Kritisches zur Volksbildung

Full display of title

Author/Authoress:

Lampa, Anton

Title: Kritisches zur Volksbildung
Year: 1927
Source:

Altenhuber, Hans/Pfniß, Aladar, Bildung - Freiheit - Fortschritt. Gedanken österreichischer Volksbildner. Wien 1965, S. 143-164.

Die „rationalistische" Volksbildung

Die Wiener Volksbildungstätigkeit begann in der liberalen Ära, in welcher die rationalistische Weltansicht die vorherrschende war. Man wird daher fragen dürfen, ob und in welchem Maße und in welchen Beziehungen die Weltanschauung ihrer Jugendepoche noch in ihr lebendig ist. Es ist nicht einfach, eine in so viele Zweige auslaufende und so vielfach abgetönte Arbeit unter eine Kategorie zusammenzufassen. Während man auf das Vortragswesen mit all seinen Ausgestaltungen die Kennzeichnung "rationalistisch" oder "nicht rationalistisch" gewiß ohne logische Schwierigkeiten anwenden kann, ist dies bei einer neutralen Bücherei der "alten" Richtung, wie sie z. B. in Wien durch die Zentralbibliothek repräsentiert wird, überhaupt unmöglich, denn weder der Bücherbestand, der "neutral" ist, noch die Praxis einer solchen Bücherei, die sich jeder Art von Führung des Lesers enthält, gibt die Möglichkeit, eine bestimmte geistige Einstellung zu bevorzugen; wohl aber könnte eine Bücherei der "neuen" Richtung, wenn man unter dieser Bezeichnung bloß eine in dem bibliothekarischen Geiste Walter Hofmanns* und mit seiner bibliothekarischen Technik betriebene Bücherei verstehen wollte, rationalistisch sein oder nicht, weil eben, wie schon oben angedeutet wurde, nicht bloß eine neutrale, sondern auch jede weltanschaulich gerichtete Bücherei nach Hofmannschen Prinzipien geführt werden kann. Es wird aber auch noch darauf ankommen, was für einen Begriff man mit der Bezeichnung "rationalistisch" verbindet. Es ist nicht dasselbe, ob man das Irrationale nur links liegen läßt, etwa nach dem Schema "Religion ist Privatsache", oder ob man sich positiv dagegen wendet, wie es im Geiste des Rationalismus als Weltanschauung liegt. Ein solcher positiver, aktiver Rationalismus widerspricht offenbar der Neutralität. In der Tat [S. 143] ist der Standpunkt der neutralen Wiener Volksbildungsinstitutionen der, im Vortragswesen (worunter ich dieses mit allen seinen weitgehenden Ausgestaltungen begreife) alles Irrationale auszuschalten, weil darüber objektiv nichts ausgemacht werden kann, und sich ausschließlich mit dem Rationalen zu beschäftigen, über das vernunftsmäßig etwas ausgemacht, das demonstriert werden kann. In diesem Sinne kann das Wiener neutrale Volksbildungswesen als rationalistisch bezeichnet werden. Diese Klarstellung war erforderlich, um Irrtümern vorzubeugen.

Es ist nun an der Zeit, zur Besprechung der sogenannten neuen Richtung der deutschen Volksbildungsarbeit überzugehen. Sie hat ihren Ausgangspunkt in der Kritik der zeitgenössischen deutschen, insbesondere reichsdeutschen Volksbildungsarbeit genommen. Es ist für uns Österreicher daher nicht ganz leicht, von unseren heimischen Verhältnissen her Einblick in die geistige Entwicklung und Struktur dieser neuen Richtung zu gewinnen, beziehentlich ihre Kritik an der alten Richtung wirklich richtig zu erfassen, weil wir bei dieser Kritik, insbesondere sofern sie in allgemeinen Bemerkungen, Aussagen oder Leitsätzen gefaßt ist, unwillkürlich an unsere heimischen Einrichtungen als deren Substrat denken. Ich habe daher zuerst ein Bild unserer heimischen Volksbildungsarbeit gezeichnet, damit deutlich erkennbar sei, wo die Abweichungen gegenüber den Ideen der neuen Richtung liegen, wo mit ihnen, wenn wir ihre Berechtigung oder soweit wir eine solche anerkennen, bei uns einzusetzen wäre, und wo endlich allenfalls Forderungen der neuen Richtung bei uns schon verwirklicht sind.

Die Kritik der neuen Richtung an der alten hebt an mit der Kritik an dem Bildungsbegriff der letzteren. Es wird darauf verwiesen, daß die deutsche Volksbildung alter Art im wesentlichen ein Kind der Aufklärung ist, der philosophischen im 18. und der naturwissenschaftlichen im 19. Jahrhundert, und daß man im wesentlichen geglaubt habe, mit der Vermittlung von Kenntnissen das Erforderliche zu leisten; denn Bildung werde hier als ein Besitz des Geistes betrachtet. Demgemäß brauchte man der Bevölkerung, der im Kindesalter durch die Elementarschule nur die Grundlagen der Bildung zugänglich gemacht werden, bloß dauernd Bildungsstoff und Bildungsmittel zuzuführen, um sie gebildeter zu machen. "Nicht in der freien, harmonischen Betätigung aller Kräfte der zu eigentümlicher Gestalt entwickelten Persönlichkeit fand man", wie Erdberg* sagt, "das Wesen der [S. 144] Bildung, sondern in einer einheitlichen Verstandesdressur, die rein im äußersten stecken bleiben mußte, weil die Anleitung zu einer inneren Auseinandersetzung mit den Kulturgütern versagt blieb." Auch die Hartmannsche* Zielsetzung, "Erziehung zum selbständigen Denken", welche die Voranstellung eines Bildungsbegriffes entbehrlich macht, erscheint der neuen Richtung zu eng, weil sie Kunst und Religion, soweit sie nicht Gegenstände geschichtlicher Darstellung sind, als Elemente der Volksbildung ausschalte. Aber auch innerhalb dieser Beschränkung könne das Hartmannsche Ziel nicht anerkannt werden, denn nicht das selbständige Denken an sich bestimme die Bildung eines Menschen, sondern die organische Verschmelzung des durch das Denken gewonnenen mit dem schon vorhandenen Bildungskern. Das selbständige Denken bleibe eine Gehirnfunktion, durch den angeführten Verschmelzungsprozeß komme erst die Persönlichkeit zu der ihr eigenen Ausprägung. Dem selbständigen Denken falle also die Rolle zu, den Stoff für jenen Verschmelzungsprozeß herbeizuschaffen, und in diesem Sinne und in dieser Begrenzung sei die Hartmannsche Forderung unzweifelhaft berechtigt, aber nicht darüber hinaus.

Die "neue Richtung"

Dem Bildungsbegriff der alten Richtung stellt die neue Richtung ihren Bildungsbegriff entgegen: Bildung ist nicht Besitz, sondern Form des Geistes, Bildung ist ein geistiges Verhalten. Dieses wird von einem Theoretiker der neuen Richtung, Otto Wilhelm, in einer Abhandlung "Bildung und Heimat"**, wie folgt näher erläutert. "Es ist eine aus zentralem Verlangen entsprungene, von allen Seelenkräften unter Führung der vorstellenden und denkenden Seite getragene geistige Haltung, deren Streben dahingeht, das einzelne nicht bloß wissensmäßig - von der elementaren bis zur wissenschaftlichen Stufe geltend - zu verstehen, sondern ihm seine Stellung im und zum Ganzen, wie zur eigenen Person zu geben. Was wir bisher Bildung nannten, erscheint demgegenüber als Besitz von Kenntnissen, Methoden, Gesichtspunkten, deren Aneignung nicht aus einem wesentlichen Bedürfnis des Geistes entspringt, sondern durch die Entwicklung des allgemeinen Lebens wie zur Erreichung bestimmter Zwecke innerhalb desselben in den sogenannten Kulturländern sich als zweckmäßig erwiesen hat. Es [S. 145] kann und soll der Bildung in unserem Sinne Hilfsdienste leisten, mehr bringt es nicht fertig: Gebildete in unserem Sinne finden sich und fehlen auf jeder Stufe dieser Technik des Wissens, dieser materialen und formalen Zurichtung des Geistes. Bildung wird auf solche Weise zugleich eine persönliche, ganz individuell geartete Angelegenheit, in ihrer Richtung und Färbung wie in ihrer Stärke bestimmt durch Anlagen, Umwelt, Weltanschauung und Beruf, wobei der Gefahr des Subjektivismus durch die Beziehung auf das Ganze und auf das Letzte in und außer dem Menschen gewehrt ist.“

Von diesem Bildungsbegriff zu der Frage nach der Verwirklichung oder Herbeiführung von Bildung durch Volksbildungsarbeit fortschreitend, macht sich die neue Richtung einen Satz Kerschensteiners* zu eigen: "Die Bildung des Individuums wird nur durch jene Kulturgüter ermöglicht, deren geistige Struktur ganz oder teilweise der Struktur der individuellen Psyche adäquat ist."** Von diesem Satze, oder sagen wir zutreffender, von der durch ihn bezeichneten geistigen Einstellung aus gelangt sie dann einerseits zur Abgrenzung ihres Arbeitsfeldes, andererseits zur Bestimmung ihrer Arbeitsart. Walter Hofmann und Theodor Bäuerle, welche sowohl als grundlegende Theoretiker gleichwie als praktische Organisatoren in der ersten Reihe der Männer der neuen Richtung stehen, sind, obzwar sie auf verschiedenen Gebieten des Volksbildungswesens arbeiten, in diesen Punkten zu gleichartigen Ergebnissen gelangt. Wir wollen, um die Formulierung der Aufgabe der Volksbildungsarbeit und die Absteckung ihres Zieles, wie sie der Auffassung der neuen Richtung entsprechen, kennenzulernen, die genannten Führer selbst hören. Hofmann, der Schöpfer der neuen Volksbücherei, führt aus***: "Die spezifischen Bildungsmittel können nur in denen lebendig und fruchtbar werden, die für diese spezifischen Bildungsmittel empfänglich sind. Diese Empfänglichkeit ist je nach der Art der Bildungsmittel verschieden groß - für die bildende Kunst ist der Kreis der Empfänglichen sehr klein, für die Werke der Tonkunst, besonders für die der Volksmusik, wird er vermutlich sehr viel größer sein -, immer aber kann es sich nur darum handeln, mit dem spezifischen Bildungsmittel nur den Kreis der jeweils Empfänglichen zu treffen. Ist dieser Kreis nur ein Teil des Volkes, so soll dafür die Zuführung des Bildungsmittels, sei es das [S. 146] Buch, sei es das Lied, sei es das Bild, um so sorgfältiger, um so planmäßiger und inniger geschehen, damit die wenigen Betroffenen dann wirklich Geförderte werden. Die Wirkung aber für das Ganze soll darin bestehen, daß diese wenigen Geförderten in ,die Massen' der vielen hineingestellt werden, um von hier aus auf ihre Umwelt zu wirken. Das heißt freilich nicht, daß nun etwa diese Empfänglichen und Geförderten in ihren Kreisen bewußt als kleine Volkserzieher, also etwa als Erzieher zum guten Buche auftreten sollen. Das würde ja allen vorher gewonnenen Erkenntnissen von der Unmöglichkeit einer solchen Einwirkung auf die Masse widerstreiten. Es wäre auch das noch direkte Volksbildungsarbeit an den Massen. Sondern so soll es sein, daß die ethischen und geistigen Kräfte, die im Buche aufgespeichert sind, und die im Empfänglichen lebendig werden, nun in ihrer natürlichen Form, als erhöhtes und geklärtes, als vertieftes und verfeinertes seelisches und geistiges Leben von den Vermittlern auf ihre Umwelt ausstrahlen, daß Frau und Kind, der Freund und der Nachbar, der Umkreis aus der heutigen und die Heranwachsenden aus der kommenden Generation teilhaftig dieses Lebens werden. Das ist das, was wir dynamische Volksbildungsarbeit nennen, im Gegenteil zur mechanischen Verbreitung von Volksbildungsmitteln." Bäuerle hinwiederum, von seiner Arbeit, deren Werkzeug das gesprochene Wort ist, ausgehend, äußerte sich auf der Rothenburger Tagung in folgender Weise*: "Alle echte Volksbildungsarbeit muß bodenständig sein. Aller Schematismus ist verfehlt. Anerkennung des Rechtes auf Eigenart bedeutet auch die Pflicht auf Berücksichtigung der Eigenart. Darum muß - bei aller Weite und Weltoffenheit - die Volksbildungsarbeit Heimatcharakter haben. In der Heimat liegen die wertvollsten Anknüpfungspunkte und die festesten Stützpunkte wahrer Volks- und Menschenbildung. Es gibt aber eine dreifache Heimat: die räumliche, die geistige und die seelische Heimat. Darum ist ein anderes Volksbildung in der Stadt und Volksbildung auf dem Lande, Volksbildung beim Bauern und Volksbildung beim Arbeiter, Volksbildung beim sogenannten ,höher' Gebildeten und Volksbildung beim sogenannten ,einfachen' Mann. Das schließt jedoch nicht aus, daß auf vielen Gebieten die Wege gemeinsam sein können. Aber nur völlige Klarheit und Aufrichtigkeit in diesem Kernpunkt aller Bildungsarbeit führt zu der neuen und tieferen Einigkeit und Einheitlichkeit, die wir brauchen. Solche Volksbildungsarbeit ist Qualitätsarbeit. Der Verflachung unseres Kulturlebens können wir nur dadurch wirksam entgegentreten, daß wir der Massenwirkung, die durch die ge [S. 147]schäftsmäßige Benutzung der durch die Technik geschaffenen Bildungsmittel und Bildungsgelegenheiten ermöglicht und ausgeübt wird, die Wirkung in die Tiefe des Lebens und Erlebens entgegensetzen. Volksbildung wendet sich deshalb auf allen Gebieten zunächst und zuletzt an die Empfänglichen. Dies schließt ein Wirken in die Breite nicht aus, ja, die Förderung und Vermehrung der Empfänglichen ist der bessere, wenn auch langsamere Weg zur Masse. Die intensive Volksbildungsarbeit ist darum wertvoller als die extensive. Jene ist vor allen Dingen zu fördern"1 (...)

Auf der Volksbildungstagung in St. Martin bei Graz im November 1923 hat Walter Hofmann einen Vortrag über Volksform und Bildungsform gehalten, in welchem die neue Richtung zu einer gewissermaßen schärferen Ausprägung ihres Geistes in einer zugleich ihre Arbeit weiterdrängenden Formulierung gelangt ist. Hofmann hat damals seine Ideen und Forderungen in Leitsätzen niedergelegt, die ich um ihrer Bedeutung willen hier ungekürzt wiedergebe*. Sie lauten:

"I. Volksbildung ist nicht Bildung weniger oder vieler einzelner im Sinne überkommener Bildung und Kultur, sondern Volksbildung ist Formung des Volkes zur Volkheit. Was Volkheit, Volksformung schafft, ist der Volksbildungsarbeit willkommen, was Volkheit nicht schafft, ist ihr gleichgültig, was Volkheit zerstört, lehnt sie ab.

II. Volkheit, geformte Volkskraft kann nur werden, wenn von den im Volke selbst lebendigen geistigen und seelischen Antrieben und Kräften ausgegangen wird: - sie sind der eigentliche Gegenstand der formenden Arbeit der Volksbildung. Die Aufgabe ist daher: die tatsächlichen Lebensantriebe des Volkes in seinen verschiedenen Kreisen und Schichten zu erkennen, für die entsprechenden Lebensantriebe die entsprechenden geistigen Antriebe in der kulturellen Produktion zu suchen und darnach die entsprechenden Kulturgüter an der entsprechenden Stelle des Volkslebens einzusetzen. Volksbildung bedeutet also eine neue Kenntnis des Volkseins und eine neue Bewertung und Verwertung der Kulturgüter vom Standpunkt volkhaften Seins und Werdens aus.

III. Die neue Bewertung der überkommenen kulturellen Produktion und der herrschenden Geistigkeit führt zu der Erkenntnis, daß Gehalt [S. 148] und Form der abendländischen Bildung, besonders ihrer in den letzten Menschenaltern gewonnenen Ausprägung, weithin ohne Beziehung sind zu Gehalt und Formmöglichkeit all der Volksschichten, die in die abendländische Bildung nicht hineingeboren und durch umfassende schulgemäße Ausbildung nicht hineinerzogen worden sind. Wenn also Bildungsgüter und Bildungsleben volksformende Kraft und Bedeutung gewinnen sollen, so ist ein Wandel dieser Bildung selbst Voraussetzung.

IV. Die Ausbildung und Durchformung der einzelnen Lebensantriebe und Lebenstendenzen im Volk gibt noch keine Form der Volkheit, sondern nur sich durchkreuzende Ansätze und Bausteine zum Volkwerden. Volksform, Volkheit - geprägte Form, die lebend sich entwickelt kann für ein ganzes Volk nur dort werden, wo die Lebenstendenzen von dem Bewußtsein um ein letztes, im Volke Seinsollendes gewertet und geordnet werden. Der Volksbildner muß also selbst von einem Bewußtsein um ein Seinsollendes im Leben des Volkes erfüllt sein: eine ,neutrale´ Volksbildungsarbeit, die den Lebensantrieben des Volkes nicht einen Willen zu einem bestimmten Sein gegenübersetzt, ist vielleicht charitativ gemütische und intellektuelle Wohlfahrtspflege, aber keine Volksbildung.

V. Die Volksbildungsarbeit ist daher das natürliche Wirkungsfeld der großen weltanschaulichen Strömungen in unserem Volke: es ist Torheit, das Gegenteil von Volksbildung, dem Katholiken verübeln zu wollen, wenn er die Lebensantriebe und ihnen entsprechenden Kulturgüter vom Standpunkt seines Gottesgedankens aus bewertet und in der Volksbildungsarbeit ordnet, dem Sozialisten verwehren zu wollen, dasselbe vom Standpunkte seiner Weltanschauung aus zu tun, dem Deutschvölkischen zu verdenken, den Deutschgedanken als Ordnungsgedanken seiner Arbeit der Volksformung zu wählen.

VI. Die weltanschaulich nicht gebundene Volksbildungsarbeit ist eine notwendige Ergänzung der (prinzipiell gleichwertigen) gebundenen Volksbildungsarbeit. Sie kann das aber nur sein, wenn sie auch für sich Leitgedanken und Bindung anerkennt. Mit der konfessionellen, der sozialistischen und völkischen Gruppe ist sie verbunden durch die Grundüberzeugung daß Volksbildung nicht Bildung vieler einzelner im Sinne einer individualistischen Persönlichkeitskultur ist, sondern daß die Volksbildung grundsätzlich dem Gesamtwesen, der Formung des Volkes zur Volkheit aus den Grundkräften des Volkes heraus gilt. Von da kommt sie zu zwei Grundforderungen.

1. Entfaltung und Kräftigung des Gemeinschaftsgefühls, ohne das Volkheit nicht möglich ist. [S. 149]

2. Pflege aller das Leben bejahenden Kräfte, Zurückdrängung aller den Lebenswillen unterbindenden Tendenzen, ohne welches Volkheit nicht bestehen kann.

Darüber hinaus muß auch die konfessionell oder politisch-weltanschaulich nicht gebundene Volksbildungsarbeit zu Bindungen an oberste Leitgedanken, inhaltliche Forderungen kommen, wenn sie wahrhaft volkbildend wirken und von der gebundenen Volksbildungsarbeit als wertvoller Bundesgenosse anerkannt werden soll. In diesem Sinne hat sie anzuerkennen und zu pflegen:

1. Die Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen. Dieses verbindet sie mit der religiös-konfessionell fundierten Volksbildungsarbeit.

2. Das Solidaritätsbewußtsein aller Arbeitenden auf der Erde. Das verbindet sie mit der großen Weltbewegung des Sozialismus.

3. Den Gedanken des Deutschtums, des geistigen und seelischen Lebens aus deutscher Wesensart heraus. Das verbindet sie mit der völkischen Bewegung.

Diese drei Ideale des Seinsollenden sind aber nicht aus Opportunismus zu wählen', sondern sie müssen in der Persönlichkeit des wahren Bildners seines Volkes begründet sein. Sofern sie das sind, deuten sie vielleicht die Synthese an, die das deutsche Volk braucht, um zu einem Lebensideal und zu einer Gesamt-Volksform zu kommen.

VII. Das Seinsollende in der Volksbildungsarbeit darf nicht in ideologischer Volksfremdheit und in gedankenloser Anwendung überkommener Bildungsmittel und Bildungsmethoden dem Volkskörper aufgezwungen werden, sondern es ist - nicht im Prinzip, wohl aber im Gang der praktischen Arbeit - aus dem Walten der lebendigen Volkskräfte, aus ihrer klaren Erkenntnis heraus zu entwickeln."

Es wurde bereits festgestellt, daß die neue Richtung jene Art von Neutralität, die von der "Wiener Richtung eingehalten wird, ablehnt. Aus den Leitsätzen Hofmanns ersieht man den tieferen Zusammenhang dieser Ablehnung mit der Auffassung der Volksbildungsaufgabe. Der weltanschaulich (konfessionell oder politisch) gebundenen stellt Hofmann eine weltanschaulich nicht gebundene Volksbildungsarbeit gegenüber, die sich aber keineswegs mit der neutralen Volksbildungsarbeit (im Wiener Sinne) deckt. Ich habe oben zwei Themen aus der Heilbronner Volkshochschule angeführt, welche die Einbeziehung von Religion und Politik in die Volkshochschule zeigen. Dies ist ein Beispiel für den ursprünglichen, sozusagen älteren Standpunkt der neuen Richtung. Hofmanns Leitsätze setzen eine Einstellung fest, die über diesen Standpunkt noch hinausreicht, sie geben [S. 150] einen neueren Standpunkt in der neuen Richtung, der in der Praxis der neuen Richtung bereits zum Ausdruck zu gelangen beginnt. So finden wir z. B. in dem bereits erwähnten Arbeitsplan der Kasseler Volkshochschule eine Erörterung ihres Leiters über die Frage "Was will die Volkshochschule?" vorangestellt, welche durchaus im Sinne der Hofmannschen Leitsätze gehalten ist. Ich muß mich aber eines vergleichenden Urteils über die verschiedenen, der neuen Richtung anhangenden Volkshochschulen enthalten, da ein solches nicht auf Grund der Kenntnis ihrer Programme, sondern nur auf Grund eingehender Beobachtungen ihrer Tätigkeit selbst gefällt werden kann. Leider mangelt es mir an solchen Erfahrungen, ich muß mich daher mit einer größtenteils rein theoretischen Besprechung der Hofmannschen Forderungen begnügen, ohne nähere Angaben darüber machen zu können, wie weit sie etwa in der Praxis der neuen Richtung auf den verschiedenen Gebieten volksbildnerischer Arbeit bereits lebendig sind. Auf eine Einrichtung, wo mir näherer Einblick vergönnt war, die Leipziger Bücherhallen, werde ich weiter unten zurückkommen.

Hofmann verlangt also auch für die weltanschaulich nicht gebundene Volksbildungsarbeit Leitgedanken und Bindung. Welcher Art diese sein sollen, ist im Punkt VI der oben mitgeteilten Leitsätze mit hinreichender Deutlichkeit ausgeführt. Er geht hier von einem Begriffe der Volksbildung aus, der sich ihm durch das weitere Vordringen in dem durch die grundlegende Kritik der neuen Richtung eröffneten Gedanken- und Arbeitsfeld erschlossen hat. Ich will an diesem Hofmannschen Begriffe der Volksbildung vorderhand weder Kritik üben, noch auch die Frage aufwerfen und zu beantworten versuchen, ob nicht von dem gleichen Ausgangspunkte aus Wege zu anderen Aufstellungen führen; meine Absicht ist vielmehr, weil das Unterscheidende zwischen der alten Richtung und der neuesten Entwicklung der neuen durch die Hofmannschen Leitsätze grell beleuchtet wird, von diesen Leitsätzen aus dieses Unterscheidende herauszuarbeiten und damit die wichtigste Aufgabe, welche ich mir in dieser Schrift gestellt habe, zu Ende zu führen2 (...)

Die Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen

Es erscheint mir nun noch eine einläßlichere Betrachtung der drei Ideale des Seinsollenden zur Vertiefung der Einsicht in Hofmanns Ideenwelt erwünscht, sowohl in theoretischem Interesse als auch aus praktischen Gründen. Denn die Stellung zu diesen Idealen ist maßgebend für die Kon [S. 151] struktion einer Volksbildungseinrichtung, also von ausschlaggebender Bedeutung bei Neugründungen oder Umgestaltung bestehender Einrichtungen. Vorerst also die Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen.

Daß nicht alles im gewöhnlichen Wortsinn erforschlich ist, kann nur unwissender oder halbwissender Optimismus bestreiten, der mit undefinierten Wörtern von verschwommenem Sinn Probleme zu lösen vermag, vor denen die Gedanken der wirklichen Denker verstummen. In dem vorliegenden Zusammenhange sind die Abtönungen des Begriffes der Unerforschlichkeit bei den verschiedenen Erkenntniskritikern ohne Bedeutung. Wenn z. B. Mach* durch seine Definition der Erklärung, durch seine Definition der Wissenschaft dem Denken und Forschen eine bestimmte Grenze zieht, innerhalb welcher jedes mit diesen Definitionen vereinbare Problem prinzipiell lösbar ist, so hat er damit den Begriff des Problems eben auf das nach der Beschaffenheit unseres Erkenntnisorganes Erforschbare eingeschränkt. Was darüber hinausgeht, dem Mach den Charakter eines Problems abspricht, was er nicht als wissenschaftliche Frage anerkennt, das liegt alles in dem Gebiete der von anderen Denkern, welche andere Begriffe von Erklärung und Wissenschaft haben, als unlösbar bezeichneten Probleme. Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen, welche Auffassungsweise die begründetere, die strengere, die wissenschaftlich tragfähigere ist; der objektive Tatbestand, auf den es in praktischer Hinsicht ankommt, ist derselbe, es kommt praktisch auf das Gleiche hinaus, ob ich sage, diese Frage ist keine wissenschaftliche Frage, oder ob ich sage, diese Frage ist unlösbar; vorausgesetzt natürlich, daß die Frage nicht an sich unlogisch ist, also gar kein Problem vorliegt.

Wir dürfen also in dem dargelegten Sinne in der Tat von Unerforschlichem sprechen. Hofmann verlangt Ehrfurcht vor ihm, also eine bestimmte Haltung des Gemütes, mit welcher wir im Gebiete des Erkennbaren, des begrifflich Erfaßbaren dem überwältigend großen Menschen, dem schöpferischen Genius, der überlegenen Weisheit und Charakterstärke usw., in allen diesen Fällen also einem Geistigen gegenübertreten und es in unsere innere Welt aufnehmen. Nicht selten wird das Gefühl der Ehrfurcht auch lebendig gegenüber der Natur und dem natürlichen Geschehen, wenn sie sich in eindrucksvoll überwältigender Weise offenbaren, aber man entdeckt unschwer, daß auch hier in dem Objekt der Ehrfurcht ein Geistiges erfühlt oder gefühlsmäßig angenommen wird. Ob dieses immer der Fall oder un [S. 152]bedingt notwendig ist, wird noch zu erörtern sein. In dem Unerforschlichen, für welches Hofmann Ehrfurcht heischt, ist, ohne daß er uns genau sagt, was er darunter meint, unschwer das Geistige in der Welt und im Weltgeschehen, das Metaphysisch-Religiöse nach seinem später gebrauchten Ausdruck, zu erkennen. Seine Forderung, das Unerforschliche als ein Ehrfurcht Gebietendes anzuerkennen und die Ehrfurcht vor ihm zu pflegen, scheint also zwar nicht eine bestimmte Weltanschauung, aber eine bestimmte Kategorie von Weltanschauungen vorauszusetzen, diejenigen nämlich, welche das Geistige als das Wesentliche in der Welt und im Weltenlauf betrachten und demgemäß in dem Unerforschlichen ein Geistiges beschlossen sehen.

Eine Weltanschauung, welche das Geistige als Funktion des Stofflichen ansieht und demgemäß eine Unerforschlichkeit nicht auf die Beschaffenheit und Organisation unseres Erkenntnisorgans, sondern auf seine quantitative Unzulänglichkeit gründet, darf das Unerforschliche als im Prinzip erforschbar ansehen; sie ist daher voll im Rechte, wenn sie von vornherein ein Unerforschliches nicht anerkennt, sondern nur ein bisher nicht Erforschtes. Wenn sie aber dann einen "Laplaceschen Geist" als die denkbar vollkommenste Steigerung des Menschengeistes ersinnt* und mit dieser Hilfskonstruktion feststellen muß, daß auch diesem Laplaceschen Geiste eine Reihe von Problemen für ewige Zeit notwendigerweise unlösbar bleiben wird, so ist dieses von ihr aufgedeckte Unerforschliche keineswegs geeignet, Ehrfurcht zu erwecken, denn es ist nichts weiter als der schale Rückstand aus dem Bankrott ihrer Grundauffassung, deren Unzulänglichkeit nicht erst in einem langen historischen Entwicklungsgang sich hätte erweisen müssen, da sie durch eine erkenntnistheoretische Betrachtung erkannt werden kann. Man darf daher auch die Gegnerschaft gegen eine derartige Weltanschauung innerhalb der Volksbildungsarbeit nicht mit demselben Maße messen wie eine Ablehnung irgend eines Themas aus weltanschaulichen Gründen. Wenn man es mit dem verstorbenen Führer der österreichischen Sozialdemokratie Dr. Viktor Adler zurückweist**, den Arbeitern "eine materialistische Gifthütte“ als Bildungsstätte anzubieten, so kann für diese Haltung eine rein wissenschaftliche, von weltanschaulichen Zu- oder Abneigungen freie Begründung gegeben werden.

Die in der materialistischen Gifthütte zubereitete und zur Verabreichung [S. 153] gelangende Weltanschauung scheidet daher aus der Frage aus, welche sich in der Entwicklung unserer Erwägungen nunmehr erhebt und Antwort verlangt: daß man sich von vornherein nur mit Weltanschauungen einer bestimmten Gruppe einlassen will, ist das nicht bereits eine weltanschauliche Bindung, wenn auch negativer Art, die einer weltanschaulich nicht gebundenen Volksbildungseinrichtung fremd sein sollte? - Ich meine, daß die Antwort auf die Frage, wie sie zunächst hier gestellt erscheint, nicht anders als bejahend lauten kann. Und wie sehr man im Gefühl mit Hofmann übereinstimmen und seiner Forderung für die eigene Person innerlichst zustimmen mag, so muß man sich doch die Verhältnisse vollkommen klar machen, wenn man sich vor die Entscheidung gestellt sieht, die Aufnahme dieser Hofmannschen Forderung, ein Unerforschliches mit Ehrfurcht anzuerkennen und die Ehrfurcht vor ihm zu pflegen, in das Programm einer weltanschaulich nicht gebundenen Volksbildungseinrichtung im Einzelfalle zu betreiben oder im allgemeinen zu empfehlen.

Neutrale und gebundene Volksbildung

Da glaube ich nun Folgendes sagen zu müssen. Weltanschaulich nicht gebunden ist prinzipiell nur die absolut neutrale Volksbildungsstätte. Allerdings ist das Problem der Neutralität in der Volkshochschule außerordentlich schwer zu lösen. Keinesfalls in einer der neutralen Volksbücherei entlehnten Form, so daß man etwa, wie dort sogar werbende Bücher verschiedener Weltanschauungen, hier Vertreter verschiedener Weltanschauungen in werbender Tätigkeit zuläßt; denn dadurch würde ein vollendetes Durcheinander in die Köpfe und Herzen der Hörer und außerdem Unfrieden und Kampf in den Betrieb der Volkshochschule getragen. Hier kann die Neutralität nur durch Ausschaltung der weltanschaulichen Kampf punkte erreicht und bewahrt werden. Nun erachte ich aber die bloße Anerkennung eines Unerforschlichen in dem eben dargelegten Sinne nicht als einen Streitpunkt der Weltanschauungen. Die Anerkennung eines Unerforschlichen bestimmt jedoch nicht eindeutig eine Reaktion des Gemütes. Es ist einerseits möglich, daß es mit gedankenloser, aber auch daß es mit philosophischer Gleichgültigkeit betrachtet wird, es ist andererseits möglich, daß es Schauer der Ehrfurcht in der Seele erweckt, ja daß von einem dem Unerforschlichen gemütlich positiv zugewendeten Menschen über die Empfindung hinaus ein nicht rationaler Zugang zu ihm gesucht wird. Die Ehrfurcht ist also bloß eine der möglichen Verhaltensweisen, die dem Unerforschlichen gegenüber möglich sind; irgendeine davon auszuwählen, scheint [S. 154] also eine weltanschauliche Einstellung vorauszusetzen, gleichgültig ob die Wahl aus rationaler Überlegung oder aus dem tiefen irrationalen Führerinstinkt heraus getroffen wird.

Verfasser ist durchaus der Überzeugung, daß die Ehrfurcht gegen das Unerforschliche ein wesentlicher geistiger Charakterzug des deutschen Menschen ist und daß die Millionen, welche dieses Gefühl verloren haben oder verstandesmäßig unterdrücken, und heute in tiefster Seelennot ihr Heil in der Gleichgültigkeit oder einer nicht zu Ende gedachten Weltauffassung finden, in nicht allzuferner Zeit zum Bewußtsein ihrer seelischen Verarmung und Verödung gelangen werden. Denn in irgend einer Weise muß der Mensch sich zu dem Unerforschlichen stellen. Es greift zu tief in die Wurzeln seines geistigen Seins, als daß er daran achtlos vorübergehen könnte; denken wir doch nur daran, welch ungeheure Rolle es im Dasein des Primitiven spielt! Die kulturelle Entwicklung hat nun freilich sehr viel geändert, das Unerforschliche aber ist geblieben und irgendwann kommt jedem einmal die Stunde, wo er sich, sei es nun im Widerstreit dunkler Gefühle nur gefühlsmäßig, sei es im Lichte gedanklicher Überlegung klar bewußt entscheiden muß - und hier soll und darf auch die weltanschaulich nicht gebundene, ja sogar die neutrale Volksbildungsarbeit den Menschen nicht im Stiche lassen, nicht indem sie ihm eine positive Lösung anbietet, - hiefür besitzt sie ihrer Natur nach weder die Mittel noch die Berechtigung -, aber indem sie ihm die rationalen Elemente, welche der einzelne zu einer gewissenhaften weltanschaulichen Entscheidung benötigt, in einer kritisch einwandfreien, wenn auch oft notwendigerweise volkstümlich gefaßten Form vermittelt. Die Notwendigkeiten, um welche es sich dabei handelt, können hier weder aufgezählt noch theoretisch abgehandelt werden3 (...)

Das Unerforschliche bildet in irgendeinem Zusammenhang mit dem Erforschlichen die Welt. Das Unerforschliche für sich allein ist nicht die Welt, das Erforschliche für sich allein ist sie auch nicht. Wenn sich nun zeigt, daß der erforschliche Teil der Welt bei genügend eindringlicher Betrachtung das Gefühl der Ehrfurcht weckt, so kann sich die Volksbildungsarbeit, welche innerlich der Hofmannschen Forderung zustimmt, damit zufrieden geben. Denn das durch den erforschlichen Bereich geweckte Gefühl der Ehrfurcht überträgt sich gewissermaßen von selbst, ohne besonderes Hinzutun, durch eine Art von unbewußtem Analogieschluß auch auf das Unerforschliche, und dies umso leichter und sicherer, je lebendiger [S. 155] man erfährt und erkennt, daß jede Erweiterung unserer Erkenntnis im Gebiete des Erforschlichen die Großartigkeit seines Anblickes steigert und infolge davon unsere ihm bereits entgegenwallende Empfindung der Ehrfurcht noch vertieft.

Ich glaube nun keinen Widerspruch befürchten zu müssen, wenn ich sage, daß gerade den großen Forschern, den Begründern und Erweiterern unseres Weltbildes, niemals die Gefühlseinstellung der Ehrfurcht gegen den großen Gegenstand ihrer Forschung, die Natur, und insbesondere deren verborgene Zusammenhänge gefehlt hat; es ist das Naturgesetz, der schwer erfaßbare bestimmte und beständige Zusammenhang, der an den Tag gefördert die Seele des Forschers wie ein überirdisches Licht erfüllt und zu ehrfürchtiger Betrachtung des noch unbekannten leitet - und so stehen die großen Forscher auch mit Ehrfurcht dem Unerforschlichen gegenüber; es genügt vielleicht, an Johannes Kepler, all Isaak Newton zu erinnern. Diesen beiden Denkern ward die Erforschung der Natur die Quelle einer eigentümlichen und großartigen Verehrung des unerforschlichen Wesens Gottes; ihre metaphysisch-religiöse Einstellung ließ sie leichter den Ausdruck für ihre Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen finden, auch war es ihnen nach den Verhältnissen ihrer Zeit noch möglich, diesem Gefühl, das ein keusches und scheues Gefühl ist und den lauten Markt der öffentlichen Meinung flieht, ohne die Empfindung der Profanation und zugleich der Unbescheidenheit Ausdruck zu geben. Die immer schärfer werdende Ausprägung der Grenze zwischen Erforschlichem und Unerforschlichem hat es mit sich gebracht, daß die Mitteilungen der großen Forscher über ihr persönliches Verhältnis zum Unerforschlichen immer seltener wurden und das Gefühl der Ehrfurcht gegen das Unerforschliche, im Verborgenen der eigenen Innenwelt bewahrt, bloß bei seltenen Gelegenheiten und vielleicht nicht ganz leicht verständlich sich äußerte. Aus der Psychologie der großen Forscher darf man schließen, daß die anderen Verhaltungsweisen des Gemütes gegen das Unerforschliche, wie sie oben als theoretische Möglichkeiten aufgezählt wurden, bei ausreichender Klarheit und Tiefe der Einsicht praktisch nicht in Frage kommen. Und so glaube ich denn, daß, wenn den Besuchern einer Volkshochschule ein Einblick in die Gesetzmäßigkeit des natürlichen Geschehens im Kosmos im großen wie im kleinen, unter gleichzeitiger Hervorhebung der Grenzen unseres Erkennens vermittelt wird, in ihnen, ob man nun will oder nicht, das Gefühl der Ehrfurcht erweckt wird gegen das Ganze, auf welches sich die Sehnsucht unseres Erkenntniswillens richtet, das Unerforschliche mit eingeschlossen. Nur auf diesem Wege ist, wenn keine weltanschauliche Bindung vorhergehen soll, [S. 156] die geistige Haltung zu finden, welche für eine jede Weltanschauung Vorbedingung ist, die nicht mit der Verzweiflung der Maupassantschen Romanfigur* enden soll. Wenn ich dies ausspreche, darf nicht übersehen werden, daß mich keinerlei teleologisches Wünschen leitet. Ich verlange in keiner Hinsicht eine weltanschauliche Bindung, denn die Ehrfurcht, von der die Rede ist, stellt sich bei der wissenschaftlichen Behandlung der Welt und des Weltgeschehens ohne weiteres Zutun von selbst ein, sie bleibt nur aus, wenn ihr künstlich entgegengearbeitet wird, wenn Motive außerwissenschaftlicher Art, Motive einer gegenwissenschaftlichen Weltanschauung in die rein wissenschaftliche Betrachtung hineingezogen werden.

Nach diesen Ausführungen erscheint es nicht unerläßlich, für die weltanschaulich nicht gebundene Volksbildung Anerkennung des Unerforschlichen und Pflege der Ehrfurcht davor ausdrücklich zu fordern. Denn beide sind eingeschlossen in der Pflege des rein wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens und in der Pflege der Wissenschaft vom Erkennen. Die erste, das Unerforschliche betreffende Forderung Hofmanns ist nicht frei von dem Anschein oder der Möglichkeit einer weltanschaulichen Bindung, wodurch der Anschein oder die Möglichkeit des Widerspruches gegen den Begriff der weltanschaulich nicht gebundenen Volksbildung gesetzt wird. Von dem Anschein oder der Gefahr solchen Widerspruches ist man sicher bewahrt, wenn man sich auf die hier dargelegte Einstellung beschränkt.

Noch eines spricht für die vorgetragene Erwägung. Wie sollte man die Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen in der weltanschaulich nicht gebundenen Volksbildung anders pflegen, als durch die Aufzeigung von Tatsachen im Gebiete des Erforschlichen, welche den Schluß ermöglichen, daß das Unerforschliche etwas ist, was der Ehrfurcht würdig ist. Man kann die Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen allerdings durch die Entwicklung besonderer Vorstellungen von ihm erwecken, die es zwar nicht erfassen, weil es eben nicht erfaßlich ist, aber doch schon als einen der Ehrfurcht würdigen oder Ehrfurcht gebietenden Gegenstand erkennen lassen. Solche Vorstellungen müssen aber angenommen werden, wenn sie auf das Gemüt einwirken sollen, und da handelt es sich nun, da diese Vorstellungen vom Unerforschlichen doch nicht durch Forschung gefunden werden konnten, denn dies wäre ein Widerspruch gegen seinen Begriff, offenbar um einen Akt des Glaubens. Ein Glaube setzt aber eine Weltanschauung; seine besondere programmatische Anerkennung und Pflege kann daher nicht Aufgabe einer weltanschaulich nicht gebundenen Volksbildung sein. [S. 157]

Man könnte sich für das Problem der Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen weiter darauf besinnen, daß das Beispiel, sei es aus der historischen Wirklichkeit gegriffen, sei es aus den Werken der Dichter genommen, für die Ausbildung einer bestimmten geistigen Haltung eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen kann. Und hier ist es nun allerdings möglich, durch systematische Bevorzugung einer bestimmten Geschichtsauffassung und die Darstellung ausgewählter Persönlichkeiten in der mündlichen Darbietung, durch Bevorzugung bestimmter Dichter und dichterischer Werke eine Beeinflussung sogar im Sinne einer bestimmten Weltanschauung auszuüben. Eine Anstalt, die sich als weltanschaulich nicht gebunden bezeichnet, darf solches natürlich nicht tun - und die Hofmann am nächsten stehende Volksbildungseinrichtung, seine Bücherei, tut es auch nicht und könnte auch eine unausgesprochene weltanschauliche Einstellung gar nicht zur Geltung bringen, weil solchen Möglichkeiten durch ihre Prinzipien vorgebaut ist. In der Befolgung ihrer Prinzipien, in welcher sie sehr streng ist, kann sie die Pflege der Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen einzig und allein, der hier vertretenen Anschauung durchaus entsprechend, auf die Grundlage des wissenschaftlichen Zugangs zu demselben stellen. Die Einseitigkeit der Bücherauswahl im Sinne einer bestimmten weltanschaulichen Einstellung ist bei ihr ausgeschlossen durch die öffentliche Kontrolle, welcher sie sich in der denkbar weitestgehenden Weise dadurch unterwirft, daß sie die Aufnahme oder Ablehnung eines Buches in voller Öffentlichkeit in der von Hofmann geleiteten Zeitschrift "Hefte für Büchereiwesen, Mitteilungen der Deutschen Zentralstelle für volkstümliches Büchereiwesen" begründet. Natürlich sind hier Fehlgriffe nicht ausgeschlossen, aber leichter festzustellen und auszuschalten als bei anderen Einrichtungen, wie etwa an einer in Wirklichkeit weltanschaulich gebundenen Volkshochschule, welche sich guten Glaubens weltanschaulich nicht gebunden zu sein däucht.

Die darstellende Kunst und die Musik sind kein Mittel zur Pflege der Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen. Das Kunstwerk läßt uns an den Empfindungen seines Schöpfers teilnehmen, es nötigt uns aber nicht, die Verbindung seiner Empfindung mit ihrem Gegenstand in derselben Weise, als sie in seiner Seele, in seiner Weltanschauung besteht oder bestand, in unsere Seele, in unsere Weltanschauung aufzunehmen. Auch Maupassants Dichter könnte von Bruckners achter Symphonie oder dem Stephansdom in Wien auf das tiefste ergriffen und von Michelangelos Deckengemälde in der Sixtina hingerissen sein! Nur in der Seele, welcher die Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen nicht fremd ist, kann die Kunst das Gefühl der Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen erglühen lassen. [S. 158]

Die kritische Betrachtung des ersten Hofmannschen Seinsollenden verlangt, wenn sie nicht einseitig bleiben will, die Untersuchung der Motive, die zu seiner Aufstellung geführt haben. Wenn es erlaubt ist, hier den Versuch einer Klarlegung dieses Punktes zu machen, die zu geben in erster Linie Hofmann selbst berufen oder vielmehr allein berechtigt ist, So muß darauf hingewiesen werden, daß neben dem möglicherweise vorhandenen weltanschaulichen Motiv noch ein anderes, vom Standpunkt der Volksbildungstheorie für die Aufstellung der ersten Forderung wesentliches und sie hinreichend begründendes zu erkennen ist: dieses ist der Widerspruch des feinfühligen Menschenfreundes und Volkserziehers gegen das geistige Verhältnis einer großen Menge der heutigen Menschen zu den Problemen, die über das Materielle des Daseins hinausreichen. Die Erfüllung der Hofmannschen Forderung führt zu einer geistigen Haltung, die der Haltung der allein auf Erwerb und Genuß eingestellten, das Geistige nur soweit, als es als Mittel zu Erwerb und Genuß ausgenützt werden kann, schätzenden Menge gerade entgegengesetzt ist, einer Haltung, die, ohne noch selbst irgendwie Weltanschauung zu sein, der Nährboden für die Kräfte ist, welche den Menschen adeln und die Kultur schaffen und gestalten. Die groteske Übertreibung, die Seelenlosigkeit, die in den Äußerungen der Selbstzufriedenheit und Überhebung des "Es so herrlich weit gebracht zu haben" zum Vorschein kommt, die mit dieser Empfindung verschwisterte Plattheit einer materialistischen Weltanschauung (die meistens gar nicht bis zu jenen Punkten vordringt, bei denen sie die Berechtigung auf die Bezeichnung "Weltanschauung" erweisen könnte), - diese Erscheinungen sind ein starkes Motiv, die entgegengesetzte Haltung als das einzige Mittel der Rettung zu erkennen und auch in der weltanschaulich nicht gebundenen Volksbildungsarbeit trotz der Möglichkeit, daß sie fälschlich als der Ausdruck einer weltanschaulichen Gebundenheit gedeutet werde, zu fordern.

Der Überhebung ist die Demut, der respektlosen Frechheit die Ehrfurcht entgegengesetzt. Ich darf hier vielleicht ein Wort zitieren, das mir ein jüngerer Freund und ehemaliger Schüler, ein sehr angesehener Physiker, im Zusammenhang einer das gleiche Problem betreffenden Erörterung geschrieben hat: "Daß wir in der Regel unfähig sind, Demut zu fühlen, ist noch nicht so arg. Aber wenn wir verlernen zu glauben, daß waschechte Demut in Liebe die feinste, göttlichste Lebensvollendung der Seele ist, dann ist es ganz arg". Diese schlimmste Argheit ist es, die Hofmann mit feinem Gefühle erfaßt und der er die Forderung der ehrfürchtigen Haltung entgegengestellt. Von einer weltanschaulichen Bindung ist hier noch keine Spur vorhanden: der Anschein einer solchen entsteht erst durch die Hinzufügung [S. 159] des Objekts, welchem die Ehrfurcht gelten soll, durch die Nennung des Unerforschlichen.

Ich hoffe, daß die bisher durchgeführten Erörterungen die Zweifel beseitigt haben, welche durch die Nennung des Unerforschlichen, insbesondere durch die Umschreibung desselben als des "Metaphysisch-Religiösen" hervorgerufen werden können; ich hoffe, daß es mir gelungen ist, klar zu machen, daß mit der Anerkennung eines Unerforschlichen zunächst bloß ein rein wissenschaftlich begründbarer Denkakt vollzogen wird, für den selbst es ohne Belang ist, daß das Unerforschliche Gegenstand metaphysischer Spekulation, religiöser Hingabe oder selbst mystischer Versenkung sein kann. Die Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen anderseits konnte als die natürliche Haltung gegenüber dem Unerforschlichen charakterisiert werden, die der Speisung aus dem Quell metaphysischer Lehren, religiöser Hingabe, künstlerischer Entzückung nicht bedarf; die Berechtigung der Forderung ehrfürchtiger Haltung andererseits konnte nicht bloß aus einer bestimmten Weltanschauung, sondern ganz allgemein aus kulturpolitischen Gesichtspunkten hergeleitet werden. Hier wäre nun noch darauf zu verweisen, daß die Ehrfurcht selbst durch die einfache Forderung und das Beispiel nicht erregt werden kann. Wohl aber kann, wenn ihr Keim schon im Herzen ruht, ihr Wachstum durch Forderung und Beispiel erregt und das dunkle Gefühl durch ein hohes Dichterwort zu heller Klarheit entfaltet werden!

Damit sei die Besprechung des ersten "Seinsollenden" in der weltanschaulich nicht gebundenen Volksbildung abgeschlossen. Ich fasse das Ergebnis in dem kurzen Satze zusammen: Die Forderung der Anerkennung des Unerforschlichen und der Pflege der Ehrfurcht vor ihm erscheint in der weltanschaulich nicht gebundenen Volksbildung nur darum prinzipiell zulässig, weil diese Anerkennung durch bewußten Anschluß an das Ergebnis kritisch-wissenschaftlichen Denkens erreicht werden kann und die Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen sich als eine natürliche Folge der gefühlsmäßigen Einstellung gegen dieses Ergebnis darstellt, so daß beide, Anerkennung und aus derselben folgende Haltung, nicht einer bestimmten Weltanschauung als Voraussetzung bedürfen4 (...)

Das Solidaritätsbewußtsein aller Arbeitenden

Aus der eigentlichen Menschheitsgeschichte wird nicht die Idee des Unerforschlichen, wohl aber die Pflege des zweiten Hofmannschen "Seinsollenden" in der Volksbildung, des Solidaritätsbewußtseins aller Arbeitenden, aller Schaffenden der Erde, ihr Rüstzeug holen. [S. 160]

Denn von allen Lehren der Geschichte ist die deutlichste die: daß die Existenz des Menschengeschlechtes auf der Arbeit beruht. Ein natürliches Gefühl läßt die wirklich Arbeitenden, zu welchen die geistig Schaffenden gerechnet werden müssen, unter diesem großen Gesichtspunkt zusammenstehen, so wie bei der festlichen Begehung der Vollendung eines großen technischen Werkes alle an der Arbeit Beteiligten sich trotz oft weitauseinanderklaffender Welt- und Lebensanschauungen in einmütiger Freude zusammenfinden. Die Rolle der geistigen und physischen Arbeit als alleiniger Erzeugerin alles dessen, was die menschliche Gesellschaft für ihr physisches und geistiges Dasein sowohl in einfacheren Verhältnissen als auch in voller Kulturhöhe benötigt, zeitigt naturgemäß den Gedanken, daß jeder Arbeitsfähige nur dann Anrecht auf den Genuß der Arbeitsfrüchte hat, wenn er arbeitet, und sonst nur, wer infolge von Krankheit und Gebrechlichkeit oder in wohlverdienter Muße nach einem Arbeitsleben von weiterer als gesellschaftliche Pflicht geforderten Arbeit enthoben ist. Damit dieser Gedanke Wirklichkeit werde, ist es notwendig, daß alle Arbeitenden sich in ihm eins fühlen. In diesem Gedanken ist eine wesentliche Bedingung für die Verbesserung des menschlichen Daseins im allgemeinsten Sinne ausgesprochen; diejenigen, welche die Möglichkeit des im wahren Sinne kulturvollen Daseins der menschlichen Gesellschaft durch alle Arten der Arbeit des Kopfes und der Hand schaffen, haben das natürliche Recht, seine Verwirklichung zu fordern. Ein Gedankenexperiment, die Verweigerung ihrer Arbeit, die nicht nur ihnen selbst, sondern allen insgesamt den Untergang bereiten würde, erweist, daß sie es sind, auf die es ankommt. Ethische Pflicht der nicht arbeitenden Arbeitsfähigen ist es, sich diesen Gedanken anzueignen und ihr Dasein ihm entsprechend umzugestalten. Es ist kein Zweifel, daß die geschichtliche Entwicklung beim Beginne der Verwirklichung dieser Erkenntnisse angelangt ist. Auch die weltanschaulich nicht gebundene Volksbildung hat nicht nur das volle Recht, an diese Entwicklungsphase die wissenschaftliche Deutung derselben anzuschließen, sondern, wie noch ausgeführt werden soll, in gewissem Sinne sogar die Pflicht. Das behauptete Recht ist daraus abzuleiten, daß es sich hier nicht um eine weltanschauliche Frage handelt - wiewohl es jetzt Mode ist, gerade solche Fragen als weltanschauliche zu bezeichnen -, sondern einfach um eine praktische Frage der Lebensführung der menschlichen Gesellschaft. Darum erachte ich, während ich zu dem ersten Hofmannschen Ideal des Seinsollenden nicht ohne eine kritische Ausdeutung seines Begriffes Stellung gewinnen konnte, das zweite Hofmannsche Ideal des Seinsollenden in der Volksbildung als ein auch der weltanschaulich nicht gebundenen Volksbil-[S. 161]dung durchaus gemäßes. Es ist nicht notwendig, des näheren auszuführen, daß sie diesem Ideal nur mit wissenschaftlichen Mitteln, als da sind allgemeingeschichtliche, wirtschaftsgeschichtliche, sozialpolitische, sozialphilosophische, sozialethische Darlegungen usw. keinesfalls aber mit Mitteln der politischen Propaganda und Agitation dienen darf5 (...)

Der völkische Gedanke

Nunmehr jedoch zum dritten Seinsollenden Hofmanns: Anerkennung und Pflege des Deutschtums, des geistigen und seelischen Lebens aus deutscher Wesensart heraus. Erdberg hat diese Forderung in anderen Worten, auf die oben hingewiesen worden ist, ausgesprochen und als selbstverständlich bezeichnet. Ich bin in der Sache durchaus der gleichen Meinung, es erscheint mir aber trotzdem geboten, einiges dazu zu sagen, um darzutun, daß es sich nicht um politischen und nationalen Chauvinismus handelt, sondern um die Anerkennung eines naturgesetzlich bestimmten Tatbestandes und um eine aus ihm zu ziehende Folgerung. Einiges Dazugehörige wurde ja schon bei der Anführung Erdbergs beigebracht. Wenn die Erörterung hier nun weitergeführt werden soll, so sei vorweg vermerkt, daß weder die Absicht noch die Notwendigkeit besteht, auf die Probleme der Rassenfrage einzugehen; denn die Tatsache, auf welche es in diesem Zusammenhange ankommt, ist die Tatsache des Bestehens von Völkerindividualitäten, welche durch die ihnen eigentümlichen Formen der geistigen und gemütlichen Beschaffenheit bestimmt erscheinen. Im Kriege ist der Ausdruck "Mentalität" in Schwang gekommen, womit ein Teilgebiet des Tatbestandes bezeichnet wurde, von dem hier die Rede ist. Gerade dieses Teilgebiet bietet aber die günstigsten Bedingungen für eine wissenschaftliche Erfassung, es genügt auch im wesentlichen, um die Behauptung des Bestehens von Völkerindividualitäten als richtig zu erweisen. Man darf sich also darauf beschränken; die Untersuchung der gemütlichen Beschaffenheit ergänzt bestätigend, was die erste lehrt6 (...)

Braucht es übrigens vieler Argumente, wo eines allein hinreicht, den behaupteten Sachverhalt zu erweisen: die Sprache? Wenn man dem Verhältnis zwischen der Ausbildung der geistigen Welt des Menschen und der Ausbildung und Geschichte seiner Sprache nachgeht, so wird sofort deutlich, daß die Sprache in unverkennbarer Abhängigkeit von der volksindividuellen Art der Geistigkeit und ihrer Entwicklung steht, die geistige Reifung [S. 162] des einzelnen im Volke aber hinwiederum durch die stille und meist nicht beobachtete Einwirkung der Sprache in weitgehendem Maß beeinflußt wird. Die Ausführungen Sigwarts, um nur einen Forscher zu nennen, über "die Vorstellung und das Wort" in seiner Logik* leiten in kurzer, aber überlegener Gedankenführung zu der Einsicht, welche wir hier nur andeuten konnten. Bedenken wir ferner, daß das Stoffliche der Sprache, der Laut, die Lautgruppierung, die rein akustische Klangwirkung der Wörter und Wortfolgen und die Sprachmelodie sowie die begleitenden Gebärden in einem tieferen Zusammenhang mit der biologischen Eigenart der Volksindividualität stehen, so gewinnen wir erst den vollen Einblick in die Bedeutung der Sprache als charakteristisches Merkmal einer Volksindividualität.

Gewiß wird eine wissenschaftliche Durcharbeitung des Problems noch andere, verstecktere, aber darum nicht minder charakteristische Merkmale der Völkerindividualität an den Tag bringen. Die Erörterung des dritten Seinsollenden Hofmanns kann sich mit dem hier Angeführten begnügen, weil dieses das Bestehen der Grundlage, ohne welche dieses dritte Seinsollende keinen Sinn hätte, mit ausreichender Eindringlichkeit dartut. Auch bedarf es keiner weitergehenden Untersuchung im Hinblick auf die Durchführung der Hofmannschen Forderung, denn die Sprache und die Kulturleistungen des eigenen Volkes, vor allem jene der Literatur und Kunst, welche leichter zugänglich sind als die der Forschung, sind in so hohem Maße von dem eigenen Volkstum durchdrungen und erfüllt, daß ihre Aufnahme und Annahme den einzelnen dem Ganzen verbindet. Geschieht dieser Vorgang der Aufnahme und Annahme mit Bewußtheit, so wird damit der Boden für die Sicherung der eigenen Volksindividualität bereitet7 (...)

Hebung der Bewusstheit

Solange die Menschheit auf dieser Erde wandeln wird, solange wird Erziehung und Bildung, wird Volksbildung eine Notwendigkeit sein. Denn auch, wenn das Ziel, das über den drei Idealen der Hofmannschen Volksbildungsarbeit emporragt, erreicht sein wird, wenn das deutsche Volk zur Volkheit gelangt sein und ein Dom sich über allen deutschen Menschen wölben wird, wird die deutsche Volksbildungsarbeit nicht am Endziel angelangt und überflüssig geworden sein; denn auch dann wird die Aufgabe [S. 163] der weiteren Hebung der Bewußtheit fortbestehen, eine Aufgabe, die für die Menschheit erst endet, wenn der letzte Mensch seine Augen schließt. Das gleiche gilt für alle anderen Völker.

Der weltanschaulich nicht gebundenen Volksbildungsarbeit fällt in diesem Mühen eine ganz besondere Aufgabe zu. Gerade weil sie nicht mit einem bestimmten weltanschaulichen Ideal und mit bestimmten daraus hergeleiteten Vorschriften vor die Menschen treten kann und darf, die sich ihr anvertrauen, bleibt ihr keine andere Möglichkeit, als die Vermittlung der Ergebnisse der Wissenschaft, weiche für die gestellte Aufgabe von Bedeutung sind, und die Einweihung in die Wege und Ziele, die von den großen Denkern und Lehrern der Menschheit gewiesen worden sind. Bedient sie sich dieser Methode, indem sie gleichzeitig zur eigenen Erwägung, zu eigenem Nachdenken anregt, dann dient sie in doppelter Weise der Hebung der Bewusstheit8.

Anmerkungen:

1 Aus: Anton Lampa, Kritisches zur Volksbildung, Berlin 1927, S. 14ff.

2 Ebenda, S. 34ff.

3 Ebenda, S. 41ff.

4 Ebenda, S. 49ff.

5 Ebenda, S. 56f.

6 Ebenda, S. 57f.

7 Ebenda, S. 60f.

8 Ebenda, S. 70.

*ad S. 143: Walter Hofmann (1879-1952), führender Kopf der "neuen Richtung" in der deutschen Volksbildungsbewegung. Er hat sich vor allem um das Volksbüchereiwesen verdient gemacht.

*ad S. 144: Robert von Erdberg (1866-1929), Leiter der 1919 neugegründeten Abteilung für Erwachsenenbildung im Preußischen Kultusministerium, bedeutender Vertreter der "neuen Richtung" der deutschen Volksbildungsbewegung.

*ad S. 145: Ludo M. Hartmann, siehe Seite 135ff.

**ad S. 145: "VolksbiIdungsarbeit in Württemberg", herausgegeben vom Verein zur Förderung der Volksbildung in Stuttgart, Jena 1924.

*ad S. 146: Georg Kerschensteiner (1854-1932), deutscher Pädagoge, Vorkämpfer der "Arbeitsschule".

**ad S. 146: Angeführt bei v. Erdberg: "Freies Volksbildungswesen", Berlin 1919. Erster Aufsatz: "Das freie Volksbildungswesen im neuen Deutschland", S. 1-62.

***ad S. 146: Ebd.

*ad S. 147: Gleichfalls angeführt bei v. Erdberg, a. a. 0.

*ad S. 148: Siehe die Abhandlung von Walter Hofmann im "Archiv für Erwachsenenbildung", 2. Jahrgang, S. 65-104: Menschenbildung, Volksbildung, Arbeiterbildung in der volkstümlichen Bücherei".

*ad S. 152: Ernst Mach (1838-1916), österreichischer Physiker und Naturphilosoph, Vertreter des Positivismus.

*ad S. 153: Näheres bei Anton Lampa: "Die Physik in der Kultur", Kunstwartbücherei Bd. 29, Verlag D. W. Callwey, München 1925.

**ad S. 153: Viktor Adler in einem Gespräch mit dem Verfasser im Jahre 1893.

*ad S. 157: Gemeint ist der Dichter Norbert de Varennes in dem Roman "Bel ami".

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. In eckigen Klammern steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.)

[ Send literary quote ]
I have read the Privacy Policy. I agree that my details and data will be processed for registration. I may revoke my consent at any time in the future by emailing voev@vhs.or.at.