„Erinnerungen“ an den Wiener Volksbildungs-Verein

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Author/Authoress:

Grünberg, Carl

Title: „Erinnerungen“ an den Wiener Volksbildungs-Verein
Year: 1927
Source:

Eduard Leisching (Hrsg.), 40 Jahre Wiener Volksbildungs-Verein 1887-1927 (= Denkschrift mit Beiträgen von Mitarbeitern sowie Hörern und Lesern von einst und jetzt), Wien 1927, S. 64.

Subject descriptor: VHS Margareten

Zu den liebsten Erinnerungen aus meinen jüngeren Jahren gehört es, daß es mir vergönnt war, an der von allem Anfang an mustergültigen Tätigkeit des Wiener Volksbildungs-Vereines teilnehmen zu dürfen. Und mit besonderer Freude, die durch die dazwischenliegende lange Zeit nichts an Frische und Lebhaftigkeit verloren hat, gedenke ich der Tatsache, daß ich die Ehre hatte, die beiden ersten Vortragskurse, welche der Verein im Winter 1890 neben den Einzelvorträgen einführte, abzuhalten: den einen, 15stündig, über Gesetzeskunde, den anderen, sechsstündig, über Verfassungskunde. Trotz des großen Erfolges der Einzelvorträge erschien damals vielen die Veranstaltung von größeren, fast über ein Semester sich erstreckenden Kursen doch zu gewagt. Vor allem im Hinblick auf die sehr gemischte Zuhörerschaft: kleine Beamte, Angestellte, Handels- und Gewerbetreibende, auch einzelne Studenten, namentlich aber proletarische Arbeiter. Gerade auf diese aber rechnete die Vereinsleitung für meine zwei Kurse, die dann auch in der Tat stark von Arbeitern besucht waren. Ein weiteres Bedenken bestand darin: ob überhaupt Gesetzes- und Verfassungskunde vor einem so gemischten Publikum in der nötigen populären Weise vorgetragen werden könne. Ich erinnere mich noch sehr deutlich, wie mein Lehrer, der hervorragende Romanist weiland Adolf Exner, das Gelingen meiner Vorträge, namentlich über Eigentums- und Obligationenrecht, für ganz unmöglich erklärte. Und die Sache interessierte ihn so, daß er in den ersten Vortrag kam – und auch bei den späteren nie ausblieb. Gespannt beobachtete er, wie die Zuhörerschaft die doch notwendig recht trockene Materie anhörte und auffaßte; denn es wurden immer nach Vortragsschluß Fragen gestellt, die ich zu beantworten hatte. Im Kurs über Gesetzeskunde nahmen teil: 48 Arbeiter, 27 Beamte und Angestellte, 19 Handels- und Gewerbetreibende, zusammen 128; am Kurs über Verfassungskunde je 16 Arbeiter und Angestellte, 7 Hoch- und 4 Mittelschüler, sowie 3 Frauen und 7 sonstige. Ich selbst habe wohl aus diesen Vorträgen am meisten gelernt. Vor allem die Spannkraft und den Wissensdurst von Menschen zu bewundern, die zumeist durch anstrengende Tagesarbeit ermüdet, doch noch die Abendstunden zu ihrer Weiterbildung benutzen wollten. Man wurde vom Herzen darüber froh und das eigene Leben erschien lebenswerter dadurch, daß man das Streben anderer nach oben mit unterstützen durfte.

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. In eckiger Klammer steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.)

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