Für Freiheit und Vernunft. Ansprache an der Wiener Universität zur Eröffnung der volkstümlichen Hochschulkurse

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Author/Authoress:

Fischer, Ernst

Title: Für Freiheit und Vernunft. Ansprache an der Wiener Universität zur Eröffnung der volkstümlichen Hochschulkurse
Year: 1945
Source:

Schriftenreihe „Neues Österreich“, 1. Heft, Wien

Subject descriptor: University Extension / Verbände

[S. 3 ] Euer Magnifizenz! Meine Herren Professoren! Meine Hörer und Hörerinnen!

Wir stehen auf Trümmern und Gräbern. Aber wir haben das zurückgewonnen, was jedes Volk braucht, um atmen und leben zu können: die Freiheit. Mehr als je ist uns allen der Wert der Freiheit bewußt und jeden von uns beseelt die Entschlossenheit, diese teuer erkämpfte Freiheit höher zu achten, besser zu schützen und stärker zu untermauern als jemals in der Vergangenheit. Ein Volk, das die Freiheit preisgibt, hört auf, ein Volk zu sein. Es sinkt zur Gefolgschaft herab, zur gleichgeschalteten Menschenherde. Ein Volk, das die Freiheit liebt und für sie einsteht, birgt in sich jene Schöpferkraft, die alle Schwierigkeiten der Armut, der Zerrüttung und der Zerstörung überwindet. Ich spreche zu Ihnen als Anhänger einer Geschichtsauffassung, die vielen von Ihnen fremd ist, der materialistischen Geschichtsauffassung. Und eben darum möchte ich meinen unerschütterlichen Glauben an die Macht großer gesellschaftlicher Ideen, an die fortschreitende Entwicklung des Menschengeschlechts, an die unbesiegbare Kraft der menschlichen Freiheit hervorheben. Ich bin von der leidenschaftlichen Überzeugung durchdrungen, daß die weise Pallas Athene mächtiger ist als der brutale Mars, daß Vernunft und Freiheit die geschichtliche Bestimmung des Menschen sind.

Vernunft und Freiheit!

In der tapferen, unbeirrbaren und ich möchte sagen begeisterten Verwirklichung dieser beiden Begriffe sehe ich die wesentliche Aufgabe der Hochschulen. Von dieser Wiener Universität ist manches Leuchtfeuer der Vernunft und Freiheit ausgegangen. Ich denke hier zum Beispiel an die berühmte Wiener Schule der Medizin, die Hervorragendes geleistet hat in dem großartigen Kampf des Lebens gegen den Tod, in dem Kampf menschlicher Einsicht, Erkenntnis und Entschlossenheit gegen [S. 4 ] die blinden Mächte der Natur, gegen den dumpfen Zufall, der mit dem Körper des Menschen sein Spiel treibt. Die zoologische Weltanschauung des Faschismus hat das tierische Element des Menschen, das Blut, den Muskel, die primitive Körperlichkeit zum Schicksal, zum Fatum erhoben. Im Gegensatz zu dieser unmenschlichen Lehre hat der menschliche Geist der Wiener Medizin nicht vor den Zufällen der Natur kapituliert, sondern ihre Gesetze erforscht und dadurch das Werk der Vernunft und der Freiheit gefördert. Ich spreche mit größter Bewunderung von diesen glanzvollen Traditionen der Wiener Hochschulen, aber gestatten Sie mir, in aller Freimütigkeit nun von weniger ruhmreichen Traditionen zu sprechen, von Mißständen der Vergangenheit, die zu überwinden unsere gemeinsame Pflicht und, wie ich überzeugt bin, unser gemeinsamer Wille ist.

Es läßt sich nicht leugnen, daß zum Teil österreichische Hochschulen jahrzehntelang auch Brutstätten jener Reaktion, jener pervertierten Weltanschauung waren, die in dem blutigen Hitlerismus ihren schauerlichen Höhepunkt gefunden haben. (Zustimmung.) Es läßt sich nicht leugnen, daß jahrelang von manchen Kanzeln der Wiener Universität und anderen österreichischen Universitäten nicht nur unösterreichische, sondern geradezu antiösterreichische Anschauungen verbreitet wurden. (Rufe: Sehr richtig!) Wir müssen heute im Lichte brennender Erfahrungen manches deutlicher sehen als in der Vergangenheit. Wir müssen sagen, daß in jenen preußisch-deutschen Geschichtsfälschungen, die hier nicht allzu selten von der Kanzel vorgebracht wurden, einer der Keime zu dem Unglück liegt, in das Österreich gestürzt ist. (Zustimmung.) Wir müssen heute feststellen, daß von manchen Kanzeln der Wiener Universität nicht nur undemokratische, sondern antidemokratische Anschauungen in die Hörer hineingetragen wurden. Und wir müssen eingestehen, daß auch hier, wie in sehr vielen anderen Lehrstätten nicht nur Österreichs, sondern Europas, jene verhängnisvolle Weltanschauung des Irrationalismus, jene Geringschätzung der Freiheit und Vernunft den Hörern mit auf den Weg gegeben wurde.

Und weiter: Aus den Reihen der Wiener Studentenschaft sind manche bedeutende Gelehrte, Fackelträger fortschrittlicher Gedanken hervorgegangen. Aber beträchtliche Teile der Studentenschaft auf akademischem Boden waren – man muß das offen aussprechen – weit mehr politische Prügelgarden als Lernende [S. 5 ] der Wissenschaft. (Stürmische Zustimmung.) Es ist nur allzu häufig gelungen, die Göttin der Weisheit mit Knüppeln aus der Universität, aus der Studentenschaft hinauszuschlagen und die Herrschaft des frechen, prahlenden Mars an der Hochschule aufzurichten. Ich bin der Meinung, daß an den Wiener Hochschulen nie wieder Platz sein darf für jenen Typus des Studenten, der meint, die Farbe einer Mütze sei wichtiger als der Inhalt der Gehirnwindungen, der meint, es sei wichtiger, auf der Mensur als in der Wissenschaft seinen Mann zu stellen. (Lebhafte Zustimmung.) Ich denke mit Ihnen übereinzustimmen, wenn ich sage, daß es unser aller Interesse ist, aus den Hochschulen wirkliche Stätten des freien Lernens und des freien Lehrens zu machen, daß Hochschulen keine politischen Paukböden, sondern Stätten der Wissenschaft sein müssen. (Zustimmung.) Es soll und muß natürlich jedem Hörer und jeder Hörerin der österreichischen Hochschulen freistehen, ihre politische Meinung zu bilden, einer politischen Richtung anzugehören. Aber ich glaube, die Auseinandersetzung, der Zusammenstoß dieser politischen Richtungen gehört nicht auf den Boden der Hochschule, sondern jeder hat die Möglichkeit und Gelegenheit, außerhalb der Hochschule im Rahmen einer Partei für seine politische Anschauung einzustehen. (Zustimmung.) Mit der Entartung der akademischen Freiheit in der Vergangenheit müssen wir endgültig Schluß machen. Die Hochschulen sollen in Zukunft Schulen der Wissenschaft, Schulen der wirklichen, der wahrhaften Menschenbildung auf allen Gebieten, Schulen der demokratischen Volksverbundenheit der Intelligenz mit den Arbeitern, den Bauern und den Handwerkern, und schließlich und endlich und vor allem österreichische Hochschulen sein. (Lebhafter Beifall.)

Unterschätzen Sie nicht die Rolle, die dem Intellektuellen, die der Intelligenz in dem großen Schicksalskampf dieses Jahrhunderts zukommt. Es ist für jede Nation das größte Verhängnis, wenn eine Kluft zwischen Volk und Intelligenz entsteht. Es gehört zum Leben, zur Zukunft jeder Nation, daß Einheit walte zwischen den Massen des Volkes und zwischen den Trägern der Intelligenz. Wir wollen niemals vergessen: das Volk braucht den Intellektuellen, aber noch zehnmal mehr braucht der Intellektuelle das Volk. (Lebhafte Zustimmung.) Und hier muß man ebenso freimütig feststellen, daß in den vergangenen Jahren und [S. 6 ] Jahrzehnten in Österreich vielfach keine gesunden, normalen Beziehungen zwischen den Intellektuellen und den Massen der Arbeiter und der Bauern bestanden haben. Es herrschte in breiten Schichten des österreichischen Volkes ein gewisses Mißtrauen gegen den Intellektuellen, und das war nicht die Schuld des Volkes, sondern vor allem die Schuld der Intellektuellen. Ich weiß, daß Arbeiter und Bauern gerne bereit sind, überlegene Bildung anzuerkennen, daß sie gerne bereit sind, in dem Intellektuellen einen Menschen zu sehen, der berufen ist, auf manchen Gebieten voranzuschreiten, ein Lehrer, ein Helfer des Volkes zu sein. Ich kann aus langjähriger Erfahrung darauf hinweisen, wie es zum Beispiel in Sowjetrußland für jeden Arbeiter und Bauern selbstverständlich ist, daß für den Intellektuellen, für den Gelehrten, für den Professor, für den Künstler in jeder Weise und in allen Formen gesorgt wird. In der Zeit der Revolution 1917, als Millionen in Rußland hungerten, hat man alles getan, um führende Gelehrte wie Timirjasew, Pawlov und andere sicherzustellen, ihnen einen Lebensstandard zu geben, der sich wesentlich unterschieden hat von der Masse des Volkes. Und es ist heute so, daß in Rußland kein Arbeiter und kein Bauer verstehen würde, wenn man den Gelehrten, den Künstler, den Schriftsteller nicht auf eine hohe Warte stellt, ihm ausgezeichnete Lebensmöglichkeiten bietet. Die Bereitschaft des Volkes ist überall groß, den Intellektuellen Anerkennung, Achtung und Liebe entgegenzubringen.

Nun, worin liegen die wesentlichen Ursachen, daß es in der Vergangenheit in Österreich kein herzliches Verhältnis zwischen Volk und Intellektuellen gegeben hat? Ich denke, die wesentlichen Ursachen dafür liegen in einer gewissen undemokratischen, ja sogar antidemokratischen Einstellung, die unter nicht wenigen Intellektuellen in Österreich großgezüchtet worden ist; aber sie liegen meiner Meinung nach weit mehr noch in der verhängnisvollen Orientierung eines großen Teiles der österreichischen auf die deutsche Intelligenz, in der Volksfremdheit, die dadurch in vielen österreichischen Intellektuellen entstanden ist, daß sie ihren Nährboden nicht in der Eigenart des österreichischen Volkes gesehen haben, daß sie mit Luftwurzeln in das Deutsche Reich hinausgegriffen haben, anstatt sich mit Erdwurzeln an Österreich festzusaugen. (Zustimmung.) Die deutsche Intelligenz war kein glückliches Vorbild für die österreichische. Der deutsche Intellektuelle [S. 7 ] hat sich unter besonderen, unter sehr tragischen geschichtlichen Umständen entwickelt, und seine geschichtliche Entwicklung unterscheidet sich zum Unglück des ganzen deutschen Geschicks in vielen wesentlichen Fragen von der Entwicklung der französischen, der englischen oder der russischen Intelligenz. Es war in jener Zeit, in der sich die Nationen herausbildeten, in Frankreich, in England und in Rußland selbstverständlich, daß der Intellektuelle als Kämpfer mitten in seinem Volk, mitten in der Gesellschaft stand. Es gibt kaum einen französischen Philosophen, Gelehrten oder Schriftsteller, der nicht als politischer Kämpfer in einem hohen Sinne des Wortes gegen die Mächte der Reaktion zu Felde gezogen ist. Es gibt in Rußland, in der Geschichte der russischen Intelligenz kaum einen einzigen russischen Schriftsteller und Gelehrten, der nicht auf der Seite des Volkes im Kampfe gegen Geheimpolizei, gegen Zarismus, gegen die Reaktion gestanden ist. Und es war der Stolz des russischen Intellektuellen, einmal in seinem Leben in der Verbannung gewesen zu sein. Zum Unterschied davon hat sich in der deutschen Intelligenz eine Einstellung herausgebildet, die unpolitische Objektivität genannt wurde und die in Wahrheit feige Flucht vor den großen geschichtlichen Aufgaben der deutschen Nation, des deutschen Volkes war. (Lebhafte Zustimmung.) Es hat in Deutschland, in der deutschen Intelligenz nur sehr wenige und sehr einsame Kämpfer für gesellschaftliche Entwicklung, für geschichtlich politischen Fortschritt gegeben: der heroisch zusammenbrechende Lessing, der unendlich einsame Heinrich Heine, einige wenige andere. Und sogar die Größten des deutschen Geisteslebens, Männer, deren Wipfel weit hinausreichten über Deutschland und über Europa, Goethe, Hegel, sogar sie, Titanen im Reiche des Geistes, waren sehr ängstliche und sehr behutsame Philister auf dem Boden der Wirklichkeit. Der Dichter des „Prometheus“, der himmelstürmende Goethe, trug zu gleicher Zeit einen Philisterzopf, der manchmal sehr peinlich diesem griechischen Götterbild anhaftete. In dieser deutschen Intelligenz, auf Grund der tragischen Entwicklung seit der Reformation und dem Dreißigjährigen Krieg, auf Grund des schrecklichen Provinzialismus, des dumpfen Mystizismus, der engen Perspektive, die so lange Zeit deutsches Schicksal war, hat sich eine verkrüppelte Intelligenz herausgebildet. Auf der einen Seite der sehr pflichtbewußte, sehr tüchtige, sehr eifrige deutsche Fachmann, der jedem gedient hat, der deutsche Fachmann, der über Auftrag gewaltige Leistungen der Zivilisation und über Auftrag Vernichtungslager von Maydanek schuf. (Zustimmung.) Und [S. 8 ] auf der anderen Seite jener in der gesamten gesitteten Welt überhaupt nicht verständlich zu machende Typus des ehemaligen deutschen Couleurstudenten, des deutschen Rauf- und Saufstudenten.

Es war also keine glückliche Wahl, wenn die Österreicher sich auf diese besonders rückgratlose deutsche Intelligenz orientierten. In Österreich kam nun die eigenartige Entwicklung dazu, die den großdeutschen Gedanken hervorbrachte und zum Unglück unseres Volkes weiter und weiter geschleppt hat. Die großdeutsche Idee war keineswegs immer eine reaktionäre Idee, sondern im Gegenteil: die großdeutsche Idee des Jahres 1848, in deren Namen die Arbeiter und Studenten von Wien brüderlich vereint auf die Barrikaden gegangen sind, das war damals eine große, fortschrittliche Idee, die Idee der demokratischen, revolutionären Vereinigung aller deutschsprechenden Menschen zu einer Nation, die Freiheit und Vernunft in der Mitte Europas verwirklichen sollte. Diese Idee trug in sich den Willen, in Preußen und in Österreich und in den deutschen Lokalstaaten das Mittelalter mit einem Sprung und einem Schwung hinwegzufegen und aus dem unglücklichen deutschen Volk oder, besser gesagt, den unglücklichen deutschen Völkern, denn sie waren damals noch keine Nation, aus ihnen in einer großen, demokratischen, revolutionären Volksbewegung eine Nation zu schaffen. Zum Verhängnis Mitteleuropas, ja zum Verhängnis der gesamten europäischen Entwicklung ist 1848 zusammengebrochen. Das Deutsche Reich mit Ausschluß der Österreicher ist auf einer anderen, auf einer sehr gefährlichen Basis entstanden, nicht auf der Grundlage einer großen Volksbewegung, sondern auf der Grundlage der Bajonette einer siegreichen Armee. Und es war für mich immer ein ungewöhnlich starkes Erlebnis, zu sehen, welches Bild der Nationwerdung in der deutschen Wohnung, und welches in der französischen Wohnung zu sehen ist. In der französischen Wohnung der Sturm auf die Bastille, Volk und wieder Volk. In der deutschen Wohnung der Spiegelsaal von Versailles, Uniformen, Pickelhauben, Kürasse und Säbel, nicht ein einziger Mensch in Zivil und von Volk weit und breit keine Rede. (Zustimmung.)

In dieser weiteren Entwicklung hat der großdeutsche Gedanke in Österreich seine alte Bedeutung, seine alte geschichtliche Funktion verloren. Er ist nur dem Namen nach derselbe geblieben, in Wirklichkeit aber etwas völlig anderes geworden. Es waren nicht mehr die vorwärts drängenden fortschrittlichen Kräfte, es waren die reaktionären Kräfte Österreichs, die zu Trägern einer [S. 9 ] neuen großdeutschen Bewegung in der Habsburger Monarchie und später in der Republik wurden. Was war denn der wesentliche Inhalt dieser neuen, nicht mehr im Achtundvierzigerjahre verwurzelten großdeutschen Gedanken? Jedesmal, wenn im alten Österreich-Ungarn den slawischen Völkern die geringsten demokratischen Konzessionen gemacht wurden, und sei es auch nur eine slowenische Schulklasse am Gymnasium in Cilli, jedesmal brauste wie Wogenprall diese großdeutsche Bewegung in Österreich hoch. Jedesmal in solchen Augenblicken wurden die Worte von der deutschen Irredenta in Österreich, von der Sprengung dieser alten Völkergemeinschaft gesprochen. Der wesentliche Inhalt dieser neuen großdeutschen Bewegung war Verhinderung der demokratischen Entwicklung im Donaugebiet, Verhinderung der demokratischen Verständigung des Österreichers mit seinen Nachbarvölkern, die Drohung mit dem „großen Bruder“ gegenüber den slawischen Völkern. Mehr und mehr wurde dadurch Österreich seiner eigenen Aufgabe, seiner eigenen Politik entzogen, mehr und mehr in das Fahrwasser des aggressiven deutschen Imperialismus hineinmanövriert, bis schließlich und endlich die Österreicher die Ehre hatten, in zwei verlorenen Weltkriegen für fremde, für preußisch-deutsche Interessen das Blut ihrer Söhne zu vergießen. (Lebhafte Zustimmung.)

Ich bin überzeugt, daß die schrecklichen Erfahrungen der letzten Jahre nicht spurlos vorbeigegangen sind, auch an vielen von denen nicht spurlos vorbeigegangen sind, die ehrliche und idealistische Anhänger des großdeutschen Gedankens waren. Heute haben wir nicht mehr über die großdeutsche Idee zu diskutieren, denn wir haben die großdeutsche Wirklichkeit erlebt. (Lebhafte Zustimmung.) Dieses Großdeutschland, das einzige und einmalige, das Wirklichkeit geworden ist, hat ein für allemal die großdeutsche Fahne in den Schmutz gerissen und den unwiderruflichen Willen der Österreicher zur Unabhängigkeit Österreichs hervorgebracht. (Zustimmung.)

Nicht nur diese geschichtlichen Erfahrungen scheinen mir tragfähige Grundlagen für eine neue Entwicklung, eine volkstümliche Entwicklung der österreichischen Intelligenz zu sein, sondern wir müssen sehen, daß in der ganzen Welt sich völlig neue Beziehungen zwischen Volk und Intelligenz herausgebildet haben und weiter herausbilden. In diesem größten Freiheitskrieg der Völker gegen Hitlerdeutschland sind in allen Ländern Europas unendlich viele [S. 10 ] Vorurteile der Vergangenheit hinweggeschwemmt worden. Die Menschen verschiedener Klassen, verschiedener Weltanschauungen haben sich so kennengelernt, wie Menschen einander nie zuvor kennenlernen konnten, in der schrecklichen Nacktheit der Konzentrationslager und Gefängnisse, in der Kampfgemeinschaft auf Tod und Leben gegenüber einem frechen Unterdrücker. Und wenn wir etwa nach Frankreich blicken, wo Organisatoren der französischen Partisanen der ehrwürdige französische Gelehrte Langevin, die großen französischen Physiker Joliot und Irene Curie, die größten französischen Schriftsteller waren, wenn wir wissen, wie diese geistigsten Menschen unterirdisch Schulter an Schulter mit französischen Arbeitern, Soldaten, Bauern gemeinsam den Kampf organisiert haben, dann versteht man, daß hier eine völlig neue Einheit, eine blut- und geistesgeschmiedete Einheit zwischen den Intellektuellen und dem Volk entstanden ist. Und so in Jugoslawien, so in Dänemark so in Norwegen, so in allen unterdrückten Ländern Europas. Auch in Österreich, in den Konzentrationslagern und Gefängnissen, in denen Österreicher geschmachtet haben, ist diese neue Einheit des Volkes, diese neue Einheit von Arbeitern, Bauern, Handwerkern und Intellektuellen entstanden.

Was sind die entscheidenden Grundlagen dieser neuen Einheit von Volk und Geist, die wir überall feststellen? Wir alle haben uns überzeugt, daß die vieltausendjährige Zivilisation der Menschheit eine viel, viel dünnere Kruste ist, als wir alle geglaubt haben. (Rufe: Jawohl!) Wir alle haben uns überzeugt, daß es unerläßlich ist, in brüderlicher Kampfgemeinschaft die gefährdeten Fundamente der menschlichen Gesittung gegen die Bestialität zu verteidigen. (Zustimmung.)

Ich weiß, daß mich, den Kommunisten, gar manches von einem demokratischen Anhänger kapitalistischer Wirtschaftsformen oder von einem demokratischen katholischen Priester trennt, aber in manchen grundlegenden Fragen fühle ich mich zutiefst mit ihnen verbunden: im Bekenntnis zu Menschenrecht und Menschenwürde, zur Freiheit der Persönlichkeit, zu den großen Ideen und Schöpfungen einer vieltausendjährigen Kultur, in der unbeugsamen Entschlossenheit, den Frieden der Völker und die Fundamente der menschlichen Gesittung um jeden Preis zu verteidigen. Ich fühle mich eins mit ihnen, wenn ich sage: Freiheit, Vernunft, Humanität und Österreich. (Stürmische Zustimmung.)

Wir erleben eine Renaissance der Demokratie und des Humanismus. [S. 11 ] Wir kennen die Schwäche der Demokratie in der Vergangenheit. Es hatte den Anschein, als wolle niemand für sie sterben. Aber keine Idee kann leben, für die man nicht auch zu sterben bereit ist. Allzu lange ist die Demokratie, die man nur als eine Frage des Stimmzettels und nicht des täglichen Kampfes, der täglichen Bewährung betrachtete, vor ihren Feinden zurückgewichen. Allzu lange konnte der Eindruck entstehen, die Demokratie sei matt und welk geworden, es lohne sich nicht, für sie das Leben einzusetzen. Ähnlich stand es mit dem Humanismus. Viele haben Humanität mit Resignation verwechselt, mit Wehrlosigkeit, mit einer reinen Gefühlssache. Es war eine leidende, keine tätige Humanität. Das ist anders geworden: die Demokraten haben gelernt, ihr Leben für die Demokratie einzusetzen, und die Humanisten haben gelernt, mit der Waffe in der Hand den Menschen gegen die Bestie zu schützen. (Beifall.) So soll es bleiben. Niemals dürfen sich unsere Herzen verhärten, aber unsere Hände müssen hart sein wie Stahl im Kampfe gegen den Menschheitsfeind. Volle Demokratie für alle Demokraten, aber keine Demokratie für faschistische Verschwörer. Die Menschlichkeit gebietet, den Unmenschen zu vernichten, und die Demokratie gebietet, den Faschismus bis an die Wurzel auszurotten. (Lebhafte Zustimmung.)

Und schließlich: die geistigen Menschen haben verstehen gelernt, daß sie verloren sind ohne den Schutz, den ihnen die freiheitsliebenden Völker gewähren. Wenn künftig der Gelehrte wieder die Wahrheit lehren darf, der Arzt ein Diener des Lebens und nicht ein Handlanger des Todes ist, der Richter Recht und nicht Unrecht spricht, der Priester frei seinen Glauben verkündet und der Künstler dem Gesetz seines Wesens und nicht dem Befehl frecher Machthaber gehorcht – dann, meine Hörer und Hörerinnen, mögen all diese geistigen Menschen niemals vergessen: sie danken dies dem Blutopfer freiheitsliebender Völker, sie danken dies den Verteidigern von Stalingrad und Leningrad, sie danken dies der Entschlossenheit und Standhaftigkeit der verbündeten Nationen. (Lebhafte Zustimmung.) Der namenlose Rotarmist in der Steppe des Ostens, der unbekannte Tommy in den Wüsten Afrikas, der todesverachtende Partisan in den Bergen Jugoslawiens und in vielen anderen Ländern – sie haben die Zivilisation gerettet, sie haben die Flamme des Geistes, der Freiheit, der Kunst und Wissenschaft neu auf Erden entzündet. Die kämpfenden Hände [S. 12 ] der freiheitsliebenden Völker haben dem Geiste treuer gedient, als ihm je zuvor gedient wurde. Das Bündnis zwischen Volk und Intelligenz ist mit dem Blut unsterblicher Opfer besiegelt. Vergessen Sie das nie, meine Hörer und Hörerinnen!

Es ist eine neue Einheit des Volkes entstanden. Das ist noch ein Gären und Werden, unausgereift und unvollendet. Es gilt, die Erfahrungen und Erkenntnisse der einzelnen und der Volksmassen dauerhaft zu machen, ihnen gefestigte Form zu geben. Der lnhalt ist da: Das Wissen um gemeinsame Menschenrechte, demokratische Entschlossenheit, kampfgestählte Humanität, das Bündnis zwischen Volk und Geist. Helfen Sie mit, dies alles zur Reife zu bringen, aus dem Springquell des Volkes neue Kräfte zu schöpfen und die österreichische Intelligenz tief im ewigen Nährboden des Volkes zu verwurzeln. Die Hochschule muß ein Bollwerk des Geistes und des Volkes sein. (Lebhafte Zustimmung.)

Und weiter, meine Hörer und Hörerinnen:

Die Hochschule muß ein Zentrum österreichischen Geisteslebens sein, ein geistiges Zentrum Österreichs. Gestatten Sie mir, einige Worte über unser schwer geprüftes Österreich zu sagen. Ich habe immer an Österreich geglaubt und glaube heute fester denn je an seine Lebenskraft, an seine Wiedergeburt auf allen Gebieten. Als die preußisch-deutschen Eroberer den Namen Österreichs ausradierten, da ist dieser Name für uns zum unauslöschlichen Bekenntnis geworden, da haben wir uns gelobt: Österreich wird sein! (Stürmische Zustimmung.) Das sogenannte Großdeutsche Reich wird zusammenbrechen und Österreich wird auferstehen! Wir haben Österreich in uns wachgehalten und zu voller Leuchtkraft gesteigert: sein Wesen, seine Geschichte, seine Musik und Literatur, seine Denkmäler und Volkslieder, seine Werke und seine Menschen. Wir sind keineswegs blind für die Schwächen unserer Vergangenheit und unseres Volkscharakters, für die dunklen und reaktionären Züge unserer Geschichte, aber, meine Hörer, machen wir uns endlich und endgültig frei von allen preußisch-deutschen Geschichtsfälschungen. Zahlenmäßig ein kleines Volk, haben wir dennoch eine große Geschichte. (Beifall.) Wir dürfen stolz sein auf den unbekannten Dichter des Nibelungenliedes, auf Walter von der Vogelweide, auf Grillparzer, Raimund und Nestroy, stolz [S. 13 ] auf die Erbauer des Stephansdomes und auf Baumeister wie Fischer von Erlach und Lukas von Hildebrand, stolz auf die überquellende Herrlichkeit unserer Musik, die unser kleines Österreich mit Riesenschwingen in die weite Welt hinausträgt, wir sind stolz auf den Sieger von Zenta und auf den Sieger von Aspern, auf Bauernführer wie Michael Geismayer, Stephan Fadinger, Andreas Hofer, auf die Arbeiter und Studenten von 1848, auf die Freiheitskämpfe der österreichischen Arbeiterschaft. Ich wiederhole: Wir haben vieles in unserer Vergangenheit falsch und schlecht gemacht, aber wir haben keinen Grund, uns dessen zu schämen, daß wir Österreicher sind. (Rufe: Sehr richtig!) Und hier sehe ich eine entscheidende Aufgabe der österreichischen Hochschulen. Erziehen Sie unsere Jugend zu selbstbewußten Österreichern, wecken Sie ihr Vertrauen, ihre Liebe zu Österreich, vereinigen Sie demokratische Freiheitsliebe und österreichischen Patriotismus zu einer unauflöslichen organischen Gesamtheit. (Stürmische Zustimmung.) Wir stehen vor ungeheuren Schwierigkeiten. Ich appelliere an die akademische Jugend, die österreichische Nationalkrankheit des Raunzens, der aufgeregten Passivität, der halben Entschlüsse und halben Maßnahmen zu überwinden. Packen Sie zu! Geben Sie ein Beispiel! Werden Sie Fahnenträger eines schöpferischen Optimismus, nicht einer billigen Schönfärberei oder einer gefährlichen Wundergläubigkeit, sondern eines mannhaften, tapferen und tatkräftigen Optimismus. Und wenn Sie die Trümmer beseitigen und mühsam die ersten Bausteine herantragen, dann soll vor Ihrem Blick schon das kommende, das vollendete Österreich aufleuchten. (Beifall.)

Ich sehe die Möglichkeit, aus diesem kleinen und heute so armen Land etwas zu machen, an dem nicht wir allein eine Freude haben, sondern an dem auch andere Völker sich freuen können. Ein geistreicher Tscheche hat einmal Wien den Salon der Donauvölker genannt. Das ist ein Begriff der Vergangenheit, das ist nicht der Stil des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich möchte sagen, ein demokratisches Wien und Österreich kann zu einer Werkstätte werden, in der von allen Seiten Kulturgut zusammenströmt, um hier zu glücklicher Harmonie zu verschmelzen und dadurch allen vertraut und dennoch neu geprägt über die Grenzen unseres Landes hinauszugehen. Wenn wir uns endgültig davon lossagen, ein vorgeschobener Posten des aggressiven Deutschtums zu sein, wenn wir das Vertrauen und die [S. 14 ] Freundschaft unserer Nachbarvölker gewinnen, wenn wir die Wasserscheide zwischen Donau und Rhein nicht nur als geographische, sondern auch als geschichtliche Tatsache anerkennen (Rufe: Sehr gut!), dann kann Wien als Kulturstadt eine zunehmende Anziehungskraft ausüben. Was einst nur ein schönes Wort war, muß zum Programm, zum unverrückbaren Ziel des neuen Österreich werden: Mit des Geistes heiteren Waffen siegen Kunst und Wissenschaft. Ich bin mir bewußt, daß der Weg dahin schwer ist und höchste Anspannung aller Kräfte erfordert, aber ich glaube ebenso fest an die Zukunft Österreichs, wie ich nicht einen Augenblick an seiner Befreiung und Wiedergeburt gezweifelt habe. An der Erreichung dieses Zieles mitzuwirken, halte ich für eine entscheidende Aufgabe der Hochschulen im neuen Österreich. Ich möchte Sie vom Rektor bis zum jüngsten Studenten zu leidenschaftlicher Zuversicht und Mitarbeit aufrufen. Ich möchte Sie bitten, ohne Parteischranken und Vorurteile alles, was österreichischen Geist repräsentiert, die besten Söhne und Töchter unseres Volkes, an die Hochschule heranzuziehen um hier zu lehren und zu lernen. Ich wünsche Ihnen und unserem ganzen Volk, daß die Hochschulen zu Hochburgen eines demokratischen, geistigen und verantwortungsbewußten Österreichertums werden. Geben Sie uns eine kenntnisreiche, volksverbundene, wahrhaft österreichische Intelligenz. Sorgen Sie dafür, daß wir in Zukunft von unseren Hochschulen sagen können: In eurem Lager ist Österreich! (Langanhaltender stürmischer Beifall.)

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. In eckiger Klammer steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.)

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