Klassenkampf und Massenschulung

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Author/Authoress:

Stern, Josef Luitpold

Title: Klassenkampf und Massenschulung
Year: 1930
Source:

Stern, Josef Luitpold: Klassenkampf und Massenschulung, 5. Aufl., Wien 1930, S. 3-34.

Subject descriptor: Arbeiterbildung / Erste Republik / Politische Bildung

[S. 3 ] Im Werdegang der Menschheit stellen die Massen bis zur Stunde das ungeheure wirtschaftliche Opfer dar, sie sind zugleich der große Gefangene im Geiste. Nicht nur wirtschaftlich, nicht nur politisch, sondern tiefer noch stecken die Massen geistig in Abhängigkeit, in Hörigkeit. Diese von der Wissenschaft noch kaum durchforschten

Beziehungen zwischen wirtschaftlicher und geistiger Gefangenschaft

deckt der Blick in die Vorgeschichte der Menschheit auf, wobei nach einem Worte Friedrich Engels’ wir die Aufgabe haben, diese Vorgeschichte der Menschheit zu beenden. Das Merkmal der Vorgeschichte der Menschheit, in der wir also selber noch atmen, beruht darin, daß nicht die Menschen die Geschichte gestalten, sondern daß die von den Menschen noch unbegriffenen Gesetze des Gesellschaftslebens den Menschen gestalten. Je tiefer wir zurückblicken in die Jahrtausende vor uns, um so abhängiger der Mensch von den unbegriffenen Erscheinungen und Gesetzen. Hoernes kennzeichnet den Naturmenschen folgendermaßen:

„Er kennt keinen Kausalverband, kein Müssen, er betrachtet jeden Vorgang der Natur als Einzelvorgang, besser als Einzelhandlung, es fehlt der Begriff der Gesetzmäßigkeit. Je ungewöhnlicher ein Vorgang, desto lieber hört man ihn erzählen, desto fester wird er geglaubt.“

Das kennzeichnet den Höhlenbewohner, den Pfahlbürger.

Dieser Typus des Urmenschen ist in uns noch lebendig.

Wenn jene Merkmale den Jingo-Indianer kennzeichnen, so sind wir alle Jingo-Indianer. Das Primitive innerhalb der Menschheitsentwicklung ist in uns noch nicht abgestorben. Damit der Gegenpol in Sicht tritt, sei an Friedrich Engels’ Darstellung des Menschen erinnert, der die Jingo-Indianer-Eigenschaften überwunden hat. Engels sagt:

„Die fremden Mächte, die bisher die Geschichte beherrscht [S. 4 ] hatten, treten unter die Kontrolle der Menschen. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen, erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maße auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben.“

Welcher große Gegensatz der menschlichen Möglichkeiten! Dort beim Menschen der Vorgeschichte: Ohnmacht gegenüber den Erscheinungen der Natur, verknüpft mit dem Glauben, Naturerscheinungen und Gesellschaftserscheinungen seien dasselbe – und als Gegensatz dazu beim Menschen der Zukunft: Erkenntnis der Gesetze der Natur, Beherrschung des gesellschaftlichen Lebens!

Die proletarische Klasse ist es nun, die in der Entwicklung der Menschheit diesen Übergang in sich selbst planvoll zu gestalten hat. Die erzieherische Aufgabe, die wir zu bewältigen haben, ist die Umwandlung des Menschen der Vorgeschichte zum Emporführer der eigentlichen Geschichte der Menschheit, das heißt zum Beherrscher der Gesellschaft. Dies ist kein haltloser Einfall, kein willkürlich gestelltes Ziel, die Aufgabe wird uns aufgezwungen durch den Klassenkampf, durch die Wucht der Wirtschaftsgesetze; diese Umwandlung muß jeder einzelne in sich selbst erleben; so lange er nicht spürt, daß er sich ändert und wandelt, solange mag er auf dem Papier in den Mitgliederverzeichnissen der revolutionären Parteien, Gewerkschaften, Genossenschaften eingetragen sein, als Kandidat der Überwindung der Vorgeschichte, aber er hat die Prüfung noch nicht bestanden. Wir stehen alle an der Schwelle zweier Zeiten. Auch das heißt schon Erwachen der Zukunft, daß wir etwas zu scheinen gezwungen sind, was wir erst werden müssen, daß wir etwas darstellen sollen, was noch nicht erreicht ist. Da zucken die Wurzeln aller revolutionären Sehnsucht. Solange [S. 5 ] man nicht die Sehnsucht spürt, etwas zu sein, solange kann man es nicht werden. Nach Boelsche ist „Sehnsucht das Vorzeichen der Erfüllung.“

Was man will, kann man unter glücklichen Umständen erreichen. Die Massen wollen den Sozialismus, aber deshalb sind sie noch nicht die Former, die Erfüller des Sozialismus. So kommt es, daß die Arbeitermassen den Sozialismus erst verzerrt auf die Bühne der Geschichte bringen. Sie tragen in sich – ein Wort von Karl Marx – noch nicht den ganzen „Traum von der Sache“. Der Sozialismus ist größer und anders, als die proletarische Masse ihn vorläufig darzustellen vermag.

Wichtig für die Gestaltung des neuen Menschen in jedem von uns ist das Bewußtsein unserer gesellschaftlichen Abhängigkeit, das Durchschauen der vielfältigen Arten dieser Abhängigkeit, während das Merkmal des Urmenschen darin besteht, daß ihm diese Abhängigkeit Geheimnis bleibt. „Ein jeder lebts, nicht vielen ists bekannt!“ Das Proletariat lebt das Schicksal des Proletariats, aber ist es ihm bekannt? Es hat ein Stückchen tragische Ironie in sich, daß man den Arbeitermassen erst in Versammlungen den Hunger darstellen, anschaulich machen muß, den Hunger, den die Hörer in den Eingeweiden brennen fühlen; dann stoßen sie einander und sagen: Er hat recht, wir haben Hunger, die anderen prassen. Man löst am tiefsten Leidenschaften der Masse aus, wenn man das ausspricht, was mit ihnen vorgeht. Der deutlichste Beweis, daß sie es zwar leben, aber noch nicht erkennen. Wo stecken die Ursachen dieses seltsamen Verhaltens der Menschen der Vorgeschichte?

Hier rühren wir an die Frage, ob herrschende Klassen genau so unbewußt ihre Klasseninteressen durchzusetzen versuchen, wie die Massen noch in so starkem Maße unbewußte Opfer der Wirtschaft sind.

Die herrschende Klasse ist immer ausgestattet mit einem erheblichen [S. 6 ] Maß von Wissen über die Ziele ihrer eigenen Klasseninteressen.

Herrschende Klassen wissen, daß zu ihrer Herrschaft die Unwissenheit der Massen gehört Der- Beherrschte durchschaut den Klassencharakter der geistigen Erscheinungen seiner Zeit am wenigsten – darum gibt er sich der Täuschung hin, auch die Klassengegner wüßten nichts davon. Die bürgerliche Klasse kennt keine Einrichtungen, die ihre Klasseninstinkte verderben, aber sie ist erfüllt vom Wunsche, das Maß des Wissens in den dienenden Massen gering zu halten.

Einige Beispiele und Aussprüche seien angeführt zur Vertiefung der Erkenntnis, welche Gegner dem geistigen Erwachen der arbeitenden Massen gegenüberstehen.

Ein römischer Senator hat im Jahre 64 n. Chr. eine Rede gehalten und bekannt: „Nachdem wir mannigfache Nationen in unserer Dienerschaft haben, welche abweichende Gebräuche, fremde oder gar keine Religionen haben, kann man dieses Gesindel nur durch Furcht im Zaume halten.“ Proletarische Eltern, die ihre Kinder zur Furcht erziehen, machen aus ihnen dieses Gesindel, das den Senatoren aller Mächte und Zeiten recht ist. Cato sagte infolgedessen sehr deutlich: „Sklaven müssen arbeiten und dann schlafen!“ Nur nicht denken, nur nicht lernen! Sonst würden sie über die Diensteinteilung nicht vollkommen gleicher Meinung sein. Wie viele Arbeiter sagen abends, wenn die Kinder lesen wollen, das Licht sei zu teuer, die Kinder sollen schlafen gehen. Das ist dieselbe Anschauung, das ist Cato in proletarischer Gestalt.

Im Jahre 1569 verbietet August von Sachsen, kaum daß die Buchdruckerpresse erfunden ist, die Errichtung einer Druckerei in Freiburg wegen „leichtfältigen, mutwilligen und bösen Beginnens“. Fragt sich nur: böse und mutwillig wem gegenüber? Wir sehen da die geistige Einstellung eines Kur- [S. 7] fürsten gegenüber der Presse. In der Teplitzer Chronik aus dem 17. Jahrhundert lesen wir eine Kennzeichnung des Grafen Clary-Aldringen: „Er vergrößerte Teplitz durch Ankäufe, baute ein Jagdschloß, errichtete die Dreifaltigkeitssäule auf dem Schloßplatz, erbaute mehrere Bäder und das Schießhaus und verbot allen Untertanen, zu studieren.“

Prachtvoll! Kauft ganz Teplitz auf, wird Badeunternehmer größten Stils, errichtet eine Dreifaltigkeitssäule, und damit alle so dumm bleiben, nichts zu durchschauen, verbietet der Edle seinen Untertanen den Verstand.

Friedrich II. weist die Schullehrer an, die Leute „Attachement“, das heißt Zuneigung, zur Religion. zu lehren. Sie scheint also nicht vorhanden gewesen zu sein. Er hält die Soldaten an, „alle Zeit still mit Andacht Gottes Wort zu hören“. Diese Verbindung von Gottesfurcht und Militarismus ist charakteristisch. In der französischen Sprache heißt die Armee La Muette, das heißt die Stumme („kuschen und weiterdienen"). In dem Briefe eines Predigers vom Jahre 1764 heißt es: „Je dümmer ein Untertan ist, desto eher wird er sich alles gefallen lassen.“ Der preußische Minister Zedlitz bekannte in einer Rede in der Akademie der Wissenschaften: „Man darf die Erziehung des Bauern nicht zu weit treiben. Wenn der Bauer den Grund von allem einsehen könnte, wie würde er an mancher Verordnung mäkeln Man muß dem gemeinen Mann Gehorsam einschärfen.“

Die herrschenden Klassen verstehen die geistige Gefangenschaft ausgezeichnet zu handhaben.

Eine kostbare Sammlung von Aussprüchen der Großbauern und Grundherren bietet die Broschüre eines zuverlässigen Gewährsmannes, des Pfarrers Josef Weigert: „Volksbildung auf dem Lande“, erschienen 1922 in München-Gladbach. Darin finden sich gar offenherzige Bekenntnisse: „Der dümmste Arbeiter ist der beste.“ Fragt sich nur, für wen! Oder: [S. 8] „Zum Kartoffelklauben ist keine Bildung notwendig.“ Aber wohl zum Kollektivvertrag! Oder: „Ich brauche für meinen Pflug drei Ochsen, zwei vor und einen hinter dem Pfluge, und wenn der hinter dem Pfluge gehende rechtzeitig Hott und Hüh sagen kann, ist es genug.“ „Dienstboten brauchen nichts zu lernen, sonst gehen sie in die Stadt.“ Die Dummheit ist also notwendig. Kant hat einmal von vollziehbaren Gedanken gesprochen. Der Kapitalismus ist kein vollziehbarer Gedanke für die Masse, er ist nur ein undurchdachter Vollzug durch die Masse. Sie denkt noch nicht!

Offenbarungen dieser Zusammenhänge zwischen Herrschaft und Dummheit stammen aus dem Munde russischer Zaren. Katharina II. macht einen Minister aufmerksam: „Das gemeine Volk darf keine Bildung erhalten. Wenn das Volk ebensoviel wissen wird, wie Sie und ich, wird es uns nicht mehr in dem Maße gehorchen wie jetzt.“ Nikolaus I. stellt die Preisfrage: „Gibt es kein Mittel, um dem Kleinbürger den Zutritt zum Gymnasium zu verwehren?“ Leontiew, ein Kultusminister unter Alexander II., empfiehlt: „Man muß mit allen Mitteln die Volksaufklärung bekämpfen.“ Pobiedonoscheff weiß: „Die Verbreitung der Volksbildung ist entschieden schädlich.“ Nikolaus II. befiehlt: „Kinder voll Kutschern, Hausdienern, Wäscherinnen, Krämern, kurz Personen, die unter dem Range eines Kaufmannes zweiter Gilde stehen, dürfen überhaupt keine Mittel- und Hochschulbildung genießen.“ Er tritt also für den numerus clausus der Volksbildung ein, für geistige Drosselung.

Köstlich der Ausruf des Gouverneurs der ersten englischen Niederlassung in Nordamerika von 1671: „Gott sei Dank, wir haben bei uns weder eine Freischule noch eine Druckerei und ich hoffe, daß in hundert Jahren auch noch nicht dergleichen hier existieren wird, denn der Unterricht hat die Ketzerei, die Sekten und den Ungehorsam zur Welt gebracht und die Buchdruckerkunst hat alle diese Übel und außerdem noch die Angriffe auf die Regierungen fortgepflanzt und verbreitet.“ Armer Gouverneur mit deinem [S. 9] Hundertjahrtraum, schon im Jahre 1719 erscheinen die ersten Zeitungen in Boston und Philadelphia.

In diesem Zusammenhange sei ein Dekret des Fürsten Schwarzenberg aus dem Jahre 1911 nicht vergessen, das allen Angestellten zur Unterschrift vorgelegt wurde, des Inhalts, sie mögen den Gottesdienst fleißig besuchen und zur heiligen Beichte und Kommunion gehen. Ob Herr Schwarzenberg den Besuch von Betriebsversammlungen erlaubt, ist nicht zu ersehen.

Allen diesen Gelüsten kommt die bürgerliche Wissenschaft zu Hilfe. Noch ein Heinrich von Treitschke, „der große Herold“, faselt von der mangelnden Gesinnungsfähigkeit der unteren Klassen und wagt das Wort von der „Notwendigkeit, einen ungebildeten Arbeiterstand zu erhalten, wenn die Bildung der oberen Klassen nicht unmöglich werden sollte“.

Die herrschenden Klassen, Patrizier, Grundherren, Industriemagnaten und ihre Schriftgelehrten, wissen: die Produktion der Dummheit der Masse gehört zur Produktion des Mehrwertes.

Und sie sorgen für sie.

Wie aber kommt es doch, daß die Massen zu lernen beginnen? Es taucht die Frage nach den Ursprüngen, nach den Quellgründen der sich entfaltenden Massenschulung auf. Sie geht nicht auf philanthropische Professoren zurück, welche den Unwissenden Vorlesungen, astronomische Klostersuppen zum besten geben. Aber auch die Arbeiterklasse ist es nicht, die sich selbst zum Wissen aufreißt.

Den Geist der Massen weckt die Ökonomie, der große Betrieb, die Entfaltung der Naturwissenschaften, der Aufschwung der Technik.

Der Arbeiter wird vor die Maschine hingestellt; man will nicht, daß er sie wie der Jingo-Indianer anstaunt, in ihr ein Gespenst, einen unheimlichen Naturvorgang erblickt, er muß den Zweck der Transmissionen und der Hebel erkennen; [S. 10 ] wenn ein Rädchen stockt, wenn eine Schraube locker wird, nützt der Anruf der heiligen Genoveva? Die Anbetung des Himmels bleibt wirkungslos gegenüber der modernen Technik. Die Anwendung der Wissenschaft auf das Naturleben läßt den Zauberglauben absterben; der Mensch wird gezwungen, sich der Kompliziertheit der Wirtschaft anzupassen. Bildung des einzelnen wie der Masse, sie sind nichts anderes als Anpassung des einzelnen und der Masse an ihre wirtschaftlichen, an ihre geschichtlichen Aufgaben. Wer die Geschichte der Volksschulung kennt, weiß, wie sie ununterbrochen der Entfaltung der Industrie nachhinkt. Das europäische Bürgertum des 19. Jahrhunderts sieht sich plötzlich in der ihm schreckhaften und tragischen Stellung, es nicht zu wissen: soll man die Massen so dumm lassen, daß man sie ausbeuten kann, aber sie werden nicht fähig die Maschinen zu bedienen, oder soll man sie so gescheit werden lassen, daß sie zwar die Maschine bedienen können, aber sie lassen sich nicht mehr ausbeuten?

Das Indien des 20. Jahrhunderts steht heute vor dieser Frage. Broughton erwähnt in seinem Buch über den Industrialismus in Indien, welche Hemmnisse die industrielle Umgestaltung Indiens an dem Analphabetentum des bodenständigen Proletariats findet.

Der Unterschied zwischen dem ausgebeuteten und beherrschten Menschen ehedem und jetzt, er besteht darin, daß man früher dumm sein mußte, um ausgebeutet zu werden – daß man heute gescheit sein muß um so dumm zu sein, sich noch ausbeuten zu lassen. Diese Gegensätzlichkeit erwähnt auch Marx in der Schrift über den 18. Brumaire: „Allerdings muß der Bourgeois die Dummheit der Massen fürchten, solange sie konservativ bleiben, und die Einsicht der Massen, sobald sie revolutionär werden.“

Der Großkapitalismus hat sich zu entscheiden: Will er Massen, die unfähig sind, den Großbetrieb zu bedienen, dann kann er dumme Massen haben. Will er aber die Massen [S. 11] geistig den großen Aufgaben der Konzentration des Kapitals anpassen, dann muß er sie gescheit machen. Und da ist man auf die gloriose Idee der Dosierung des Massenverstandes gekommen. An der Wende der Feudalzeit zur frühkapitalistischen Epoche gibt Friedrich II. einen Ukas heraus, daß das preußische Landvolk „ein bisgen lesen und schreiben“ lerne. Das Ringen der jüngsten zwei Jahrhunderte, alle Schulreformen, der ganze Kampf um die geistigen Güter geht um nichts anderes, als um dieses „bisgen Lesen und Schreiben“. Es muß ertrotzt werden. Da taucht die proletarische Klasse immer kraftvoller empor, sie zeigt die Niederträchtigkeit ein „bisgen mehr lesen und schreiben zu wollen“. Ja, die Proletarier lockt gerade das Bißchen mehr, das man sie nicht lehren will. Das noch nicht Erforschte lockt das Proletariat. Mit wunderbarem Klasseninstinkt fühlt es, daß gerade dieses Mehr das Wichtigste ist. Der Seele des ringenden Arbeiters handelt es sich ewig um das Wissenwollen des Unentdeckten. Er spürt im täglichen Leben Verhüllungen, das Verhüllte möchte er durchschauen.

Adam Smith, der große Nationalökonom der Bourgeoisie, der die Zusammenhänge zwischen Geist und Wirtschaft durchaus erkannte, aber das Interesse der herrschenden Klassen, den Bestand der kapitalistischen Gesellschaft im Auge hat, empfiehlt, wenn auch vorsichtig, „homöopathische Dosen im Volksunterricht“. Daher auch die hierarchische Staffelung in Volksschulen, Bürgerschulen, Hochschulen. Garnier, Adam Smiths französischer Übersetzer, fällt aus der Rolle und fragt: „Darf die Regierung einen Teil der Staatseinnahmen zu dem Versuche verwenden, zwei Klassen von Arbeit, die ihre Teilung und Trennung erstreben, miteinander zu vermengen und zu vermischen?“ Er fürchtet, daß bei der Teilnahme der Massen am Unterricht geistige Vermischungen eintreten könnten, daß die Arbeiter [S. 12] ein paar Tropfen aus einer Oberwelt des Geistes in sich aufnehmen und so gescheit würden, wie die anderen. Am besten machte es die katholische Kirche. Die sagt einfach: Selig sind die Armen im Geiste! Das ist die Kanonisierung der Massendummheit.

Ein Glasfabrikant aus dem Jahre 1865, ein Typus für alle Fabrikanten, sagt: „Soviel ich sehen kann, ist das größere Quantum von Erziehung, welches ein Teil der Arbeiterklasse seit den letzten Jahren genoß, von Übel. Es ist gefährlich, indem es sie zu unabhängig macht.“ Das sind immer dieselben Worte in verschiedenen Variationen, die immer und immer wieder auftauchen, seit Bernhard von Madeville gesagt hat: „Um die Gesellschaft glücklich und das Volk selbst in kümmerlichen Zuständen zufrieden zu machen, ist nötig, daß die große Majorität sowohl unwissend wie arm bleibt. Kenntnisse erweitern und vervielfachen unsere Wünsche, und je weniger ein Mensch wünscht, desto leichter können seine Bedürfnisse befriedigt werden.“

Welcher Schritt bis zu Lassalle und seinem Wort von der „verdammten Bedürfnislosigkeit der Masse“!

Die Einstellung, die es zu gewinnen galt, ist nun erreicht: Maß und Eroberung des Wissens, das Formen des Gemüts, des Charakters, des Verstandes, sie sind Klassenangelegenheiten in dieser klassenzerklüfteten Gesellschaft. Oder wie Max Adler in seinem Buche über Staatsauffassungen sagt: „alle Bildung (muß) politische Bildung (sein), weil sie ein Kampfobjekt der Klassen ist; erst in einer sozialisierten Gesellschaft löst sich die politische Bildung in gesellschaftliche Bildung auf, die dann gleichzeitig sittliche Bildung sein kann.“

Diesen Gedanken gilt es festzuhalten, wir kommen auf ihn bei der Besprechung der Volksbildungsbewegung noch [S. 13] zurück. Die Volksbildner beteuern ja, sie trieben heute schon unpolitische Bildung; unpolitisch in dem Sinne, daß sie nicht gefährlich ist dem Bestand der gegenwärtigen Gesellschaft, aber durchaus politisch dem Proletariat gegenüber. Wir haben erkannt: wo die Wirtschaftsverhältnisse einfach sind, ist den Herrschenden das Wissen der Masse unerwünscht; erst die Entfaltung der modernen Wirtschaft erzwingt die geistige Anpassung der Massen an die komplizierte Arbeit – in Dosierungen. Jede Schulreform, jeder Kampf um einen Lehrplan, sind Kämpfe um die Dosierung des Wissensstoffes. Es handelt sich dabei niemals um einen proletarisch-revolutionären Schulgedanken. Wenn unsere Genossen von Einheitsschule oder Arbeitsschule hören, so glauben sie, darin wenigstens Spuren sozialistischer Tendenzen vermuten zu dürfen; aber diese Arbeitsschule besteht in der Erstellung von Pappschachteln und hat mit Arbeit soviel zu tun, wie Pappschachteln mit Rotationsmaschinen. Auch diese Benennung ist nur Verhüllung.

Wir gehen, nun wir die Entfaltung der Massenschulung als Frucht der Wirtschaft erkannt haben, nicht vorausgewollt von der bürgerlichen Klasse, nicht vorausgesehen von der Arbeiterklasse – an die Geschichte dieser Entfaltung. Warum sagen wir nicht vorausgesehen von der Arbeiterklasse? – Es beherrscht die Geschichtsunerfahrenheit des Jingo-Indianers auch noch aufs stärkste die Gefühle und Anschauungen der Massen der Gegenwart. Am Anfang der sozialen Erhebung hatte das Proletariat keine Ahnung davon, daß es diese ganze Wirtschaft meistern kann. Die Maschine, die auftauchte, war der große Räuber, der den Arbeiter um den Arbeitsplatz bringt. Wie man den Räuber niederschlägt, der einen schädigt, nahm man das Beil, womöglich des nachts, schlich sich unbemerkt bei Mondschein in die Fabrik, drang in den Maschinensaal, schlug die Maschine nieder. Das ist der Maschinenstürmer, er ist überzeugt, mit der Kraft seiner Muskeln sich seiner Feinde entledigen zu können. In tausend Varia- [S. 14] tionen steckt dieser Maschinenstürmer noch in den Massen. Alle Gewalttheorien gehen zurück auf die Vorstellung, die Anwendung der Wissenschaft auf die Wirtschaft, wie sie der Hochkapitalismus darstellt, sei mit Muskelkraft, mit Faust und Stimmband, mit Putschen zu hindern, zu überwinden. Es sind immer die ungeschulten Massen, die in der Gewalt die Erlösung suchen. Da wir aber dargelegt haben daß die Massenschulung für die Bourgeoisie und für das Proletariat von gegensätzlichem Interesse ist, so müssen wir theoretisch, wenn wir noch gar nichts von der Geschichte der Massenbildung wissen, fragen: Worin zeigt sich die Gegensätzlichkeit, gibt es tatsächlich zwei Massenschulungstypen, in denen sich der bürgerliche und der proletarische Klassencharakter kennzeichnet? Diese Frage ist zu bejahen. Und diese Strömungen sind die Volksbildungsbewegung, die Arbeiterbildungsbewegung.

Die Volksbildungsbewegung hat die Aufgabe, den mittelalterlichen Menschen, den Genoveva-Anbeter vor der Rotationsmaschine umzuwandeln in den modernen, naturwissenschaftlich gesinnten Monteur, der, wenn das Auto seines Herrn stehen bleibt, nicht zu den 14 Nothelfern sich wendet, sondern nachschaut, ob das Sieb im Tank verstopft, ob die Zündkerze verölt ist. Es ist die Anpassung des unwissenden mittelalterlich-klerikal-autoritär erzogenen hörigen Menschen an die moderne Technik, um ihn zu einem naturwissenschaftlich etwas aufgeklärteren Bediener der Maschinen zu machen. Die Volksbildungsbewegung hat also konservative Ziele, sie verfolgt die Erhaltung, den Bestand, ja die Fortentwicklung des kapitalistischen Systems. Es sind dies Ziele, die mir nicht ablehnen, denn der Mensch muß diese ganze Strecke der Entwicklung mitmachen, aber er kann sie durchschauend und bewußt mitmachen.

Der andere Zweig, die Arbeiterbildung, hat die Aufgabe, die proletarischen Massen reif zu machen [S. 15] für die politischen, gewerkschaftlichen, genossenschaftlichen, kulturellen Aufgaben ihres alles umspannenden Klassenkampfes. Wo die Volksbildungsbewegung versagt, müssen wir auch ihr Erbe antreten, auch ihre Aufgaben erfüllen. Aber ein Stenographiekurs in einem Arbeiterbildungsverein hat trotz alledem mit Arbeiterbildung nichts zu tun. Unsere Forderung für den Augenblick ist: die bürgerliche Klasse gewährleiste einen Unterricht, der alle Fähigkeiten vermittelt, die das Gesellschaftsleben der Gegenwart verlangt. Nur wo die Volksbildungsbewegung versagt, haben wir ihre Aufgaben zu übernehmen, aber zu trachten, daß sie alle diese Aufgaben, die uns belasten, schließlich selber bewältigt. Ebenso ist es unsere Sorge, die Volksbildungsbewegung nicht zu Aufgaben zuzulassen, die uns überlassen bleiben müssen. Zu der Volksbildung gehört die naturwissenschaftliche Klärung des Massengeistes; wo aber die proletarische Klasse Macht und Einblick hat, geht die Volksbildungsbewegung die Gestaltung unseres gesellschaftlichen Schauens nichts an. Jeder Volksbildungsverein, der einen Kurs über Geschichte, über Politik, über Staatsleben abhält, ist von der Arbeiterschaft zu meiden, oder: er ist aufzusuchen, um seine bürgerliche Richtung in Wechselgesprächen erkennen zu lassen. Er ist so lange zu fürchten, solange die Arbeiterschaft nicht auf der geistigen Höhe steht, solche Feststellungen vorzunehmen; er wäre massenhaft zu besuchen, wo diese geistige Höhe erreicht ist. In dem Moment, wo solche Erörterungen in Volksbildungsvereinen beginnen oder zu erwarten sind, werden die Volksbildungsvereine neutral, sagen die Herren: „Hier ist keine Politik zu treiben!“, werden derartige Vorträge nicht mehr gehalten.

Diese zwei Gegensätze sind für unsere Bildungspolitik von grundlegender Bedeutung, ihre Erkenntnis ermöglicht uns, jederzeit zu allen Volksbildungseinrichtungen vom Kindergarten bis zur Volkshochschule klar Stellung zu nehmen. Aus Verkennung dieser Gegensätze wurden vielfach schwere Fehler gemacht, etwa die proletarischen Arbeiterbüchereien [S. 16] in Gemeindebüchereien verwandelt das heißt ja, wie Heine sagt: „Und Munition von selber Sorte wird deponiert am gleichen Orte.“ Wir liefern die Waffen aus dem Arsenal des Proletariats der Gemeindestube, dem Gegner aus. So geschehen selbst in Großstädten (München, Dresden).

Das Volksbildungswesen ist von diesem Gesichtspunkte aus zu betrachten: Überall, wo Wurzeln drin stecken, die der Revolutionierung des Bewußtseins helfen, und das sind alle Elemente der naturwissenschaftlichen Aufklärung, alle Elemente der Weckung des Bewußtseins von der Veränderlichkeit des Daseins, überall dort haben wir diese Bewegung zu fördern, aber alles, was in Gesellschaftskunde übergeht, werde von uns zehnfach prüfend betrachtet.

Gleichzeitig sind die Schranken der Massenschulung überhaupt zu erkennen. Wir geben uns der Täuschung nicht hin, es könnte auf dem Boden der Gegenwart gelingen, die Massen restlos in den Besitz des Wissensschatzes zu bringen. Es fehlt das treibende Motiv in dem unterrichtenden bürgerlichen Lehrer, in der bürgerlichen Wissenschaft, es fehlen aber auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Massen. Krise, Unterernährung, Hunger, Krankheit, kalte Wohnungen, Unsicherheit und Kummer verschließen den Massen den geistigen Aufstieg zu höheren Stufen, geschweige zur Vollendung. Die Edelsten in der Arbeiterschaft wissen, wie sie in ihrem Bildungsdrang ununterbrochen gehemmt und gedrosselt werden durch Sorge um Brot, Arbeit und Heim. Das Erlangen der tiefsten wissenschaftlichen Erkenntnis hat Voraussetzungen, die in der Volksschule nicht gegeben werden. Es ist eine Feststellung des englischen Aufbauministeriums (vor Macdonald), daß das Industriesystem der Gegenwart wenig Gelegenheit zur Befriedigung geistiger oder geselliger Bedürfnisse biete und auf die menschliche Persönlichkeit nachteilig wirke.

Unter den deutschen Volksbildnern war es Theodor Bäuerle, der jüngst die Erkenntnis aussprach, „daß die [S. 17] stärksten volkserzieherischen Wirkungen an die Erfüllung materieller Forderungen geknüpft sind, daß ausreichender Lohn, Sicherung der äußeren Lebenslage, gesunde Wohnung von höchster volkserzieherischer Bedeutung sind, daß die Volksbildung die großen sozialen Entscheidungen und Kämpfe weder verhindern kann noch darf.“

Die proletarische Bildungsarbeit, der Kampf um den Geist innerhalb unserer Reihen kennt erst recht die harten Schranken der heutigen Gesellschaft. „Nur Höflinge des Proletariats“, sagt Otto Bauer, „können den Arbeitern einreden, daß sie heute als Proletarier alle Wissenschaft begreifen, alle Schönheit genießen können.“ Und so ist letzten Endes auch unsere Bildungsbewegung verankert nicht in Glaube, Hoffnung und Illusion, die Massen könnten innerhalb der heutigen Welt die Höhen der Geistigkeit betreten. Es ist mehr Sehnsucht nach Wissen, als Handhabung des Wissens innerhalb der heutigen Gesellschaft erreichbar. Es muß der Gegenwart genügen, die beiden Zweige der planvollen Massenschulung: Volksbildung und Arbeiterbildung kraftvoll treiben zu lassen.

Wo die Arbeiterschaft einig und eine lebendige Macht ist, vor allem durch die Voraussetzungen einer Großstadt, dort gelingt ihr das; Wien ist der klassische Boden, das große Beispiel dafür, wie Massenschulung in ihrem bürgerlichen Flügel als Volksbildung, in ihrem proletarischen Flügel als Arbeiterbildung zu erfolgreicher Auswirkung organisierbar ist. Überall, wo so gearbeitet wird, bleibt der Arbeiterschaft der Anblick erspart, die Verfälschungskünste der bürgerlichen Welt auch auf dem Gebiet der Massenbildung zu beobachten und ihnen vollends zu verfallen. Die Zerrissenheit des Proletariats in nationaler, politischer und taktischer Beziehung hat zur Folge, daß Europa eine Brutstätte der Verfälschungen der Massenbildungsbewegung [S. 18] wurde. Eine große Anzahl von Arbeiterfunktionären erkennt diese Verfälschungen noch nicht.

Vor allem die großen Verfälschungen durch den Klerikalismus. Klerikale Volksbildung ist nicht einmal konservativ, das heißt sie will nicht die Wirtschaft erhalten, wie sie ist, sie ist konterrevolutionär, ist mittelalterlich-scholastisch, ist erfüllt von Kirchenväteranschauungen. „Im 19. Jahrhundert wurden die deutschen Katholiken gezwungen, sich mit den Volksbildungsproblemen auseinanderzusetzen“, bekennt Josef Antz in einer Studie über Katholizismus und Volksbildung Und Otto Baumgarten stellt in seinen Betrachtungen über Protestantismus und Volksbildung fest: „Die Annahme, daß das Bestehende und Gewordene zugleich das Gottgewollte sei, daß die gesellschaftliche Ordnung mit ehrfürchtiger Ergebung in Gottes gnädigem Willen zu betrachten sei, daß deshalb auch ein jeder demütig und freudig in dem Stand, auch in dem Bildungsstand zu bleiben habe, in den er hineingeboren ist, diese Annahme beherrscht weithin das Denken und Streben der lutherischen Protestanten.“ Zwei Stimmen aus dem Jahre 1921!

Klerikale Volksbildung zeigt gern die Maske des Antikapitalismus. Das ist das Geheimnis, warum proletarische Massen christlichsozial werden können. Der Arbeiter hört, Christus verwerfe den Mammon, der Himmel sei den Reichen verschlossen. „So ist es recht“, sagt der Arbeiter; „dann sind wir ja einig“, fügt der Katechet hinzu. So entstand, so erhält sich die christlichsoziale Volksbildungsbewegung; sie, tritt gern ohne Flagge auf; man weiß nicht immer, daß der Vortragende, der in einem Fabrikort auftaucht, ein katholischer Volksbildner, ein Jesuit ist. Er nennt sich nicht immer Pfarrer, er fügt seinem Namen nicht immer „S. J.“ bei. Liest man aber die gegnerischen Zeitungen, so erfährt man es. Der Fall Muckermann sei erwähnt: Muckermanns Vorträge wurden in unseren Parteiblättern angekündigt. Unsere Genossen ahnten nicht einmal, daß der Herr ein Jesuit ist. (Ein so guter Jesuit ist er.) Es sind dies gewiß nur [S. 19] Entgleisungen, aber sie machen aufmerksam auf die Vermessenheit des Gegners. Unsere Aufgabe ist es, diese Wölfe auch am Schafspelz zu erkennen und die Sätze des Katholikentages von 1925 als Grundlage der aller Kirchenbildung zu verstehen:

„Im Lichte des Christentums sind die Grundlagen der heutigen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung nicht zu verwerfen. Das Privateigentum, auf dem sie aufgebaut ist, ist die vernunftgemäße Grundlage für die natürliche Daseinserhaltung des Menschen.“

Nun die nationale Verfälschung der Volksbildungsbewegung, die Heimatbildungsprediger. Ihr zustatten kommt, daß unsere Arbeiterbildungsbewegung bisher alle geistigen Kräfte dem Ausbau der Organisation zuwenden muß, daß sie sich einer wissenschaftlichen Durchleuchtung dieser ganzen Heimatbildung noch nicht hat widmen können; sie würde dem Heimatgetue den Rest geben. Noch haben wir nicht dargestellt, daß auch Heimatgeschichte Klassenkampfgeschichte ist und sein muß Wo sie anders gebracht wird, liegt Verfälschung der Vergangenheit vor. Bis wir anfangen werden, marxistische Heimatforschung zu treiben, werden die geehrten Heimatforscher sagen: „Das interessiert uns nicht, reden wir von etwas anderem.“ Es ist ein Stück Heimatgeschichte, wenn die Genossen von Abertham erfahren, daß im Jahre 1633 die Frau des Totengräbers als Zauberin mit dem Strange erwürgt, ihre dreizehnjährige Tochter enthauptet, ihr Sohn landesverwiesen wurde. Stoff für einen Heimatabend. Es wäre für die Genossen von Auscha lehrreich, von Gottfried Helft, dem Schuster, zu hören, der Anno 1617 als Führer des Bauernaufstandes auf dem Platze zu Auscha enthauptet wurde. Dokumente, die darüber wohl in der- Stadt Auscha erliegen, sollten im Lichtbild gezeigt [S. 20] werden, damit sie erkennen lassen, welches Interesse die Arbeiterschaft von Auscha hat, Heimatforschung zu treiben. Die Genossen von Aussig wären einzuladen, sich etwas über den Bauernaufstand vom Jahre 1680 erzählen zu lassen. Herr Professor Umlauf, der über die Mariensäule und über die Gründung der Kirche so viel Schönes weiß, würde er hierüber schweigen wollen? Die Genossen von Liebeschütz würde der Bauernaufstand von Jahre 1775 interessieren, der gegen die Liebeschützer Herrschaft gerichtet war. „Glücklicherweise lag Militär dort, welches die Bewegung rasch unterdrückte“, erzählt der Chronist. In der Türmitzer Reimchronik finden wir folgende Eintragung: „1774 Einigkeit, 1775 geht an der Streit, 1776 vieles Blutvergießen 1777, wir Armen weichen müssen.“ Ein Heimatabend wäre zu empfehlen! Die Warnsdorfer Genossen werden sich vielleicht ein wenig mit dem Seifhennersdorfer Freiheitsbaum beschäftigen und allem, was drum und dran hing. Auch die Warnsdorfer Weberaufstände von 1817 und 1823, wahrscheinlich die ersten auf sudetendeutschem Boden, gäben einem Heimatabend ernstes Gepräge. Von der Nachtfron des Hörigen lesen wir viel in allen Chroniken. Das sogenannte Laßfeld gehört ihm, nur der Tag gehört nicht ihm. Er arbeitet 16 Stunden, die Nacht hat der Hörige „frei“. Da kann er die deutsche Scholle pflegen. Von der Nachtfron zum Achtstundentag, von der feudalen Bierbraugerechtigkeit an allen Orten zu dem demokratischen Gemeindebestimmungsrecht auf Abstinenz – welche Entwicklungslinien für Heimatforschung. Überhaupt: Bier und Heimat, ein herrliches Thema für Heimatabende ohne Bier. Von dem Gottespfennig zur Bibliotheks- und Bildungssteuer! Auch der Kinderbettel war eine gott- und heimatgewollte Einrichtung. In Teplitzer Chroniken steht es verzeichnet, wie in den Anfangsjahren des Kapitalismus die Fabrikanten Fabriken errichteten, aber keinerlei Wohnungen für die arbeitenden Menschen. In der Zeit von 1800 bis 1830 mußten hier überall die Arbeiter in Erdhöhlen [S. 21] hausen; der frühe Kapitalismus hat hier ebenso wie auf englischem Boden die Arbeiter zu Troglodyten zurückverwandelt. „In der Heimat ist es schön.“ Man brauchte Industrieschulen und hat das Wirtshaus dazu benützt. Um den Lehrer zu bezahlen, mußten die Kinder am Dreikönigstage – es muß immer Gott dazu helfen, wenn die Kapitalisten irgendeine Niederträchtigkeit ausführen wollen – von Haus zu Haus ziehen und betteln, damit sie dafür in der Schule verdummt wurden. Eine Aufgäbe für einen Heimatabend, die Entwicklung von der Kinderbettelei zur Lehrmittelfreiheit durchzunehmen.

Befassen wir uns noch ein wenig mit der Sagen- und Märchenwelt.

Wenn wir beginnen, soziologische Enthüllungen über die Märchenmotive zu bringen – wird es den Herren erwünscht sein, zu hören, daß es zum Beispiel in Warnsdorf ein Märchen vom schwarzen Hund gibt, womit der Fronvogt gemeint ist? Den Knecht hat die Qual des Herzens seltsame Märchen erfinden heißen, wenn er auch sonst schweigen mußte: auf deutschem Boden das Märchen vom starken Hans, auf irischer Scholle die Sage vom König Cok, der im Wasser ertrinkt, „weil er“ – erzählen die Brüder Grimm – „die Brunnen im Schloßhof den armen Leuten verschloß“, in den Bergen Norwegens die Gestalt Halvors, des Landbefreiers, in der Schweiz die Sage von den drei Tellen, die im Gebirge warten –: Rebellenmärchen.

Erkennen Sie nun, wie kritisch wir sein müssen, um all das zu durchschauen? Solange wir noch schwach an geistigen Waffen sind, tun wir gut, uns zu absentieren; besitzen wir das wissenschaftliche Rüstzeug, dann gilt es, auch diese geistigen Gegner in der Illusionierung der Massen zu enthüllen. Sie treiben ihr Werk bewußt; sie wollen sozial blind machen, sie wollen ablenken, darum dieser Kult minderwertiger, kleingeistiger Altertümelei.

Alle diese Strömungen, bürgerliche Volksbildung im konservativen [S. 22] Sinne, konterrevolutionäre, nationale Bildung, klerikales Erziehungsgeflunker – letzten Endes sind sie einig. Wie die bürgerliche Politik gekennzeichnet ist durch das Verwischen der Gegensätzlichkeiten durch das Herausarbeiten des Hasses gegenüber den Arbeitern im Ernstfalle, nicht anders verhält es sich mit der geistigen Bewegung. Ein klassisches Beispiel hiefür bot die volksbildnerische Führertagung in St. Martin bei Graz Ende 1923, interessant, weil die Tagung nicht nur eine Komposition aller Verfälschungen der Volksbildungsbewegung darstellt, sondern weil sie, wie ich glaube, zum erstenmal auch eine Verfälschung der Arbeiterbildung in sich aufgenommen hat. An der Tagung hat Karl Bröger teilgenommen, jener Arbeiterdichter, der den Ruhm für sich in Anspruch nehmen kann, ein Gedicht verfaßt zu haben, das Bethmann-Hollweg während des Krieges sehr gut hat brauchen können. Bröger behauptete, der Führer der jungsozialistischen Bewegung in Deutschland zu sein. Es war ferner alles dabei, was der Verfälschung der Massenbildung dienen kann.

Doktor von Erdberg mahnte, die Volksbildung sei nicht Aufgabe einer politischen Partei. Ein Mann, der nicht mit Unrecht Kindermann heißt, sagte, es gebe neue Formen für die Volksbildung: Pfarrhofarbeit in kleinen Orten, einschließlich der bäuerlichen Fort- und Volksbildungsarbeit. Die wird in Graz. gemacht und von Direktor Steinberger von St. Martin begleitet und habe mit der Politik nichts zu tun.

Ein Hofrat erhob die rührende Forderung, die Bevölkerung an die Schönheit der Heimat zu erinnern. Der Herr Hofrat komme einmal in ein Kohlenrevier und erinnere die Bevölkerung an die Schönheit der Heimat!

„Der Satz ‚Wissen ist Macht’ muß restlos und entschlossen verabschiedet werden.“ Das hat mir am meisten gefallen. Ferner: „Abkehr von jedem parteipolitischen Standpunkt.“ Das Schlagwort von der bürgerlichen und von der proletarischen Bildung muß wieder verschwinden, die Bildung der rechten Art ist immer nur eine menschlich-völkische. Zum [S. 23] Inhalt der Arbeiterbildung muß auch Literatur, Volks- und Heimatkunst, Religion gerechnet werden. Hier zeigt sich das wahre Antlitz verfälschter bürgerlicher Bildungsbewegung. Bröger bemerkt zunächst nur: „Tatsächlich hat der Sozialismus, der vielleicht die größte Bewegung seit Christus ist, seinen idealistischen Geist verleugnet.“ Oder Bröger seinen sozialistischen Geist? Nach ihm taucht ein Herr auf, den kennen zu lernen ich leider sehr viel Gelegenheit hatte, Professor Lugmeier. Er hatte im Reichsbildungsamt der österreichischen Wehrmacht die Aufgabe, alles das, was ich 1919 bis 1921 als Leiter des Amtes erreichte, wieder zunichte zu machen. Ich erinnere mich, daß wir unter anderen Arbeiten die Aufgabe hatten, billige Bücher für die Kasernen zu schaffen. Damals erklärte der fromme Herr, das Beschaffen von Büchern zu billigen Preisen sei unlauterer Wettbewerb. In St. Martin sagte er: „Unsere Aufgabe ist die Zurückführung zu den Grundsätzen- des Thomas von Aquino“ – mit Hilfe des Karl Bröger! Und nun kommt Karl Bröger selbst, im Namen der Jungsozialisten: „Es gilt, den Menschen Marx gegen sein Wort und Werk in Schutz zu nehmen. Der Mann, der vollkommen blind war, wo sein Blick auf das Menschliche fiel, der, einer der schlechtesten Menschenkenner, in seinem logischen Gebäude nur den Blick für die Ware hat, war in seinem Leben ein glühender Idealist. Dieser Idealismus ist in den jungen deutschen Arbeitern plötzlich wieder hervorgebrochen. Die Arbeiter hatten kein Verhältnis mehr zur Jugend. Die Jungen singen und tanzen mit den Kindern. Der alte Sozialismus hatte keine Beziehung zur Landschaft. Die Jungsozialisten tragen den Staat in sich, das Ideal des Reiches.“ Er schließt: „Heute kommt es darauf an, den Menschen zu opfern, um Reich und Volk zu retten. Heute klingt am stärksten wieder das Lied „Eine feste Burg ist unser Gott.“ Ich glaube, Herr Bröger hat mit Beruhigung in St. Martin das Mittagmahl einnehmen können Es wird auch ausdrücklich gesagt, daß die Ausführungen des jungsozialistischen Arbeiterdichters [S. 24] den Höhepunkt bildeten. Ich will nur noch mitteilen, daß es eine der Hauptforderungen der ganzen Tagung war, die Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen zu pflegen.

Beispiele wiesen uns die Verfälschungen der bürgerlichen Bildungsbewegung auf. Es gilt, die Massen durch die Opposition gegenüber solchen Strömungen geistig reif zu machen für unsere Aufgaben. Die Opposition wird schon im Sumpfe der Verfälschungen des Klassencharakters allen Geistes, allen Gemüts, aller Leidenschaften, aller Neigungen, Sympathien und Antipathien zu beginnen haben. In welcher Weise übernehmen wir, führen wir nun diesen Kampf der Opposition gegen alles, was bürgerliche Kultur uns verfälschend vorsetzt? Wir wenden uns der Frage der Arbeiterbildung zu. Gerade deshalb, weil der Sozialismus die Vorgeschichte der Menschheit beendigen will, die planmäßige Kontrolle des ganzen gesellschaftlichen Lebens zur Aufgabe hat, muß er an ein Organ der Menschen sich wenden, das klassenbedingt, wie wir nachwiesen, unentwickelt geblieben ist: an den Verstand der Massen. Die Größe der Zielsetzung der modernen Arbeiterbildung ist es, das Werkzeug für den Klassenkampf brauchbar zu machen, das durch Jahrtausende nach Absicht und Wunsch der Herrschenden stumpf und ungeübt versunken lag: das Hirn der Masse. Wir verfallen aber nicht in den Fehler, uns einzig an den Verstand zu wenden. Andere Tore, der Geisteswelt des Sozialismus leichter zu öffnen, winken. Die Gegner der Arbeiterbildungsbewegung nennen den Sozialismus gerne eine rationalistische Bewegung und täuschen sich selbst mit der Behauptung, der Sozialismus wende sich bloß an den Verstand.

Wichtig bleibt es, die zwei anderen Türen zum Menschen zu kennen und zu öffnen: Charakter, Gefühl.

„Was für eine Philosophie ein Mensch bekennt, das hängt davon ab, was für ein Mensch er ist“, sagt Fichte, und [S. 25] macht damit auf den Zusammenhang zwischen Vorsatz und Persönlichkeit aufmerksam. Droht nicht unserer Bewegung die Gefahr des Risses zwischen dem Gedanken des Sozialismus und der Gefühlswelt des Bürgers im Proletarier selber? Kontrollieren wir unsere Gefühle? „Seinen Gefühlen vertrauen, heißt seinem Großvater und seiner Großmutter und deren Großeltern mehr gehorchen als den Göttern, die in uns leben: unserer Vernunft und unserer Erfahrung.“ (Nietzsche.) Wir haben eine Fülle von Arbeitern und Arbeiterinnen mit proletarischen Erfahrungen, mit revolutionierter Vernunft, aber ihrem Empfindungsleben, ihrem täglichen Verhalten merkt man sie nicht an. Wenn der Genosse Betriebsrat einen jungen Arbeiter beim Ohr nimmt mit der Rechtfertigung, er habe das auch mitmachen müssen, so wird der junge Arbeiter sein Lebtag nicht daraufkommen, daß die Hand, die ihn am Ohr hält, die Hand des „Genossen“ ist. Es gilt unser ganzes Verhalten von unserem Verstande durchtränken zu lassen, wir haben es zu kontrollieren. Wir müssen erkennbar werden. Unser Gefühlsleben, unsere Charaktereigenschaften sind bislang erstarrte Geschichte. Es gibt nicht nur Ruinen auf den Bergen, es gibt Gefühls-, Gedanken-, Charakterruinen in uns selbst. Das macht die Pflege der Feste so bedeutsam. Schade, daß nicht in Diapositiven gesammelt wird, was für Plakate zu Arbeiterfesten einladen. Alle Stufungen der Geschmacklosigkeit enthüllen sich da, bis zu der unerhörten Tatsache, daß es eine Organisation gibt, die auf einem Riesenplakat eine Gedenkfeier für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ankündigt und durch einen scharfen Strich getrennt unten hinzufügt: Um 8 Uhr abends Maskenball! Welch ein Dokument! Welch ein Mangel der Beziehungen zwischen Gefühl und Verstand. Überlastet mit politischer Arbeit, haben unsere Vertrauensmänner kaum einen Blick dafür; sie denken: Einmal sollen die Leute ihre Freude haben, warum ihnen den Spaß verderben? Aber wollen, dürfen wir den Leuten ewig den Spaß gestatten [S. 26], sich dumm machen zu lassen? Unser Klassenkampfziel kann ihnen den Spaß nicht erlauben. Jede Neugestaltung des Lebens ist unangenehm. Kampf gegen die Trägheit der Herzen dieser Zeit ist unsere Losung.

Es wäre notwendig, in der Arbeiterpresse eine ständige Rubrik einzuführen: Der industrielle Sonntag. Es gibt nicht nur ein Arbeiterrisiko bei der Maschine, sondern auch ein Arbeiterrisiko an den Maschinen der bürgerlichen Vergnügungsindustrie. Es ist für den Vertrauensmann unmöglich, bei rastloser Arbeit an den sechs Abenden der Woche die Masse wieder zu der Vernunft zurückzuführen, die sie gehabt hat, ehe sie sich am Sonntag in die Veralberungsmaschinen des Kapitalismus hineingestürzt hat. Eine Wachsamkeit und Kritik sondergleichen müßten wider die offenkundig konterrevolutionären Leistungen des kapitalistischen Sonntags aufgeboten werden. Und diese Verdummungen werden – ähnlich wie wir es von der Kinderbettelei erwähnt haben – von den Arbeitern selbst bezahlt: der Gottespfennig der Massentorheit, er wird ununterbrochen geleistet, ununterbrochen gesteigert. Welchen Sitz wollen Sie? fragt das Kino. „Geben Sie mir erste Klasse, für meine Dummheit zahle ich die Höchstpreise.“ Es gehört mit zu den Verfälschungen der Arbeiterbewegung durch die Arbeiterklasse selbst, in die Arbeiterheimstätten die kapitalistische Vergnügungsindustrie einzuführen. Eine Verbindung zwischen Bierpumpe und Massenschulung ist unmöglich. Hier harren unser ernste, schwere, notwendige Kämpfe und Siege. Wir haben die Losung unserer englischen Genossen aufzugreifen: Bread and beauty – Brot und Schönheit!

Lenken wir nun unser Augenmerk auf die Verwendung des Urlaubes.

Sie birgt Gefahren für den Urlaub selbst. Wer seine freie Zeit nicht auszunützen weiß, von dem ergreift seine tiefste Neigung gerne Besitz: der Mammonismus. Wenn ein Arbeiter [S. 27], der eine Woche Urlaub erhält, sich zum Kartoffelklauben meldet, um etwas zuzuverdienen und der Unternehmer bemerkt es, so wird er sich sagen: Ich habe dem Mann Urlaub gegeben, weil mir der Vertrauensmann sagte, der Mann sei urlaubsbedürftig, aber er arbeitet während seines Urlaubes, er will also doppelten Lohn haben. So wird der Urlaub gefährdet. Wenn wir aber den Urlaub zu einem machtvollen Organisationswerk des Proletariats gestalten, wird der Arbeiter seine 10 bis 14 Tage Urlaub so vorbereitet finden, daß er das ganze Jahr daraus Freude und Stärkung schöpft. Er kann nach Frankreich, in das Land der Mitternachtssonne, nach England kommen, er wird dort von Genossen empfangen, er sieht das Land mit seinen Industriestädten, er gewinnt neue Einblicke, er wird erkennen, warum er sich für seinen Urlaub einsetzt. Der Urlaub wird so das große Erlebnis der Massen in jedem Jahr! Freilich: auch der Kapitalismus hat Einfallstore in uns. Das Arbeiterheim kann zur Bierbude, die Arbeiterreise zum Geschäft werden. Vereinigungen, die Arbeiterreisen zur Füllung ihrer Kasse planen, seien gewarnt: auch diese Verfälschung der Arbeiterbildung wird uns nicht entgehen.

Noch ein Wort der kulturellen Opposition gegen den bürgerlichen Kalender. Beginnen wir unseren proletarischen Kalender zu gestalten!

Der erste Sonntag im Jahr: Tag der Arbeiterkinder; dann Tag der Arbeiterinnen, Tag der Gewerkschaften, Tag der Genossenschaften, Tag wider den Krieg, Tag der Arbeiterbildung, Marx-Tag, Bebel-Tag! Würden wir dies tun, würden wir unseren Nothelfern die gleiche seelische Sorgfalt widmen, wie die katholische Kirche ihren Nothelfern, es würde uns besser aus der Not geholfen werden.

Förderung und Schätzung der proletarischen Naturfreunde, der Arbeiter-Sängerbewegung, der Arbeitersportler, sie werde kräftiger, allseitiger, ausgiebiger. Gewiß sind auch diese Bewegungen, wie alles, was wir gestalten und was uns [S. 28] gestaltet, unter die Kritik des Sozialismus zu stellen. Wenn Genossen schlecht oder Schlechtes singen, so haben wir es ihnen frank und frei zu sagen. Die Arbeitersängerschaft wolle an der modernen Musik nicht vorübergehen, sie spüre die revolutionären Bewegungen auch auf diesem Gebiet, sie vermittle sie uns. Wann feiert das soziale Volkslied seine Auferstehung? Das Lied der Armen aller Zeiten, entreißen wir es vergessenen Chroniken! Beherzigen wir das Wort des tapferen Jean Baptiste Clément: „Bisher hat das Volk immer nur die Lieder gesungen, die für jedermann bestimmt waren – es ist endlich Zeit, daß es die Lieder singe, die ihm allein gelten!“ Die Arbeiterturner wollen unsere Jugend nicht im Geiste Vater Jahns erziehen! Keine Feldwebelübungen! Kein Drill, schlecht genug für Landesverteidigungsministerien! Trennen wir scharf die proletarische Körperkultur von bürgerlichem Sport! Die volle Kenntnis der Zusammenhänge zwischen Sport und Kulturgeschichte vom Gladiator bis zum Arbeiterordner werde Helferin! Je schärfer der alles umspannende Klassenkampf sich entwickelt, um so mehr werden auch die Naturfreunde sehen, daß Berg und Tal Klassenboden bleibt. Auf österreichischem Gebiet darf mit dem Abzeichen der Naturfreunde eine Schutzhütte der Bürgerlichen nicht mehr betreten werden. Genügt es aber dann, proletarische Schutzhütten zu erbauen, um darin Pfeife zu rauchen?

Alle diese Bemerkungen erhellen die Notwendigkeit der Schulung des proletarischen Charakters.

Durch tausendjährige Untertänigkeit, Hörigkeit, Autoritätsgläubigkeit wurden wir unfähig gemacht, Vertrauen zu uns selber, zu unserem Wert, zu unserer Persönlichkeit zu gewinnen. Minderwertigkeitsgefühl, verbunden, mit dem Wunsche, geringste Verantwortlichkeit zu tragen, kennzeichnet noch manchen proletarischen Verein. Kleinbürgerliche Unselbständigkeit, nistet sie nicht in unseren Reihen? [S. 29] Aber unsere Aufgabe ist nicht die Aufdeckung der Dummheit, sondern ihre Überwindung. Verstand, Charakter und Gefühl in gleicher Stärke von der Leuchtidee des Sozialismus entflammen zu lassen, ist die Kunst der neuen Erziehung. Es gibt Zusammenhänge zwischen einem Arbeitersinfoniekonzert und dem Lehrgang über Geschichte in einer Arbeiterschule im selben Orte. Wenn man in ein Sinfoniekonzert kommt und hört Schubert und fühlt diese Vormärzmusik und dann Gustav Mahler: Großstadtmusik – dann erst hat man die Geschichte, hat Musik in sich. Dieses Aufspüren der Zusammenhänge ist das Entscheidende im Werden aller Kultur. Darum ist ja bürgerliche Festkultur in unserem Gewande so beschämend für uns. Zwischen einer Faschingsunterhaltung und dem Marxismus ist keine Bindung zu schaffen.

Planvollen Zusammenklang aller sozial wertvollen Regungen des Gefühls, des Charakters, des Verstandes der proletarischen Massen zustande zu bringen, tut not. Wie aber geht der Weg dahin? Kleinarbeit, mühevolles, opferreiches, gedankenkühnes Menschengestalten rastlos von unten auf, das ist das Geheimnis. Organisation, Finanztechnik, Pädagogik – auf diesen treuen Pfeilern ruht das proletarische Erziehungsgebäude, das nur das Werk des Proletariats selber werden kann, sein wird Die Organisation der Arbeiterbildung findet ihre geglückte Form im Aufbau vom Ortsbildungsrat mit seinem Stab der Betriebs- und Häuserbildungsräte über die proletarischen Kreis- und Landesbildungsausschüsse bis hinauf zu den Arbeiterbildungszentralen, und der aus ihnen entstehenden Internationale der Arbeiterbildung. Ohne Funktionäre der Arbeiterbildung keine Arbeiterbildung! Zugleich, ja vorerst Schulung dieser Helfer und Helferinnen in eigenen, regelmäßig wiederkehrenden Bildnerkursen! Errichtung von Fachbüchereien, Herausgabe von Merkblättern und Lehrbüchern, Vermittlung der wachsenden Zahl der Zeitschriften für sozialistische Erziehung. Jeder [S. 30] unserer Mitarbeiter spüre immerfort den Zusammenhang der geistigen Bewegung vom kleinsten Fabrikdörfchen oder Waldarbeiternest bis zu den bewundernswerten Leistungen der Arbeiterakademien und großstädtischen Arbeiterbildungsinstitute, bis zu der allumfassenden Kulturarbeit des Proletariats auf den Erdball. Ewig neugenährter Ehrgeiz halte die tausend namenlosen Pioniere dieser stillen, aber gewaltigen Revolution der Geister in Atem.

Der zweite Pfeiler aller Bildung heißt Finanztechnik.

Nur eine Arbeiterschaft, die weiß, was sie mit ihren spärlichen Mitteln zu machen hat, ist reif für Bildungsbewegung Die Sozialdemokratie hat auf europäischem Boden Unsterbliches für die Schulung der Massen geleistet. Der Einsicht der Parteivorstände ist kaum je noch gerühmtes und doch unvergleichliches Mäzenatentum zu danken. Es ist aber nicht möglich, politische Mitgliedsbeiträge auf die Dauer so stark für Kulturaufgaben zu verwenden. Proletarische Bildungssteuer heißt die neue Losung, vor einem Jahrzehnt noch belächelt, heute auf dem Wege, überall Wirklichkeit zu werden, wo proletarischer Kulturwille lebt und drängt. Die Arbeiterschaft erwäge, nicht ob sie eine Bildungssteuer einführt, sondern in welchem Ausmaß Not, Elend, Krisenhaftigkeit des Augeblicks diese gestatten. Nicht an dem Gedanken ist Kritik zu üben. Der Durchführung des Gedankens diene unsere Anstrengung.

Freilich: die Bildungssteuer enthüllt Schwäche oder Stärke der Arbeiterbewegung selbst. Wer ist denn ihr Träger, ihr Quellgrund? Nur auf belgischem Boden das Proletariat in seiner Gesamtorganisation. Meist sind die Bildungszentralen immer noch nur Parteiwerk; ehrenvoll für die Partei, aber nicht letzte Gestalt. Fallen die Früchte der Massenschulung allein dem politischen Klassenkampf als Erfolg zu? Sie genießen nicht zumindest mit gleichem Anteil Gewerkschaften und Genossenschaften. Es gibt keine proletarisch-revolutionäre Bildungsarbeit – es sei denn kleingeistige, bedeutungslose [S. 31] Parteimechanik –, die so eingeengt werden könnte, daß sie nur politisch, nur gewerkschaftlich, nur genossenschaftlich erzieht. Es gibt für den Sozialisten keine politische Bildung, die nicht wirtschaftliche Schulung zugleich sein müßte. Und umgekehrt. Und den ganzen Menschen erfassen wir bis ins Gefühl, bis zum Charakter. Und wenn er Solidarität als das Herz der Arbeiterklasse klopfen hört, ist er auch als Genossenschafter solidarisch. Es taucht als Frage auf, die nicht heute gelöst wird, die aber gelöst werden muß: die Zusammenfassung aller Bildungsbewegungen und Bildungsbestrebungen von Partei, Gewerkschaft und Genossenschaft.

Dann versinkt die Vorgeschichte der Arbeiterbildung, mit ihr die Vergeudung von Geldern und Kräften, die Aufopferung von Lehrern und Schülern. Dann erst beginnt, beginnt (!) die Klassik der proletarischen Kultur. Und Arbeiteruniversität und Arbeiterbühne und Film und Radio Lind Buch und Bild und Jugendfarm und Arbeitermuseum und Festspielhalle und Arbeiterhotel treten in den Dienst des Klassenkampfes. Ça ira!

Bis dahin haben wir den dritten Pfeiler der Arbeiterbildung unbrechbar aufzurichten: die Sozial-Pädagogik. Alle Forderungen der Anschaulichkeit, der Selbsterarbeitung gilt es auch in den Schulen des Sozialismus lebendig zu machen. In unseren Lehrformen, vom Lichtbild bis zum Internat, ist uns schon manches Vorbild gelungen. Die Leistungen der sozialistischen Sonntagskurse, der proletarischen Sommerschulen mit ihren Exkursionen und Seminaren, sie verdienen längst ihren Schilderer. Was die geschulten Leiter unserer Arbeiterbüchereien im stillen wirken, wie sie die Arbeit der wissenschaftlichen Kontrolle des proletarischen Lesedurstes durchführen, wie sie täglich seine Schwankungen überprüfen und daraus Gesundheitsberichte ablesen über die [S. 32] geistigen Fähigkeiten ihrer Klassengenossen, ihre Schwächen, ihre Steigerungen – wenige wissen darum.

Doch was bald, bald, jeder Helfer des Sozialismus wissen und in sich rings zum Durchbruch reißen müßte, das sind die großen, uns selbst zur Größe mahnenden Ziele der Arbeiterbildung: Abschied vom mittelalterlichen Menschen in uns letzten Früchten kleineuropäischer Kultur, Aufleben allgemeiner wissenschaftlicher Gesinnung, Erwachen des schöpferischen Bewußtseins von der sozialen Anwendbarkeit des Wissens. Wer aber ist Helfer des Sozialismus? Auf sechs Gruppen innerhalb der Arbeiterschaft hat sich der Eifer unserer revolutionären Erzieher gleichmäßig und gleichzeitig zu erstrecken. Zunächst auf die Arbeiter, auf die Männer. In ihnen vielfach noch letzte Ruinen des Männerhochmuts. Arbeiter vergessen noch, daß Sozialismus nicht einmal halber Sozialismus ist, wäre er nur verankert in den Herzen und Hirnen der Männer. Ihr brauchen ebensosehr sozialistische Bildung der Frau. Arbeiter, geht auch in die Arbeiterinnenschulen! Erst wenn der Arbeiter und die Arbeiterin alle Ausbeutungsformen des Mannes und der Frau in der heutigen Wirtschaft kennen, wird sich eine der großen Gefühlsrevolutionen für das Zusammenleben der kommenden Geschlechter ermöglichen, die revolutionäre Kampfkameradschaft, das einzige, was von der Ehe übrigbleibt.

Aber nicht nur Mann und Frau wollen gleichzeitig geschult werden, ebenso Masse und Führer. Es soll keine Ironisierung sein, sondern Fragestellung: die Führer haben durch die Trägheit der- autoritärgläubigen, mittelalterlichen proletarischen Masse so unendlich viel zu tun, daß sie im besten Falle Zeit haben, Kurse zu organisieren, aber kaum mehr Zeit, Kurse selber zu besuchen. Neben den Massenschulen also Führerschulen!, aber letzten Endes Auflösung der proletarischen Masse in lauter Führerfunktionen.

Jeder hat Führer zu sein in einem Teilgebiet. [S. 33] Endlich neben Mann und Frau, neben Führer und Masse: Erwachsene und Kinder. Damit kommen wir zu der großen, für die nächsten Jahre entscheidenden Frage, ob, wie und mit welchem Opfermut, mit welchem leidenschaftlichen Ernst die revolutionäre Gesinnung der Arbeiterjugend zu kräftigen ist. Die Kinderfreundebewegung ist jungen Datums, kaum Jahre alt, sie zählt noch kaum tausend Ortsgruppen auf der Erde. Aber was der Vertreter dieser Bewegung jüngst in Oxford ausgesprochen hat, ist wahr: die Arbeiterschaft braucht zu ihrem Aufstieg die Besonnenheit der Erwachsenen, aber auch den Wagemut der Jugend, aber auch die Anmut der Kinder. Die Genossen, die darangehen, die Kinder zu Sozialisten zu machen, seien aufgefordert, dieser Bewegung ihre ganze leidenschaftliche Kraft zu widmen, nicht aus demagogischen Gründen – wer die Kinder hat, hat die Zukunft –, sondern, aus der Erkenntnis, daß es sich um die Veränderung des kapitalistischen Menschen handelt. Je älter man wird, um so fester sitzt Vergangenheit. Je jünger der Mensch ist, um so bildsamer erweist er sich. Wir wollen nicht vergessen, daß der Kinderbewegung ähnliche Verfälschungen drohen wie den Erwachsenen. Es gibt eine Fülle von Einrichtungen, die sich auf das Jungproletariat beziehen, aber mit Instinkten der Konterrevolution erfüllt sind. Wir wissen, welchen Geschichtskräften die Nonne im Kindergarten, der Offizier im Pfadfinderkorps zu dienen gewillt sind. Hier gilt Kerlow-Löwensteins Wort: „Die Arbeiterklasse hat dafür zu sorgen, daß die Bourgeoisie uns unsere Kinder nicht raubt.“

Haben sich uns die Beziehungen zwischen Massenschulung und Klassenkampf erhellt? Gestärkt sei die Erkenntnis: Der Kapitalismus ist auch ein Verbrecher am Intellekt, am Charakter, am Gemüt der Masse. Pestalozzi, religiöser Schwärmer, aber eben er Vorkämpfer der Volksschule, hat gesagt: „Ich kann mir kein Verbrechen an Gott, am Menschen, am Vaterland denken, das demjenigen gleichkommt, die Kräfte der Menschennatur, [S. 34] besonders im armen Menschen, mit Absicht, mit Mutwillen und Vorsatz in ihrem Keime zu ersticken.“ Dieses dem edlen Sinne undenkbare Verbrechen, den Geist der Masse mit Absicht, mit Mutwillen, mit Vorsatz zu ersticken, ist tägliche Übung dieser seelenlosen, seelenmordenden kapitalistischen Wirtschaft. Proletarische Kulturarbeit heißt: Vorarbeit zur Aufhebung dieses Verbrechens. Die Französische Revolution, der Aufstieg des Bürgertums in seiner Glanzzeit rissen Rousseau zu den Worten hin: „former des citoyens“, „Bürger machen, formen, gestalten“. Unsere Pflicht ist es, unsere Aufgabe, unsere Sendung, den Proletarier und die Proletarierin zu bilden, zu gestalten. In einer Darstellung der Niederlande aus jener Zeit, da, der Weltverkehr der Gegenwart entstanden ist, um das Jahr 1600 herum, ist zu lesen, daß damals in den Niederlanden jedes Haus eine Schiffahrtsschule, kein Haus ohne Seekarte war. Unser sei das Werk, jede Arbeiterstube zur Schule des Sozialismus zu machen, jeden Arbeiter, jede Arbeiterin zu einem Gefäß der Revolution.

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. In eckigen Klammern steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.)

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