„Sehr geehrter Herr Kollege!“ Albert Einstein und die (Wiener) Volksbildung

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Author/Authoress:

Stifter, Christian H.

Title: „Sehr geehrter Herr Kollege!“ Albert Einstein und die (Wiener) Volksbildung
Year: 2006
Source:

Die Österreichische Volkshochschule, Nr. 220, Juni 2006, S. 2-11.

[ S. 2]
„Die wissenschaftlichen Kenntnisse, die die
Menschen in der Schule erwerben, können eine
gewisse Grundlage bilden, aber der wissenschaftliche
Fortschritt entfaltet sich mit solchem Tempo,
daß man sich nach dem Ende der Schulzeit oder des
Studiums mit immer neuen Entwicklungen vertraut
machen muß. (…) Populärwissenschaftliche Bücher
und Zeitschriftenartikel können dazu beitragen,
einem breiten Publikum neue Erkenntnisse
verständlich zu machen.“
Stephen Hawking: Einsteins Traum.
Expeditionen an die Grenzen der Raumzeit,
Reinbek bei Hamburg 1993, S .43.

Spätestens nachdem die Royal Society im November des Jahres 1919 in einer Sitzung bestätigt hatte, dass nunmehr experimentell nachgewiesen sei, dass Licht in Übereinstimmung mit Einsteins Gravitationsgesetz abgelenkt würde und die Londoner Times nachfolgend über die „Revolution in der Wissenschaft – Neue Theorie des Universums“ berichtete, erlangte der ohnedies bereits berühmte Professor Albert Einstein als Physik-Genie Weltberühmtheit.1

Eine regelrechte Flut an Einladungen aus aller Welt hob den knapp 41-Jährigen, dem, wie er zu seinem großen Bedauern feststellte, in der Folge kaum mehr Zeit für wissenschaftliche Arbeit blieb, auf die öffentliche Bühne, wo er Interviews gab, Vorträge hielt und neben Fachkollegen auch der Prominenz aus Wirtschaft und Politik die Relativitätstheorie verständlich zu machen unternahm.

Nicht zuletzt waren es zunächst auch drängende finanzielle Sorgen gewesen, die Einstein – den der Rummel um seine Person nicht wenig amüsierte – die Rolle eines „Reisenden in Relativität“ (A. Einstein) annehmen ließen, die er bald in unnachahmlich erfolgreicher Weise ausfüllen sollte.

Ohne dies im Entferntesten je gewollt zu haben, verstärkte dabei Einsteins charismatisch-bescheidenes Auftreten im Verein mit der monumentalen Abstraktheit „seiner“ Theorie das öffentliche Interesse an seiner Person, die bald zum „Genie für alle“2 wurde; ein Genie, das allerdings auch zunehmend respektablere Vortragshonorare einnahm.

Unterstützt von seiner Stieftochter Ilse, die ihm als „Sekretärin“ bei der Bewältigung seiner immensen Korrespondenz zur Seite stand, und seinem Leidener Physiker-Kollegen Paul Ehrenfest, der ihm als privater Treuhänder bei der Abrechung der Vortragshonorare half, akzeptierte Einstein aufgrund der rapiden Abwertung der Reichsmark alsbald nur mehr harte ausländische Währung, die er sich direkt nach Holland schicken ließ, wo er seit Oktober 1920 eine Gastprofessur an der Universität Leiden innehatte.

Noch vor der Verleihung des Nobelpreises kam Einstein, der im September 1913 anlässlich der Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte bereits ein erstes Mal in Wien referiert hatte (und zwar über Quantentheorie bzw. Gravitationstheorie)3, im Zuge einer Vortragstournee ein weiteres Mal nach Österreich, wo er unter anderem im Rahmen einer vom Wiener Volksbildungshaus Urania organisierten Veranstaltung im Wiener Konzerthaus einen großen öffentlichen Vortrag hielt.

Anders als beispielsweise im Fall eines projektierten sechswöchigen Vorlesungszyklus an der [ S. 3] Universität Princeton, für die Einstein im Oktober 1920 die unglaubliche Summe von 15.000 Dollar verlangt hatte – rund das Doppelte des Jahresgehaltes eines hochkarätigen US-Gelehrten4 – gab er sich im Fall seines Wiener Urania-Vortrags überaus bescheiden. Für einen vergleichsweise geringen Gegenwert von lediglich 2.500 Reichsmark (zum damaligen Zeitpunkt nur mehr rund 40 US-Dollar!) für Vortrag inklusive Anreise und Verpflegung erklärte sich der wohl berühmteste Physiker seiner Zeit bereit, vor 2.000 Personen – letztlich waren es dann rund 3.000 – seine Theorie in allgemeinverständlicher Form zu erläutern.5

Es trifft zweifellos zu, dass die Einsteinsche Relativitätstheorie aufgrund ihrer revolutionären Sprengkraft als rationale Erklärung der Welt in jenen Jahren insbesondere in reformorientiert-liberalen und sozialdemokratischen Kreisen sowie innerhalb der künstlerischen Avantgarde auf begeisterte Anerkennung stieß, wohingegen von klerikal-konservativer und antisemitischer Seite bald heftige Angriffe gegen ihn gerichtet wurden.6 Aber es war der Humanist Einstein selbst, der der Volksbildung sowie insbesondere der Popularisierung von Wissenschaft und Technik in seinen raren edukativen Überlegungen eine besonders wichtige kulturstiftende Aufgabe und Funktion beimaß. So formulierte er 1919 in einem Schreiben an den Obmann der »Freie(n) Vereinigung für technische Volksbildung« in Wien: „Wissenschaft kann nur dann gesund und fördernd bleiben, wenn ihr Zusammenhang mit der Welt des sinnlichen Erlebens aufrechterhalten wird, wie indirekt dieser Zusammenhang auch sein mag. Die Beschäftigung mit der Technik ist in hohem Maße geeignet, einer Degeneration der Wissenschaft in dem angedeuteten Sinn entgegenzuwirken.“7

Eine Sichtweise, die Einstein noch in hohem Alter in einem Interview gegenüber der New York Times 1952 bekräftigte, indem er sagte:
„Es genügt nicht, den Menschen zu einem Spezialisten zu erziehen. Er wird auf diese Weise lediglich eine Art nützlicher Maschine, nicht aber eine harmonisch entwickelte Persönlichkeit (...). Das wesentlichste Ziel der Erziehung muß es sein, dem Studierenden das Verständnis und lebendige Gefühl für die wirklichen Werte des Lebens nahezubringen und ihn das Erkennen des Schönen und moralisch Guten zu lehren. Eine Erziehung, die diese Aufgabe versäumt, wird (...) Menschen heranbilden, die gut trainierten Hunden gleichen, nicht aber harmonisch entwickelten Persönlichkeiten. (...) Diese wichtigen Dinge werden der jungen Generation einzig und allein durch den persönlichen Kontakt zu denen, die sie lehren, zum Bewußtsein gebracht und nicht – oder zumindest nicht in erster Linie durch Lehrbücher.“8

Schon allein von daher lag es nahe, dass Einstein im Oktober 1920 die Einladung zu einem Vortrag im Rahmen der Wiener Urania freudig annahm. Hinzu kommt, dass Einstein in Wien einige gute persönliche Freunde hatte, bei denen er immer wieder einmal gerne abstieg, wie beispielsweise Hans Thirring oder Felix Ehrenhaft, beide Physiker und als solche auch Vortragende an Wiener Volkshochschulen.

In einem längeren Einladungsbrief hatte ihm der Urania-Vorstand zudem eigens versichert, dass „das sachliche Interesse an Ihrer Lehre hier keineswegs durch die aus Deutschland vernommene Parteiung verwirrt ist. So konnten wir insbesondere bei unserer sommerlichen Vortragsreise nach Linz, Salzburg und Innsbruck, gerade in diesen bekanntlich streng katholischen und dem Antisemitismus zugeneigten Ländern und insbesondere auch bei den dortigen geistigen Führern ein rein sachliches, ganz besonders tiefes Interesse für Ihre Lehre beobachten.“9 Ein Aspekt, der für Einstein, der in jener Zeit bereits mit heftigen Diffamierungsbemühungen von reaktionärer, antisemitischer Seite konfrontiert war, zwar nicht Ausschlag gebend, wohl aber zusätzlich motivierend gewesen sein dürfte. Jedenfalls war seine Reaktion auf diese sowie alle folgende Korrespondenz in einem betont freundlichen Ton gehalten.

Tatsächlich waren es auch Volksbildungseinrichtungen [ S. 4] gewesen – an vorderster Stelle die Wiener Urania – die eine vergleichsweise große Interessentenschar über die Relativitätstheorie informierten und ab 1919 eine Reihe von Einzelvorträgen und Kursen zur Einsteinschen Relativitätstheorie ins Programm gesetzt hatten. In den Jahren bis 1936 wurden an Wiener Volkshochschulen in Summe immerhin 114 Vorträge über die Relativitätstheorie, teils mit Lichtbildern und Filmen unterstützt, abgehalten.10

Den ersten Vortrag hielt eine Physikerin, nämlich Gerda Laski (1893-1928), die bei Einsteins Freund und Fachkollegen Felix Ehrenhaft, dem Ordinarius für Experimentalphysik an der Universität Wien, studiert hatte. Unter den Vortragenden findet sich weiters sein Physiker-Kollege Anton Lampa, der 1910 als Ordinarius an der Deutschen Universität Prag Einsteins Bestellung zum Ordinarius für Theoretische Physik ebendort maßgeblich unterstützt hatte11, und der sich später als Ministerialbeamter im Glöckelschen Unterrichtsamt aktiv der Volksbildung verschrieben hatte; 1927 wurde dieser dann zum Direktor der Urania bestellt.

Weitere prominente Popularisierer in Sachen Relativitätstheorie waren Hans Thirring, Friedrich Waismann oder Edgar Zilsel. Lise Meitner, die zusammen mit Ehrenhafts Frau Olga, geb. Steindler, der ersten Physikabsolventin der Universität Wien 1903, ab 1906 physikalische Praktika an der Volkshochschule Ottakring abhielt, sprach zwar über die Sichtbarmachung von Atomen, jedoch nicht über Relativität.

Ursprünglich war der Einstein-Vortrag seitens [ S. 6] der Urania-Leitung bereits für 19. Oktober beziehungsweise für 6. November 1920 geplant gewesen. Beide Termine konnte Einstein aber aufgrund anderweitiger Vortragsverpflichtungen nicht wahrnehmen. Er sicherte aber einen Vortrag im Dezember oder Jänner zu, „am liebsten in einem nicht allzugroßen Saal, denn meine Stimme ist nicht sehr kräftig“12, wie er dem Urania-Präsidenten Ludwig Koessler in einem Brief mitteilte. In einem nachfolgenden Schreiben präzisierte er, dass der Saal „nicht mehr als 2.000 Personen“13 fassen sollte.

Die Urania, die zuvor zwei bis drei aufeinander folgende Vorträge im eigenen Haus vorgeschlagen hatte, mietete daraufhin den bereits zu Anbeginn ins Auge gefassten Großen Konzerthaussaal für den 13. Jänner 1921 an, und bat Einstein um „allereheste Mitteilung des genauen (möglichst gemeinverständlichen) Titels und Übersendung einer kurzen Inhaltsangabe“14 zwecks Drucklegung in den Urania-Mitteilungen.

Die Inhaltsangabe seines Vortrages wurde bereits vier Tage später in einem Brief an Ludwig Koessler nach Wien geschickt. Die übermittelte Inhaltsübersicht, die auch in den Urania-Mitteilungen unverändert abgedruckt wurde, lautete: „Scheinbarer Konflikt des Lichtausbreitungsgesetzes im leeren Raum mit dem Relativitätsprinzip. Lösung dieses Widerspruchs durch passende Definition der Gleichzeitigkeit. Forschungsmethode und wichtigste Ergebnisse der speziellen Relativitätstheorie. Allgemeines Relativitätsprinzip. Wesensgleichheit zwischen Trägheit und Schwere (Aequivalenzprinzip). Die Gravitationstheorie als Ergebnis der allgemeinen Relativitäts-Theorie. Bisherige Bestätigung.“15

Bereits Ende 1920 kündigten deutsche und österreichische Tageszeitungen die kommenden Vorträge Einsteins in Wien an. Lanciert hatte dies, wie dies Koessler gegenüber Einstein vermutete, offenkundig die Chemisch-Physikalisch Gesellschaft, die Einstein für den 10. und 11. Jänner 1921 zu zwei halb-öffentlichen Vorlesungen, zu denen allerdings nur geladene Gäste Zutritt hatten, eingeladen hatte. Die in den Zeitungsmeldungen kolportierte besondere Ehrung, die „hervorragende Wiener Persönlichkeiten und Verehrer des Gelehrten“ dem weltberühmten Professor bei dieser Gelegenheit in Wien zuteil werden lassen wollten, wurde von Einstein in einem Brief aber sogleich als unerwünscht abgewehrt, da dies „das Interesse der Allgemeinheit auf ihn lenken würde“16.

Die wiederholt vorgebrachte Bitte der Urania-Leitung, zusätzlich zum Konzerthaus ein bis zwei weitere öffentliche Vorträge in der Urania abzuhalten, wurde von seiner Sekretärin Ilse Einstein mit Hinweis auf die „starke Überbelastung mit Arbeit und Verpflichtungen“, die Einstein nötige, „seinen dortigen Auftrag auf wenige Tage zu erstrecken“17, abschlägig beantwortet. Selbst im Dezember, als der Kartenvorverkauf begonnen und infolge des stürmischen Publikumsinteresses alle Plätze in wenigen Tagen verkauft waren – die Leute standen, wie Koessler an Einstein schrieb, „von dem ebenerdigen Schalter in Doppelreihen bis zur Sternwartestiege und auf derselben bis über den dritten Stock hinauf“18 – „wagte“ es die Urania-Leitung aufgrund dieses „Drucks“ dem „hochverehrten Herrn Professor“ die „nochmalige Erwägung der Abhaltung eines weiteren Vortrags zuzumuten“. Allerdings ohne Erfolg, zu dicht gedrängt war mittlerweile dessen [ S. 7] Terminkalender, sodass auch die zugesagte Besichtung der Einrichtungen des Urania-Gebäudes samt Sternwarte und Zentral-Uhrenanlage, die Einstein anfänglich „mit großem Vergnügen“19 zugesagt hatte, nicht zustande kam.

Nicht ohne Ironie meinte der sichtlich gestresste Einstein Ende Dezember 1920 in einem jovial gehaltenen Schreiben an Präsidenten Koessler: „Sehr geehrter Herr Kollege! Leider ist es mir ganz unmöglich, noch weitere Vorträge anzunehmen, da ich für die nächsten zehn Tagen [ sic] ohnedies schon sechs Vorträge übernommen habe. Ich bin überzeugt, dass es in Wien Fachgenossen gibt, die gerne bereit sind, in der Urania über Relativität vorzutragen und die dies ebenso gut verstehen wie ich selber. Das außerordentliche Interesse, das die Wiener meinem Vortrage entgegenzubringen scheinen, erfüllt mich mit großer Freude. Hoffentlich gelingt es mir, den Erwartungen gerecht zu werden.“20

Tatsächlich war das Interesse und auch die Nachfrage derart groß, dass beispielsweise der bekannte Nationalökonom Karl Menger in einem persönlichen Schreiben an Präsident Koessler Ende November 1920 darum bat, seinem Sohn Karl, seines Zeichens Student der Physik und Mathematik an der Universität Wien, „selbstverständlich gegen Bezahlung, einen bescheidenen Platz (zu) reservieren“21.

Nachdem Einstein mitteilen ließ, dass er für Unterkunft und Verpflegung selbst sorgen werde, „da er bei Prof. Ehrenhaft wohnen wird“, und geklärt war, dass er für den Vortrag weder Diagramme noch Lichtbilder benötige werde, jedoch eine Tafel für Aufzeichnungen, bemühte sich die Urania für den „weltberühmten Gelehrten“, immer noch in der Hoffnung auf weitere Einstein-Vorträge, bei der Wiener Polizei-Direktion um die „geneigte dringliche Behandlung“ der Erteilungen der Einreisegenehmigung für 6. bis 31. Januar 1921, da „für diese Vorträge (neben denen in der Chemisch-Physikalischen Gesellschaft) [ ...] in den weitesten Kreisen in unserer Stadt das allergrößte Interesse“22 bestehe.
Als Honorar für seinen Vortrag hatte Einstein selbst lediglich 2.500 Mark vorgeschlagen, die ihm die Urania „mit Rücksicht auf die Kostspieligkeit der Reise“23 bereits im Dezember 1920 über die »Depositenkasse und Wechselstube Leopoldstadt des Wiener Bank-Vereins« – „zu möglichst billigem Preise“ – an die Berliner Adresse überwies.

[ S. 8] Angekündigt wurde der Vortrag, nachdem Einstein die gewünschte Inhaltsangabe beigesteuert hatte, in den Urania-Mitteilungen mit folgenden Zeilen, in denen die geradezu demiurgische Qualität des Referenten hervorgehoben wurde: „Was Ptolomäus für anderthalb Jahrtausende, was Kopernikus, Galilei und Newton für die letzen Jahrhunderte geschaffen, ein Weltbild des Naturgeschehens, hat heute Albert Einstein uns abschließend neu gegeben, alle Zweige der modernen Wissenschaft erfassend, die imponierende Möglichkeit einer universellen Weltanschauung aus einem Guß. Es wird uns vergönnt sein, den Schöpfer der »Relativitätstheorie« selbst sprechen zu hören.“24

Nach Wien kam Einstein im Übrigen direkt von Prag, wo die dortige »Urania«, die in einem „schwesterlichen“ Naheverhältnis zur Wiener Urania stand, unmittelbar zuvor zwei Vortragsabende in einem „gefährlich überfüllten“ Saal organisiert hatte. Wie Philipp Frank berichtet, war das dortige Publikum aber „viel zu aufgeregt, um sich überhaupt zu bemühen, dem Vortrag zu folgen. Man wollte nicht verstehen, sondern einem aufregenden Ereignis beiwohnen.“25

Der Wiener Urania-Leitung war jedenfalls von Beginn an klar gewesen, dass der Vortrag Einsteins ein gesellschaftliches Großereignis ersten Ranges darstellen würde, mit dem sich zudem respektable Einnahmen erzielen ließen, die auch ausdrücklich dem Baufonds für das geplante (letztlich aber unrealisiert gebliebene) Mariahilfer-Zweighaus zufließen sollten. Dass man die Chance zu einer publikumswirksamen Großinszenierung des gerühmten Wissenschafters keineswegs ungenützt lassen wollte, dokumentiert sich auch hinsichtlich der seitens der Urania-Leitung geplanten Choreografie der Veranstaltung.

Die insgesamt 15 „Prosceniums-Ehrenplätze“ sowie weitere 23 Logen-Podiumssitze („Ehrensitze für die bezeichneten Dignitare“) wurden rund um den in der Mitte am Rednerpult stehenden Einstein angeordnet. Die Einladung für die „Prosceniums-Ehrenplätze“ direkt rund um das Vortragspult nahmen unter anderen Bundespräsident Dr. Michael Hainisch, Vizekanzler Dr. Walter Breisky, der deutsche Konsul Dr. Franz Vivenot, Bürgermeister Jakob Reumann, Frau Koessler, Sektionschef Dr. Wilhelm Exner (der auch Vorstandsmitglied der Urania war), zwei Vertreter der Reparations-Kommission (einer davon war Joseph Dunn), Fürst Otto zu Windisch-Graetz sowie zwei Vertreter des Amerikanischen Roten Kreuzes an. Polizeipräsident Johann Schober teilte mit, dass er „leider (...) infolge dienstlicher Inanspruchnahme verhindert“26 wäre, delegierte aber Regierungsrat Dr. Brandl als Vertreter, und Bundeskanzler Dr. Michael Mayr entsandte Sektionschef Dr. Uebelhör als persönlichen Vertreter, da es ihm selbst aufgrund „anderweitiger dienstlicher Inanspruchnahme unmöglich“ wäre, dem Vortrag beizuwohnen; ebenfalls dienstlich verhindert war der Präsident der Nationalversammlung, Dr. Richard Weiskirchner, der sich, wie alle anderen angeführten Personen, jedoch persönlich bei Koessler dafür entschuldigte.

Die Logen-Podiumssitze, die als „Ehrensitze für bezeichnete Dignatare“ vergeben wurden, nahmen folgende Personen ein: Universitätsrektor Alfons Dopsch27, Prorektor Ernst Schwind, Rektor und Prorektor der Technischen Hochschule, der Hochschule für Bodenkultur, der Tierärztlichen Hochschule, Dekan und Prodekan der Philosophischen Fakultät, der Evangelischen Theologischen Fakultät, der Hochschule für Welthandel; weiters der Vorstand des Wiener Volksbildungsvereins, des Apolloneums, der Volkslesehalle, des Ausschusses für Volkstümliche Universitätsvorträge und – als Vertreter des verhinderten Obmanns der Volkshochschule »Volksheim« Ottakring, Univ.-Prof. Friedrich Becke, der als Generalsekretär der Akademie der Wissenschaft bei einer Sitzung unabkömmlich war – ein namentlich nicht erwähnter Vertreter; zuletzt nahmen noch Sektionschef Dr. Franz Heinz vom Innenministerium, Univ.-Prof. Anton Lampa als Vertreter des Volksbildungsamtes im Unterrichtsministerium, Ministerialrat Dr. Viktor Prüger [ S. 9] sowie Oberbaurat Ing. Adolf Witt ihre Ehrenplätze ein; letzterer tauschte dann seinen Platz aber auf direkte persönliche Bitte von Albert Einstein mit Felix Ehrenhaft.28

In einem Rundschreiben teilte man allen Ehrenkarten-Teilnehmern zudem mit, dass beabsichtigt sei, „dem hervorragenden Gelehrten eine besondere Ehrung in der Art zu widmen, dass derselbe vor seinem Vortrage von berufenen Vertretern der Wissenschaft und der Volksbildung begrüßt und zum Rednerpult geleitet werde, in dessen unmittelbarer Umgebung, auf dem Podium, die für die Herren Vertreter der Wissenschaft und der Volksbildung bestimmten Ehrenplätze aufgestellt sind.“29

Dies stieß allerdings auf klare Ablehnung innerhalb der Wiener Scientific Community.

So schrieb beispielsweise Richard Wettstein, seines Zeichens Professor für Geografie an der Universität Wien und aktiver Mitstreiter der Volkshochschulbewegung der ersten Stunde, an Urania-Präsident Koessler: „Mit bestem Danke bestätige ich den Empfang ihrer freundlichen Einladung zu dem Vortrage Einsteins, der ich gerne Folge leisten werde. Abgesehen von dem sachlichen Interesse will ich dazu beitragen, das Interesse zu bekunden, welches die Wiener akademischen Kreise an dem Werke des Vortragenden nehmen.
Ich darf hoffen, nicht unverstanden zu werden, wenn ich bitte, von der beabsichtigten Geleitung des Redners durch die Vertreter der Wissenschaft absehen zu wollen.# Abgesehen davon, dass ein solcher Vorgang in wissenschaftlichen Kreisen ganz ungewöhnlich wäre, würde dasselbe in Anbetracht der Person des Collegen Einstein gewiss zu Missdeutungen verschiedener Art Anlaß geben, die besser vermieden werden.“30

Wettsteins Universitätskollege Professor Eduard Brückner, der darüber hinaus auch Obmann des Ausschusses für volkstümliche Universitätsvorträge an der Universität Wien war, richtete ein diesbezügliches, unmissverständliches Schreiben an Koessler – kurioserweise mit Briefkopf des Geographischen Institutes der K.K. [ sic!] Universität Wien:
„Dagegen habe ich wie alle eingeladenen Kollegen von der Universität Bedenken zusammen mit dem Herrn Vortragenden, diesen begleitend, das Podium zu betreten. Es wäre das eine Auszeichnung, wie sie Gelehrten von gleichem Rang wie Einstein bisher nie zuteil geworden ist. Ich werde mir erlauben daher kurz vor Beginn des Vortrages meinen Sitzplatz auf dem Podium einzunehmen.“31

Obwohl dies anhand der vorhandenen Quellen nicht verifiziert werden kann, ist doch davon auszugehen, dass Koessler, nolens volens, den ursprünglich vorgesehenen Veranstaltungsablauf [ S. 10] abänderte, und das Huldigungs-Prozedere seitens der Vertreter der Wissenschaft aus dem Programm strich.

Der Vortrag war jedenfalls ein ungeheurer Publikumserfolg, was Einstein selbst auf Basis seiner zurückliegenden Vortragserfahrungen bereits vorausgesehen hatte, indem er Koessler gebeten hatte, einen Platz für seinen Freund und Kollegen Ehrenhaft möglichst in seiner Nähe zu reservieren. Nach dem Vortrag bedankte sich Einstein vor seiner Abreise nach Berlin bei Ludwig Koessler jedenfalls ausdrücklich dafür, dass Ehrenhaft nicht auf dem ursprünglich reservierten Platz neben Koessler saß, sondern in seiner unmittelbaren Umgebung, „unter anderem deshalb, da wir uns nach dem Vortrag ohne Schwierigkeiten finden würden (...) da er andernfalls bei dem großen Gedränge nicht leicht in das Künstlerzimmer hätte kommen können“32.

Der viel beachtete Urania-Vortrag im Wiener Konzerthaus blieb Einsteins letzter großer öffentlicher Vortrag in Wien. Als Albert Einstein im Oktober 1931 ein weiteres Mal zu Besuch in Wien weilte, wurde er von der Bürgerblock-Regierung unter Karl Buresch und Johann Schober ebenso ignoriert wie von der akademischen Funktionärselite der Stadt.

In einem vertraulichen Bericht der deutschen Botschaft in Wien an das Auswärtige Amt wurde deutlich ausgesprochen, warum der weltberühmte Professor nun in Wien nicht mehr offiziell Willkommen geheißen wurde:
„Prof. Albert Einstein hat auf Einladung des Komitees zur Veranstaltung von Gastvorträgen ausländischer Gelehrter der exakten Wissenschaften am 14. dieses Monats im Physikalischen Institut der Universität Wien einen Vortrag über den derzeitigen Stand der Relativitätstheorie gehalten. Es ist bezeichnend für die Art, in der in Wien alle Dinge unter parteipolitischen Gesichtspunkten behandelt werden, dass die offiziellen Stellen Prof. Einstein gegenüber, weil er Jude ist und als politisch links eingestellt gilt, besondere Zurückhaltung beobachten. Weder der Unterrichtsminister noch die Rektoren der Hochschulen wohnten dem Vortrage, zu dem im übrigen natürlich ein sehr großer Andrang herrschte, bei.“33

Tatsächlich zielte Albert Einstein, gegen den das rechtsradikale, antisemitische Kesseltreiben nun insbesondere auch durch die NSDAP verstärkt wurde, mit seinen Vorträgen mittlerweile durchaus auch auf ein Publikum abseits bürgerlich-konservativer Kreise. So hielt der engagierte Pazifist am 26. Oktober 1931 im überfüllten großen Vortragsaal der „Marxistischen Arbeiterschule Groß-Berlin“ beispielsweise einen Vortrag zum Thema „Was der Arbeiter von der Relativitätstheorie wissen muss“34.

Anmerkungen:

1 Albrecht Fölsing: Albert Einstein. Eine Biographie, Frankfurt am Main 1993, S. 490 bzw. S. 500.

2 Harry Walter: Einstein als Marionette. In: Michael Hagner (Hg.): Einstein on the Beach. Der Physiker als Phänomen, Frankfurt am Main 2005, S. 155.

3 Engelbert Broda: Einstein und Österreich (= Veröffentlichungen der Kommission für die Geschichte der Mathematik, Naturwissenschaften und Medizin, 33), Wien o. J. (1973), S. 11.

4 Vgl. dazu: Fölsing: Albert Einstein, a.a.O., S. 560.

5 Österreichisches Volkshochschularchiv (ÖVA), B-Wiener Urania, K 12, Mappe „Persönliche Vorträge Prof. Dr. Albert Einstein“.

6 Carsten Könneker: »Katastrophal für bürgerliche Hirne«. Relativitätstheorie und völkische Propaganda in der Weimarer Republik. In: Hagner (Hg.): Einstein on the Beach, a.a.O., S. 84.

7 Albert Einstein, Technische Volksbildung. Aus einem Brief des Universitätsprofessors Dr. Albert Einstein (Berlin) an die „Freie Vereinigung für technische Volksbildung“. In: Volksbildung, 1. Jg., 1919 , H. 11, S. 307 f.

8 Einstein über moderne Erziehung. In: Volkshochschule im Westen. Mitteilungs- und Arbeitsblätter des Landesverbandes der Volkshochschulen von Nordrhein-Westfalen, 4. Jg., 1952, H. 89, S. 106 f.

9 Präs. Z. 7037, Urania-Leitung (Koessler) an Albert Einstein, Brief vom 29. September 1920; ÖVA/B-Wiener Urania, K 12, Mappe „Persönliche Vorträge Prof. Dr. Albert Einstein“.

10 Information entnommen aus der archivinternen Datenbank THESEUS – Datei: „Vorträge und Kurse an Wiener Volkshochschulen 1887-1938“.

11 Vgl. dazu Andreas Kleinert: Anton Lampa und Albert Einstein. Seperatum aus: Gesnerus, 1975, H. 32, 288 f.

12 Albert Einstein an Ludwig Koessler, Brief vom 11. Oktober 1920; ÖVA/B-Wiener Urania, K 12, Mappe „Persönliche Vorträge Prof. Dr. Albert Einstein“.

13 Albert Einstein an Ludwig Koessler, Brief vom 29. November 1920; ÖVA/B-Wiener Urania, K 12, Mappe „Persönliche Vorträge Prof. Dr. Albert Einstein“.

14 Präs. Z. 7237, Urania-Leitung (Koessler) an Albert Einstein, Brief vom 4. Dezember 1920; ÖVA/B-Wiener Urania, K 12, Mappe „Persönliche Vorträge Prof. Dr. Albert Einstein“.

15 Albert Einstein an Ludwig Koessler, Brief vom 8. Dezember 1920, gezeichnet von der Sekretärin Ilse Einstein; ÖVA/B-Wiener Urania, K 12, Mappe „Persönliche Vorträge Prof. Dr. Albert Einstein“.

16 Neues Wiener Tagblatt, 28. November 1920.

17 Albert Einstein an Ludwig Koessler, Brief vom 8. Dezember 1920, gezeichnet von der Sekretärin Ilse Einstein; ÖVA/B-Wiener Urania, K 12, Mappe „Persönliche Vorträge Prof. Dr. Albert Einstein“.

18 Präs. Z. 7323, Brief Ludwig Koessler an Albert Einstein vom 31. Dezember 1920; ÖVA/B-Wiener Urania, K 12, Mappe „Persönliche Vorträge Prof. Dr. Albert Einstein“.

19 Postkarte von Albert Einstein an den „Herrn Präsidenten des Volksbildungshauses Wiener Urania“ vom 29. Dezember 1920, gezeichnet von Ilse Einstein; ÖVA/B-Wiener Urania, K 12, Mappe „Persönliche Vorträge Prof. Dr. Albert Einstein“.

20 „Sehr geehrter Herr Kollege!“ Albert Einstein an Ludwig Koessler, Brief vom 5. Jänner 1921; ÖVA/B-Wiener Urania, K 12, Mappe „Persönliche Vorträge Prof. Dr. Albert Einstein“.

21 Karl Menger an Ludwig Koessler, Brief vom 28. November 1920; ÖVA/B-Wiener Urania, K 12, Mappe „Persönliche Vorträge Prof. Dr. Albert Einstein“.

22 Präs. Z. 7249, Schreiben der Urania an die Polizei-Direktion Wien betref. die Erteilung der Einreisebewilligung und der Aufenthaltsbewilligung für Wien vom 6. bis 31. Jänner 1921 für Albert Einstein, Berlin, Haberlandtstraße 5, vom 4. Dezember 1920; ÖVA/B-Wiener Urania, K 12, Mappe „Persönliche Vorträge Prof. Dr. Albert Einstein“.

23 Ludwig Koessler an Albert Einstein, Brief vom 17. Dezember 1920; ÖVA/B-Wiener Urania, K 12, Mappe „Persönliche Vorträge Prof. Dr. Albert Einstein“.

24 Verlautbarungen des Volksbildunghauses Wiener Urania, Nr. 37, 18. Jänner 1920, S. 6.

25 Frank, Philipp: Einstein – Sein Leben und seine Zeit, Braunschweig 1979, S. 285. Zit. nach: Fölsing, Albert Einstein, a.a.O., S. 560. Im Rahmen des zweiten von der Prager Urania veranstalteten Abends gab es vor großem Publikum eine hitzige Diskussionsveranstaltung mit dem Philosophen Oskar Kraus, der das Publikum von den „elementaren Absurditäten“ der Relativitätstheorie zu überzeugen versuchte. Vgl. ebd., S. 561.

26 Der Polizeipräsident Schober an Präsident Koessler, Brief vom 13. Jänner 1921; ÖVA/B-Wiener Urania, K 12, Mappe „Persönliche Vorträge Prof. Dr. Albert Einstein“.

27 Der Historiker Alfons Dopsch (1868-1953) war Vizepräsident der Urania und selbst langjähriger Volkshochschulvortragender.

28 In einem Brief an Präsident Koessler unmittelbar vor Einsteins Vortrag bedankte sich Ehrenhaft dafür, dass ihm Oberbaurat Witt „freundlicherweise mitgeteilt hat“, dass der vorgesehene Logensitzplatz ausgetauscht werden kann, und auch dafür, dass er noch eine Karte erhalten hat. Ehrenhaft teilte darin Koessler mit, dass er mit Einstein am Donnerstag um 18.50 Uhr vor dem Haupttor des Konzerthaussaales erscheinen wird. ÖVAB-Wiener Urania, K 12, Mappe „Persönliche Vorträge Prof. Dr. Albert Einstein“.

29 Präs. Z. 7331, Einladung an Herrn Hofrat Univ.-Prof. Dr. Oswald Redlich, Präsident der Akademie der Wissenschaften, vom 4. Jänner 1921; ÖVA/B-Wiener Urania, K 12, Mappe „Persönliche Vorträge Prof. Dr. Albert Einstein“.

30 Richard Wettstein an Ludwig Koessler, 7. Jänner 1921; ÖVA/B-Wiener Urania, K 12, Mappe „Persönliche Vorträge Prof. Dr. Albert Einstein“.

31 Eduard Brückner an Ludwig Koessler, 10. Jänner 1921; ÖVA/B-Wiener Urania, K 12, Mappe „Persönliche Vorträge Prof. Dr. Albert Einstein“.

32 Albert Einstein an Ludwig Koessler, Brief vom 15. Jänner 1921; ÖVA/B-Wiener Urania, K 12, Mappe „Persönliche Vorträge Prof. Dr. Albert Einstein“.

33 Bericht gezeichnet von „Clodius". Zit. nach: Broda, Einstein und Österreich, a.a.O., S. 13. Vgl. auch Wolfgang L. Reiter, „Mein weiland Vaterland Österreich“. In: Heureka. Das Wissenschaftsmagazin im Falter, Nr. 1, 2005.

34 Zit. nach Jörg Wollenberg: Pergamon-Altar und Arbeiterbildung. Zur Aufarbeitung und Vergegenwärtigung der Vergangenheit in Kunst und Literatur am Beispiel der »Ästhetik des Widerstands« von Peter Weiss. In: Spurensuche. Zeitschrift für Geschichte der Erwachsenenbildung und Wissenschaftspopularisierung, 15. Jg., 2004, Heft 1-4, S. 149.

(Im Original befindet sich auf Seite 5 eine Abbildung, die hier weggelassen wurde. In eckigen Klammern steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes.)

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