort, ohne Konzessionen zu machen, die lebendigste Teilnahme findet, wird der erste sein zu erkennen, wie muffig und kleinbürgerlich das selbstgerechte Gefühl von Überlegenheit ihr gegenüber ist. Denn die Fragwürdigkeit des traditionellen Bildungs- [S. 119] begriffs, deren schon Nietzsche inneward, liegt heute wirklich allen zutage. Längst existiert keine »substanzielle« Bildung, keine Volkskultur mehr. Die Kulturgüter aber, deren sich die glücklichen Besitzer als Konsumenten erfreuen, sind mittlerweile so gründlich auf den Kulturbetrieb heruntergekommen, daß man niemanden mehr einreden sollte, es werde ihm etwas Gutes damit angetan, daß man ihm die sogenannten geistigen Voraussetzungen zum Mitmachen verschafft.“43

Die hier eingenommene Position pro Erwachsenenbildung, der Adorno angesichts der Krise des alten Humboldtschen Bildungsidee sowie der Krise der Universität als humanistischer Bildungsanstalt eine spezifisch gesellschaftskritische Aufgabe zudachte, liest sich stellenweise freilich durchaus ambivalent: zu mächtig schien ihm der Prozess der universalen Verdummung voranzuschreiten.

Dessen ungeachtet sah Adorno gerade in der „aufklärenden Erwachsenenbildung“ einen letzten Lern-Ort, wo „Erziehung zur Kritik, auch der rücksichtlosesten Selbstkritik“ eine Chance zur Umsetzung hätte. Aber hier noch mal Adorno in einem längeren Original-Zitat:

„Das Lebenselement der Universität ist es, die Spannung zwischen geistiger Substanz, Tradition und gesellschaftlicher Anforderung bis zum äußersten auszutragen. Darauf muß die Erwachsenenbildung verzichten. Sie darf sich weder irgendeine Tradition vorgeben noch versuchen, etwas wie Bildungsersatz zu liefern, noch gar Kulturgüter, mit denen es an ihrem eigenen Ort nicht mehr stimmt, verwässert an den Mann zu bringen. Sie kann und soll nicht die klaffenden Lücken ausfüllen, sondern ohne historische und institutionelle Vorbehalte der Situation sich bewußt werden. Mit anderen Worten, ihre Funktion ist die Aufklärung. Der neue Aberglaube, mit dem sie es zu tun hat, ist der an die Unbedingheit und Unabänderlichkeit dessen, was der Fall ist. Dem beugen sich die Menschen, als wären die übermächtigen Verhältnisse nicht selber Menschenwerk. Die Undurchsichtigkeit dieser Verhältnisse, die mehr in der Kompliziertheit der Apparatur als im Wesen besteht, läßt sich aber durchdringen. (...) Vorab wird sie (die Erwachsenenbildung, der Verf.) versuchen müssen, die Menschen zur Einsicht ins Wesentliche der gegenwärtigen Gesellschaft zu bringen, ihnen die realen gesellschaftlichen Machtverhältnisse, Abhängigkeiten und Prozesse zu zeigen, denen sie [S. 120] unterworfen sind. (...) Mit recht viel Erfolg endlich greift heute bereits die Erwachsenenbildung die Aufgabe an, die Restbestände der nationalsozialistischen Ideologie, die im Bewußten und Unbewußten ungezählter einzelner ohne Schuld immer noch fortwesen, Klischees und Vorurteile zu beseitigen. Dabei ist keine andere Weltanschauung, kein anderes System zu predigen. Nicht mit der Gebärde der »Umerziehung«, sondern nur durch denkende gemeinsame Arbeit und Selbstbesinnung läßt das Verhärtete sich lösen.“44

Analog zu seinem radikal-kritischen Ansatz gedanklicher Reflexion als „illusionslos kritische Einsicht in das, was ist“ nahm Adorno offenkundig auch den Verlust herkömmlicher Bildung in Kauf: „Nüchternheit und traditionelle Bildung sind unvereinbar.“45

Freilich ist dies im Sinne seiner negativen Ontologie dialektisch zu verstehen. Das Verhärtete sich lösen helfen, der Dummheit und dem Unverstand durch kritische Reflexion, die keine leichtfertigen Identitätsangebote anzunehmen bereit ist, effektiv entgegenzuwirken, lässt sich ohne Bildung schlechterdings nicht bewerkstelligen:

„Zu visieren wäre ein Zustand, der weder Kultur beschwört, ihren Rest konserviert, noch sie abschafft, sondern der selber hinaus ist über den Gegensatz von Bildung und Unbildung, von Kultur und Natur“46.

So formulierte Adorno angesichts der allumfassenden Segnungen der Kulturindustrie in wunderbar paradoxerweise Weise das anvancierte Bildungs-Credo kritisch-negativer Theorie, das wohl auch für die zeitgenössische Erwachsenenbildung in Anschlag gebracht weden kann, sofern sie sich noch als Aufklärung, und nicht als bloß ideologische Verheißung versteht:

„(...) so ist der Anachronismus an der Zeit: an Bildung festzuhalten, nachdem die Gesellschaft ihr die Basis entzog. Sein hat aber keine andere Möglichkeit des Überlebens als die kritische Selbstreflexion auf die Halbbildung, zu der sie notwendig wurde.“47

Anmerkungen:

1 Christof Meueler, „Mit Haut und Haaren“ – Reflexionen zur Klassentheorie. Zum Hundertsten von Theodor W. Adorno, Beitrag zu einer Podiumsdiskussion.

2 Vgl. dazu Robert Streibel, Lust auf den Luxus des Denkens. Theodor W. Adornos 100. Geburtstag hat auch in Österreich bescheidene Spuren hinterlassen. Bericht über ein Symposium der Volkshochschule Hietzing am 21./22. November 2003. In: Die Österreichische Volkshochschule, 55. Jg., 2004, Nr. 211, S. 21-26.

3 Vgl. S. Fuhrberg, Die Kritik der Halbbildung im Werk Theodor W. Adornos, Staatsexamensarbeit, Univ. Essen 1998.

4 Theodor W. Adorno, Theorie der Halbbildung. In: ders., Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, Frankfurt am Main 1975, S. 83.

5 Theodor W. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit 1959. In: ders., Erziehung zu Mündigkeit, Frankfurt am Main 1970, S. 15.

6 Theodor W. Adorno Adorno, Erziehung nach Auschwitz. In: ders., Erziehung zu Mündigkeit, a.a.O., S. 94.

7 Ebd., S. 88.

8 Ebd., S. 91.

9 Ebd., S. 90.

10 Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, a.a.O., S. 55.

11 So meinte beispielsweise Eduard Leisching (1885-1938) – seines Zeichens Kunsthistoriker, erster Direktor des Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, und neben Ludo Moritz Hartman und Emil Reich Gründervater der Wiener Volkshochschulen – hinsichtlich der weltanschaulichen „Neutralität“ der frühen Volkshochschularbeit, dass man „Angst vor der geistigen Befreiung des Volkes“ hatte, „in der richtigen Annahme, daß die politische ihr auf dem Fuße folgen würde.“ Eduard Leisching, Zur Geschichte des Wiener Volksbildungsvereines 1887-1927, Wien 1927, S. 10.

12 Theodor W. Adorno, Erziehung wozu? In: ders., Erziehung zu Mündigkeit, a.a.O., S. 107.

13 Ebd.

14 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1980, S. 151.

15 Ebd.,S. 149.

16 Adorno, Erziehung wozu?, a.a.O., S. 110.

17 Adorno, Erziehung zur Mündigkeit, a.a.O., S.144.

18 Ebd., S. 145.

19 Ebd.

20 Theodor W. Adorno, Laienkunst – organisierte Banausie? In: Europa-Gespräch 1963. Die Europäische Groß-Stadt. Licht und Irrlicht (Wiener Schriften, hrsg. v. Kulturamt der Stadt Wien), Wien 1964, S. 69.

21 Theodor W. Adorno, Tabus über den Lehrberuf. In: ders., Erziehung zur Mündigkeit, a.a.O., S. 79.

22 Adorno, Erziehung zur Mündigkeit, a.a.O., S. 146.

23 Theodor W. Adorno, Theorie der Halbbildung. In: Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, Frankfurt am Main 1981, S. 84.

24 Ebd., S. 66.

25 Ebd., S. 67.

26 Ebd., S. 81.

27 Ebd., S. 92.

28 Ebd., S. 82.

29 Ebd., S. 83.

30 Ebd., S. 72.

31 Ebd., S. 75f.

32 Zum „Ruralen“ hatte Adorno bekanntermaßen ein deutlich distanziertes Verhältnis: „Keinem Menschen ist es vorzuhalten, daß er vom Lande stammt, aber auch keiner dürfte daraus sich ein Verdienst machen und dabei beharren; wem die Emanzipation von der Provinz mißglückte, der steht zur Bildung exterritorial.“ Zit. nach: Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, a.a.O., S. 43. 33 Vgl. Karl Grünberg, „Erinnerungen” an den Wiener Volksbildungs-Verein -unresolved-. In: Spurensuche, 12. Jg., 2001, Heft 1-4, 96-97. Carl Grünberg (1861-1940), Rechts- und Wirtschaftshistoriker; Agrarökonom. 1886 Promotion in Wien, 1894 Habilitation ebenda. 1909 wurde er ordentlicher Professor der politischen Ökonomie in Wien und gründete 1911 das „Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung“; neben Felix Weil war er Mitbegründer und erster Direktor des Instituts für Sozialforschung (1923-1929) an der Universität Frankfurt. 1940 wurde Grünberg von den Nazis ermordet. Ab Wintersemester 1890/91 hielt Grünberg Vorträge im Wiener Volksbildungsverein -unresolved-.

34 Laut Auskunft des Adorno-Archivs in Frankfurt im September 2003.

35 Prof. Dr. Helmut Becker (1913-1993), Jurist, Bildungs- und Kulturtheoretiker; Sohn des Islamforschers und späteren preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker. Helmut Becker war Honorarprofessor für Soziologie des Bildungswesens an der FU Berlin und übernahm 1963 die Leitung des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin. Von 1956 bis 1974 war Becker, neben einer Vielzahl anderer Funktionen, Präsident des Deutschen Volkshochschulverbandes.

36 Adorno, Erziehung wozu?, a.a.O., S. 118.

37 Adorno, Theorie der Halbbildung, a.a.O., S. 79.

38 Theodor W. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit? In: ders., Erziehung zu Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969. Hrsg. v. Gerd Kadelbach, Frankfurt am Main 1970, S. 40.

39 Immerhin kam der Tagungsorganisator, der damalige Leiter der Wiener Kulturabteilung, Dr. Karl Foltinek, aus der Volkshochschule.

40 Adorno, Laienkunst, a.a.O., S. 57.

41 Adorno, Theorie der Halbbildung, a.a.O., S. 83.

42 Vgl. dazu: Volkshochschule im Westen, 1988, H. 2, S. 76.

43 Theodor W. Adorno, Aufklärung ohne Phrasen. Zum Deutschen Volkshochschultag 1956 – Ersatz für das „Studium Generale?“. In: Die Zeit, Nr. 41, 11. Oktober 1956, S. 4.

44 Ebd.

45 Adorno, Theorie der Halbbildung, a.a.O., S. 92.

46 Ebd., S. 93.

47 Ebd., S. 94.

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