Gemeinschaft des Geistes; Hörer, Lehrer, Bindung durch Bildung

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Author/Authoress:

Langhammer, Leopold

Title: Gemeinschaft des Geistes; Hörer, Lehrer, Bindung durch Bildung
Year: 1955
Source:

o.A.: 1905-1955 – Ein halbes Jahrhundert Volksheim. Eine Festschrift zum 5. November 1955. Wien 1955, S. 15-18.

[S. 15] Die Behauptung klingt vielleicht paradox, daß das Volksheim seine Existenz den Hörern verdanke. Aber es ist tatsächlich so. Nicht nur daß es ja sieben Hörer des volkstümlichen Universitätskurses Adolf Stöhrs über Geschichte der Philosophie waren, welche die Anregung und den Anstoß zur Gründung des Volksheims gaben, immer wieder sind es die Hörer, die Volkshochschüler, welche Träger und Kämpfer, Mittler und Werber für die Volkshochschulidee sind.

Es sind Menschen der Arbeit, die aus Liebe zum Wissen, aus dem Drang nach geistigem Fortschritt ihre Kraft und ihre Zeit dem Volksheim widmen. „Arbeiter, die nach harter Tagesmühe kommen, sich in die Stickluft enger Vortragssäle pferchen, Menschen, deren Wissensdurst stärker ist als Müdigkeit und Hunger, sie bieten ein bewundernswertes und rührendes Schauspiel“ (Romain Rolland). Auch die Lehrer haben immer ein Gefühl der Hochachtung und des Dankes den Hörern gegenüber, jenen Menschen, die aus reiner Liebe zur Sache, nicht zum Zweck des Erwerbes und des praktischen Nutzens die Kurse besuchen. Der Hörer bestimmt sozusagen den Studienplan der Volkshochschule. Nicht daß sich das Kursprogramm dem Publikumsgeschmack füge und anpasse, aber es erhält seine Grundlagen und Impulse von den Hörern. Sie, die Hörer, wissen ja am besten, was ihnen fehlt, was nottut, was die Zeit fordert, was ihnen hilft, um den Nöten und Härten der Zeit standzuhalten. Wenn man das bringt, was die Hörer vom Programm der Volkshochschule verlangen, dann wird man sich nicht leicht in das Labyrinth der Wissenschaften verirren, man wird rein praktisch die richtige Wahl der Themen und Stoffe finden, die der Mensch von heute braucht. Man darf sich nur nicht allein von der Quantität, vom Gesetz der großen Zahl leiten und verführen lassen, denn diese ist nie ein Argument des Wertes. Die Hörer der vielbesuchten Kurse bilden zwar das ökonomische Rückgrat, aber sie sind nicht der innere Kreis des konzentrischen Bildungsringes. Eine Volkshochschule, die nur Sprachkurse oder praktische Kurse pflegte, wäre ein Torso, eine Konkurrenz der Fachschulen. Ihr würde nicht nur der Zug zur wahren Bildung, zur Universalität fehlen, sondern auch der Schwung, die Begeisterung, der Elan, der wirkliche Geist der Bildung mangeln. Wir sehen heute so wie am Anfang des Volksheimes, daß die wissenschaftlichen Kurse, Philosophie, Literatur, Geschichte, Natur- und Sozialwissenschaften die treuesten und aufgeschlossensten Hörer haben und den geistigen Mittelpunkt des Volksheims bilden. Was die Hörer nun dazu führt, ihr Wissen nicht nur in Büchern zu suchen, sondern im lebendigen Wort des Vortrages, das ist der Drang nach einer geistigen Gemeinschaft, ein psychologisches Motiv der Demokratie. Demokratie ist nicht nur Diskussion, wie eine kurze Definition lautet, sie ist auch Vertrauen zur Gemeinschaft. Die Volkshochschule hat den demokratischen, sozialen Zug. Der Mensch in der Demokratie, in einem geistigen [S. 16] Zusammenhang fühlt, daß ihm ungeahnte neue, starke Kräfte in der Gemeinschaft zuströmen, um so mehr, als es ja eine selbstgewählte, man möchte sagen gleichgesinnte Gemeinschaft, eine Gesellschaft der Freunde ist, in die er eintritt. Der Hörer wählt in der Volkshochschule das Thema, den Lehrer, die Form und Art seiner Mitarbeit.

Das Motiv der Freiwilligkeit, der Wahlfreiheit ist im Volksheim ein wichtiger psychologischer und pädagogischer Faktor. Was man sich selbst gewählt hat, das liebt man, das ist ein Stück des eigenen Selbst, dem bleibt man treu. Die Volkshochschule setzt einen gewissen Grad von eigenem Kulturbewußtsein und von sozialer Haltung voraus, von richtigem demokratischen Verhalten.

Der Hörer ist kein Neutrum, kein unbeschriebenes Blatt, kein passives Objekt der Unterweisung. Er tritt mit sicheren Zielen an die Aufgabe der Bildung heran, mit dem instinktiven Bewußtsein, was er braucht. Nicht nur zu einem bestimmten praktischen Zweck, sondern mit dem Willen, sich eine Bildung zu erwerben, die sein Selbstvertrauen, seine Selbstachtung, sein Lebensgefühl steigern, eine Bildung, die ihn stärker, froher, glücklicher, freier macht, die ihn zur geistigen Aktivität reifen läßt, ihn seelisch und geistig erhöht und vervollkommnet und ihn die oft mechanische, einförmige Berufsarbeit leichter ertragen läßt. Volksbildung ist die geistig-seelische Ergänzung der Berufsarbeit, eine Kompensation der Arbeitsteilung. Der Mensch will nicht nur Buchhalter, Korrespondent, Kassier, Agent, Polier, Chauffeur, Schaffner, Verkäufer, Eisendreher, Monteur u. a. sein, er will seinen Anteil an den wundervollen geistigen Gütern haben, die ihn fühlen lassen: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“ Die Hörer suchen nicht nur Wissen und Kenntnisse oder Konversationsstoff in den Kursen, sie wollen geistige Erhebung und seelischen Kontakt.

Die soziale Differenzierung hört auf in der Volkshochschule, friedlich und kollegial, freundschaftlich und kameradschaftlich sitzen hier nebeneinander der Bankbeamte und der Eisenbahner, der Erdarbeiter und die Stenotypistin, der Hochschüler und der Magazineur, der Gymnasiast und der Tischlerlehrling, der Gärtner neben dem Schriftsteller, sie sind im gleichen Geist vereint, in der Freude am Lernen, im Interesse an geistigen Werten. Wir machen auch im Volksheim gar keine Unterschiede der sozialen Stellung oder Vorbildung, es gibt keine Kurse für Gebildete und „fürs Volk“, die Philosophie, die Dichtung, die Biologie, die Mathematik, die Geschichte, die wir lehren wollen, muß für alle Menschen, die lesen und schreiben können, die hören und dem Wort folgen wollen, in gleicher Weise gedacht und faßbar gemacht werden.

Die Volkshochschüler suchen nicht nur Belehrung, sie suchen sozusagen Erbauung, sie bauen sich ein eigenes Weltbild, das nicht ohne Einfluß auf ihren Charakter und auf ihre Lebensführung bleibt. Bildung ist zuletzt auch Charakterbildung. Der Schüler, der Student ist noch unfertig, er will durch den Unterricht in seinem Fach ein approbierter Spezialist werden, die Hörer der Volkshochschule sind in diesem Sinn keine Schüler, sie wollen etwas erwerben, was man in keiner anderen Schule lernt. So [S. 17] muß auch der Lehrer der Volkshochschule eine andere Pädagogik und Didaktik haben als der Lehrer der Pflicht- oder Mittelschulen. Er muß die geistigen und künstlerischen Dinge bildhaft, anschaulich, lebendig und interessant darstellen können, Dinge, die nicht nur erlernt, sondern erlebt werden sollen. Die Hörer sind aufgeschlossen für das Erlebnis, aber nicht bereit, schulmäßig zu lernen. Der Schüler lernt zu Hause, repetiert, rekapituliert – der Volkshochschulhörer nimmt in der Stunde des Vortrags auf – was er da nicht aufnimmt und erlebt, das erlernt er nicht. Der Hörer verlangt vom Lehrer im Volksheim eine besondere Kunst des Vortrags, einen gewissen Enthusiasmus, eine eindringliche, intensive Vortragstechnik.

Bei aller Wichtigkeit der Debatte, die man neuerlich hervorhebt, entsteht leicht die Gefahr, daß eine allzu flüchtige Diskussion den Eindruck des Vortrags zerstört und die Gedanken eher verflacht als vertieft. Im großen und ganzen gibt es keine unumstößliche Methodik in der Kunst der Mitteilung, der Wissensübertragung. Der Lehrer an der Volkshochschule steht immer vor der neuen Aufgabe, angesichts der ungleichen Voraussetzungen der Hörer eine eigene Art der Belehrung zu improvisieren. Die Aufgabe der Lehrer an der Volkshochschule ist nicht Erziehung, sondern Bildung des Menschen. Am Bilde, am Geschauten, Erlebten, Erfahrenen bildet sich der Mensch. In der Erziehung ist der Mensch immer noch Objekt, er ist passiv, er „wird erzogen“. In der Bildung ist er autonom und aktiv, er „wird“ nicht gebildet im passiven Sinn, er bildet sich selbst. Mehr als an der Universität, die dem Hörer viel Freiheit und Wahl läßt, ist die Bildung an der Volkshochschule eine freie, freiwillige und individuelle. Der Volkshochschulhörer ist der aktivste Hörer, er bildet sich wirklich allein und aus eigener Initiative selbst. Er ist nicht nur „Hörer“, denn Zuhören allein genügt nicht, er ist Mitarbeiter, Mitschöpfer eines geistigen Prozesses, wie der Hörer einer Beethovensymphonie oder eines Goetheschen Werkes Mitschöpfer und Erwecker einer geistigen Kraft ist, die sich in dem Werk offenbart.

Wie in der Kunst, so ist auch in der höchsten Form der Mitteilung Gebender und Empfangender eins. Das Wort „Hörer“ ist für den Teilnehmer eines Volkshochschulkurses zu nüchtern, zu kalt. Er gibt nicht die Beziehung, die Atmosphäre, die eigenartige Bindung wieder, die zwischen Lehrer und ergriffenem Teilnehmer besteht. Kein Erzieher, kein Bildner ist denkbar ohne den Geist der Liebe, der Liebe zur Sache und der Liebe zum Menschen. Es bildet sich in einem Kurs, in einer Arbeitsgemeinschaft eine Atmosphäre der Zusammengehörigkeit, des Vertrauens und der Sympathie.

Der Lehrer muß nicht nur erfüllt sein von der Liebe zur Sache und zum Menschen, er muß auch Freude an seiner Arbeit haben und diese Freude bei anderen erwecken und stärken können. Wer den Glauben an Kunst und Wissenschaft hat, dem schenken sie auch Glück und Freude, jene Lebensfreude und Kraft, die der Mensch braucht, um das Leben zu meistern.

[S. 18] Wir haben in der Volkshochschule kein Mittel, um zu erfahren, ob unsere Saat auf fruchtbaren Boden gefallen ist, unsere Hörer machen kein Kolloquium, keine Prüfung, keine Dissertation, aber darauf kommt es ja auch nicht an. Wir haben das sichere Gefühl, daß unsere Hörer mit uns lernen, mit uns „werden“, mit uns teilnehmen am Wissensprozeß, mit uns arbeiten an dem, was mehr ist als Wissenschaft und Fachkenntnis: an der Lebensgestaltung.

Wir haben das Gefühl, daß alles Trennende zwischen uns und ihnen fällt, daß zwischen Wissen und Leben Brücken geschlagen werden, daß vor uns die hohe Aufgabe steht, auf diesen Brücken die Menschen hinüber zu führen in ein Reich der Freiheit, des Glückes und der reineren, edleren Menschlichkeit. Wir sind selbst Schüler unserer Hörer geworden, wenn wir sie zu Brüdern und Geistesverwandten gemacht haben.

 

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. In eckigen Klammern steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes.)

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