„Frage an den Rasseforscher Frank“. (Ein anläßlich der Volksbefragung 1923 verfaßter offener Brief des Historikers und österreichischen Volkshochschulpioniers Ludo Moritz Hartmann) *

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Author/Authoress:

Hartmann, Ludo Moritz

Title: „Frage an den Rasseforscher Frank“. (Ein anläßlich der Volksbefragung 1923 verfaßter offener Brief des Historikers und österreichischen Volkshochschulpioniers Ludo Moritz Hartmann) *
Year: 1923
Source:

Reprint in: Spurensuche. Zeitschrift für Geschichte der Erwachsenenbildung und Wissenschaftspopularisierung, 11. Jg., 2000, H. 3/4, S. 89-90.

Sehr geehrter Herr Vizekanzler!

Die Volkszählung veranlaßt mich als braven Staatsbürger, meinen Stammbaum zu revidieren, um die Frage 7 korrekt beantworten zu können. Aber je weiter ich nachforschte, desto mehr mußte ich mir darüber klar werden, daß die Frage nicht klarer, sondern irnmer konfuser wurde. Mein Vater war böhmischer Jude, der sich sein Leben lang als Deutscher fühlte und aus dem Judentum frühzeitig ausgetreten ist. In der Familie, die man bis in das sechzehnte Jahrhundert verfolgen kann, bestand die Tradition, daß die Ahnen, wie so viele Juden, aus Spanien vom Duero (daher: Hartmann) über Holland nach Mitteleuropa zogen. Außerdem läßt sich aber aus verschiedenen Anzeichen vermuten, daß die verschiedenen berühmten Rabbiner, die ich zu meinen Urahnen zählen kann, in weiblicher Linie mit polnischen Juden zusammenhängen, so daß unzweifelhaft eine Mischung der beiden Zweige der Israeliten miteinander vor sich gegangen ist, und da die östliche Gruppe großenteils aus bekehrten Chazaren besteht, habe ich wohl auch einige Tropfen chazarischen Blutes in meinen Adern. Wenn man aber noch weiter zurückgeht, bis in die Zeit, in der die Juden in Palästina ansässig waren, so besteht bekanntlich die Gefahr, daß meine Ururahnen vielleicht gar nicht Semiten waren, sondern ganz oder zum Teil dem bis vor kurzem rätselhaften Volksstamm angehörten, den wir als Hettiter bezeichnen (dem nach einer von Ihnen gewiß anerkannten Autorität Chamberlain, David und Jesus angehört haben) und die man jetzt mit einiger Sicherheit als Arier bezeichnen kann. Aber nicht genug damit, in jenen alten Zeiten war auch in Palästina die Gesellschaft auf der Sklaverei aufgebaut, und in dem primitiven Palästina, wie in anderen Ländern, bestanden die Sklaven durchaus aus Fremden, da die Sklaven ursprünglich Kriegsgefangene waren. Da aber die Sklaven auch freigelassen werden und ihre Nachkommen richtige Ehen mit der Herrenklasse schließen konnten, ist hier zu dem semitischen und hettitischen Element noch ein ganz anderer Rassenfaktor hinzugekommen.

Auf mütterlicher Seite steht die Sache mit meinem Stammbaum nicht viel besser. Meine Mutter stammte aus Hanau in Hessen und ihre Ahnen väterlicherseits, die protestantische Handwerker und Schulmeister waren, haben zufolge der Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges Waldkappel in Hessen (Kassel) verlassen, um nach Hanau zu übersiedeln. Wann und von wo sie nach Waldkappel gekommen sind, ist nicht mehr festzustellen. Jedenfalls aber waren sie Deutsche und zum größten Teil, wie auch der Name bezeugt, germanischer Herkunft. Allerdings ist jedoch nicht zu vergessen, daß in viel älteren Zeiten eine keltische Bevölkerung auch in Hessen bestanden hat, von der man nicht weiß, ob sie ausgerottet wurde oder [S. 89] ob gewisse Bestandteile sich mit den eingewanderten Germanen vermischt haben. Und dazu kommt noch die Wahrscheinlichkeit der Vermischung mit ausländischen Sklaven auch hier. In Hanau sind meine Ahnen auch unzweifelhaft gemischte Ehen eingegangen, denn einige meiner Ahnen gehörten als Kantoren der dort bestehenden französischen reformierten Kirche an, deren Mitgliedschaft sich aus französischen Hugenotten, die emigriert waren, zusammensetzte, deren jedenfalls im wesentlichen keltischromanische Herkunft man im einzelnen nicht verfolgen kann. Dazu kommt ein Einschlag holländischen Blutes, da eine meiner Ahninnen der holländisch-protestantischen Kirche angehörte.

Wenn ich diesen Stammbaum überblicke, nachdem ich ihn kritisch auf seine Zusammensetzung geprüft habe, muß ich, ob ich will oder nicht, feststellen, daß es mir vollständig unmöglich ist, mich zu einer Rassenzugehörigkeit zu bekennen und daß ich als ehrlicher Mensch dem Herrn Volkszählungskommissär gestehen müsse, daß ich ihm diese diskrete Frage mit bestem Wissen nicht beantworten kann.

Noch schlimmer wird es, fürchte ich, meinen Kindern ergehen. Sie sind von mütterlicher Seite allerdings deutscher Herkunft, aber ihr mütterlicher Großvater trug einen tschechischen Namen und stammte von Bauern aus der Gegend von Troppau, wo bekanntlich der tschechische Einschlag sehr stark ist. Ihre Großmutter mütterlicherseits war eine Wienerin, hatte aber englischen Einschlag. Das Resultat für meine Kinder ist also, daß sie so ziemlich die ganze buntscheckige Völkerkarte von Europa und Vorderasien in sich vereinigen und daß sie noch in größerer Verlegenheit als ich wegen Beantwortung jener Frage sein werden.

Ich meinerseits werde als gewissenhafter Staatsbürger und auf Grund der gesicherten Resultate meiner Rassenforschung dabei beharren müssen, daß ich die Frage, die mir der Staat vorlegt, nicht beantworten kann. Ich hoffe, daß Sie, Herr Vizekanzler, der Sie in Rassenfragen so gut beschlagen sind, sich nicht allzu sehr darüber grämen werden. [S. 90]

Ludo M. Hartmann

  • Hinweis: Hartmann bezieht sich auf die per Stichtag 7. März durchgeführte Volkszählung 1923. Im Österreichischen Statistischen Zentralamt war es nicht möglich, ein Original des Fragebogens zu erhalten. In der nur rudimentären Volkszählung 1920 bezog sich Frage 7 auf die Umgangssprache. Die eigentliche Volkszählung sollte zuerst 1921 und dann 1922 durchgeführt werden. Aufgrund einer Verordnung des Innen- und Unterrichtsministeriums wurde für die Volkszählung 1923 mit Frage 7 auch die Rassen- und Volkszugehörigkeit ermittelt. Darauf bezieht sich Hartmann offensichtlich. In den Veröffentlichungen über diese Volkszählung wird darauf jedoch nicht Bezug genommen. Möglicherweise wurde die entsprechende Auswertung der Frage von den durchführenden Beamten boykottiert.

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. In eckiger Klammer steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.)

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