Ein Plädoyer für „Die andere Bildung“ oder „Welche Naturwissenschaft braucht der gebildete Mensch?“

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Author/Authoress:

Fischer, Ernst Peter

Title: Ein Plädoyer für „Die andere Bildung“ oder „Welche Naturwissenschaft braucht der gebildete Mensch?“
Year: 2003

Von den Schwierigkeiten mit der Vermittlung von Wissenschaft und ihrer möglichen Überwindung

Vor mehr als vierzig Jahren hat der französische Historiker Jacques Barzun im Vorwort zu dem Buch des britischen Philosophen Stephen Toulmin mit dem Titel „Voraussicht und Verstehen“ auf folgende Beobachtung hingewiesen: „Man kann sagen, daß die westliche Gesellschaft gegenwärtig die Wissenschaft beherbergt wie einen fremden Gott. Unser Leben wird von seinem Werken verändert, aber die Bevölkerung des Westens ist von einem Verständnis dieser seltsamen Macht wohl ebensoweit entfernt, wie ein Bauer in einem abgelegenen mittelalterlichen Dorf es von einem Verständnis der Theologie des Thomas von Aquin gewesen ist. Und was schlimmer ist: Die Lücke ist heute sichtlich größer, als sie vor hundert Jahren war. Die Schwierigkeit besteht darin, daß die Wissenschaft – selbst für die Wissenschaftler – aufgehört hat, eine prinzipielle Einheit und ein Gegenstand der Kontemplation zu sein.“

Naturwissenschaft und Kunst müssen bewegen, berühren, die Menschen anrühren

Weiß man das wirklich nicht? Oder wissen es nur die Funktionäre der Wissenschaft nicht, die seit einigen Jahren damit beschäftigt sind, für das Volk ein „public understanding of science“ (PUS) zu organisieren, ohne in der Lage zu sein, ihr Vorhaben mit verständlichen – und vielleicht sogar deutschen – Worten auszusprechen. Wenn nicht alles täuscht, bleiben diese hoch offiziellen Bemühungen um eine Vermittlung der Wissenschaft so nutzlos wie eine feine Pinzette in der Hand eines Klempners, wie es der amerikanische Schriftsteller Raymond Chandler gesagt hätte, der bereits 1938 darauf hingewiesen hat, dass der Weg zum Herzen der Menschen nur über die Kunst führt. So wie Kunst ohne Wissenschaft lächerlich bleibt, so bleibt Wissenschaft ohne Kunst inhuman. Das heißt genauer, Wissenschaft ohne Kunst schließt Menschen aus, erreicht also genau das Gegenteil von dem, was mit dem Projekt PUS beabsichtigt ist. Wir vertrauen der Wissenschaft doch nur, wenn wir erkennen, dass sie wie die Werke der Kunst von fühlenden Menschen gemacht wird, und genau dieser Aspekt geht verloren, wenn uns nur im Detail erklärt wird, wie eine neue Legierung funktioniert, wie Tenside besser mit Fettmolekülen zurechtkommen oder ob eine gerade ermittelte DNA-Sequenz Auskunft über einen genetischen Schaltmechanismus gibt. Wie wichtig die Kunst für die Wissenschaft ist, hat natürlich schon der sowohl poetisch als auch wissenschaftlich tätige Goethe gewusst, der in seiner Farbenlehre ausdrücklich notiert: „Wenn wir von ihr eine Art von Ganzheit erwarten, so müssen wir uns die Wissenschaft notwendig als Kunst denken.“ Und Goethe sagt auch, wie das möglich werden kann: „Um aber einer solchen Forderung sich zu nähern, so müßte man keine der menschlichen Kräfte bei wissenschaftlicher Tätigkeit ausschließen. Die Abgründe der Ahndung, ein sicheres Anschauen der Gegenwart, mathematische Tiefe, physische Genauigkeit, Höhe der Vernunft, Schärfe des Verstandes, bewegliche sehnsuchtsvolle Phantasie, liebevolle Freude am Sinnlichen, nichts kann entbehrt werden zum lebhaften Ergreifen des Augenblicks.“ An dieser Stelle wird die Ansicht vertreten, dass Wissenschaft genau dann vermittelt und verstehbar gemacht werden kann, wenn es gelingt, ihr eine Form zu geben, mit der die genannten Kräfte aktiviert werden, die also von Menschen wahrgenommen und wie ein Kunstwerk betrachtet werden kann – wobei es nichts schadet, dass deren Wahrheit eher wie ein offenes Geheimnis erlebt wird. Denn wie Albert Einstein einmal gesagt hat: „Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege wahrer Kunst und Wissenschaft steht.“ Wenn diese Formgebung gelingt, kann eine Kennerschaft von Wissenschaft entstehen, wie es eine Kennerschaft der Kunst gibt, über die man auch dann verfügt, wenn man nicht technisch genau die Frage beantworten kann, was ein Kontrapunkt oder eine Kadenz ist oder welche Rolle das pythagoreische Komma spielt.

Wissenschaftsgestaltung

Wissenschaft bekommt diese zum öffentlichen Verständnis nötige Form nicht, wenn man weiter macht wie bisher und sich auf einzelne Erklärungen von delikaten Mechanismen beschränkt, so diffizil und befriedigend dies im Einzelnen sein mag. Was Not tut, könnte man „Wissenschaftsgestaltung“ nennen, wobei es eine Formulierung von Thomas Mann gibt, mit der die Aufgabe vielleicht zu drastisch charakterisiert wird. Seine eigene Art, sich wissenschaftliche Kenntnisse – etwa die Ägyptologie oder die Biowissenschaften seiner Zeit – anzueignen und in der Romanform auszubreiten, nannte Mann „Abschreiben auf höherer Ebene“. Der Unterschied zu dem bisher praktizierten Wissenschaftsjournalismus als einem „Abschreiben auf niederer Ebene“ besteht darin, dass die nicht nur berichtete und erklärte, sondern eben gestaltete und verwandelte Wissenschaft sich von der praktizierten Forschung um ein kreatives Element unterscheidet, mit dessen Hilfe die abstrakten Kenntnisse der Fachleute in die Erlebniswelt der Laien überführt werden. Es kommt also darauf an, wissenschaftliche Erkenntnisse so darzustellen, dass ihr Zusammenhang (Kontext) mit dem Lebensganzen erkennbar und der humane Bezug ersichtlich wird, an dem Menschen vor allem interessiert sind. „Mit einer ganzen Milchstraße, die der Rationalismus in Atome aufgelöst hat, können wir nichts anfangen; aber mit einem pausbäckigen Engel und einem bockfüßigen Teufel, an dem wir von Herzen glauben, können wir sehr viel anfangen.“ So hat es Egon Friedell in seiner schon alten, aber nach wie vor aufgelegten und lesbaren „Kulturgeschichte der Neuzeit“ ausgedrückt, und wer sich die Vermittlung von Wissenschaft als Ziel gestellt hat, sollte diesen Gedanken ernst nehmen. Er sagt nicht, dass niemand von Atomen und chemischen Bindungen wissen will. Er sagt nur, dass man den entsprechenden Erklärungen eine ästhetische Komponente beigeben sollte, um sie für Menschen wahrnehmbar und die Forschung insgesamt erlebbar zu machen. Leider ist in unserer Kultur „die Einsicht in die Notwendigkeit einer Stärkung der ästhetischen Position nicht gerade weit verbreitet“, wie der Basler Biologe Adolf Portmann bereits 1949 in einem Vortrag mit dem Titel „Biologisches zur Ästhetischen Erziehung“ beobachtet hat: „Allzu viele machen noch immer die bloße Entwicklung der logischen Seite des Denkens zur wichtigsten Aufgabe unserer Menschenerziehung. Wer so denkt, vergisst, dass das wirklich produktive Denken selbst in den exaktesten Forschungsgebieten der intuitiven, spontanen Schöpferarbeit und damit der ästhetischen Funktion überall bedarf; dass das Träumen und Wachträumen, wie jedes Erleben der Sinne, unschätzbare Möglichkeiten öffnet.“

Naturwissenschaft als Fenster zur Welt

Als gestaltete Form kann die Wissenschaft auch das Problem lösen, das sie vor allem hat, seit sie mit dem beginnenden 20. Jahrhundert so abstakt geworden ist. Als zum Beispiel Albert Einstein den Kosmos durch eine komplizierte Gleichung erfasste, beklagte sich der Dichter Alfred Döblin, dass er als Nichtmathematiker nun vom Verstehen der Welt ausgeschlossen sei, in der er doch lebe. Tatsächlich kann man immer wieder lesen, was zum Beispiel Karl Schwedhelm 1964 in einem Aufsatz mit dem Titel „Das Gedicht in seiner veränderten Wirklichkeit“ geschrieben hat: „Für uns, die wir nicht Naturwissenschaftler sind, werden die Veränderungen der klassischen Physik seit wenig mehr als einem halben Jahrhundert in ihren Ursachen und Folgerungen auch künftig weitgehend undurchschaubar bleiben. Der Künstler ist von diesem esoterischen Bereich nebelhaft schwieriger Funktionen und Differentialgleichungen genauso wie wir andern ausgeschlossen.“ Trifft diese pessimistische Sicht zu? Ich meine, sie stimmt nicht, wenn man bedenkt, dass es Einstein ja nicht darauf ankam, eine Formel abzuleiten. Für ihn war die Formel nur das Fenster (konstruiert mit mathematischen Symbolen), durch das er schauen konnte, um die dahinter sichtbare Welt zu erfassen. Es geht nicht um die Formel, sondern um das, was durch die Formel sichtbar wird. Wir können sicher dasselbe sehen, wenn wir bereit sind, dafür ein anderes Fenster (mit anderen Symbolen) zu suchen. Diese Fenster fallen aber nicht vom Himmel; sie zu machen ist sicher ebenso schwer wie das Ableiten der Gravitationsgleichung. Doch sollte die Kunst dazu in der Lage sein.

Bildung verleiht die Fähigkeit zum Dialog

Die im Titel gestellte Frage, welche Naturwissenschaft braucht der gebildete Mensch, lässt sich mit dem bisher Gesagten vielleicht so beantworten: Er braucht die Wissenschaft, die er verstehen kann, weil sie ihm einen Einblick in die Welt und zugleich in sich ermöglicht. Dabei kann er erkennen, wie sehr Wissenschaft in ihm steckt und zu ihm – und damit zum Menschen allgemein – gehört. Wenn diese Verbindung gelingt, wird erreicht, was das Projekt PUS – „public understanding of science“ – anstrebt. Nun können wir all das, was Menschen jenseits ihrer Berufe miteinander verbindet und ihnen die Fähigkeit zum Dialog verleiht, Bildung nennen. Mit ihrer Hilfe wird das Individuum zu Selbstständigkeit und Freiheit und zur Teilhabe am Kulturganzen mit den dazugehörigen geistigen Genüssen befähigt. Bislang wird bestritten, dass die Naturwissenschaften dazu überhaupt etwas beitragen können. So heißt es etwa in dem Bestseller „Bildung – Alles was man wissen muß“ von Dietrich Schwanitz: „Die naturwissenschaftlichen Kenntnisse werden zwar in der Schule gelehrt; sie tragen auch einiges zum Verständnis der Natur, aber wenig zum Verständnis der Kultur bei. … -unresolved- so bedauerlich es manchem erscheinen mag: Naturwissenschaftliche Kenntnisse müssen zwar nicht versteckt werden, aber zur Bildung gehören sie nicht.“ Die Naturwissenschaftler sind damit aufgefordert, den Gegenbeweis zu führen und zu zeigen, dass es neben der humanistischen Bildung auch eine naturwissenschaftliche Form gibt. Ich habe mich in meinem Buch „Die andere Bildung“ darum bemüht, zu zeigen, dass die Wissenschaft im Grund sein kann, was sie sein soll, nämlich „eine prinzipielle Einheit und ein Gegenstand der Kontemplation“.

Wissenschaft „enthält“ einen auf die menschlichen Lebensverhältnisse bezogenen Sinn

Noch eine letzte Bemerkung: Den zitierten Schwanitz-Satz – und seine weitgehende Akzeptanz in Deutschland – halte ich für dumm und gefährlich. Wir stünden besser da, wenn es zu den selbstverständlichen Aufgaben eines gebildeten Menschen unserer Zeit gehören würde, mit dem Konzept der biologischen Evolution ebenso gut vertraut zu sein wie mit der physikalischen Theorie der Atome und dem Zustandekommen einer chemischen Bindung. Die damit verbundenen Erkenntnisse ergeben einen auf die menschlichen Lebensverhältnisse bezogenen Sinn, wenn wir uns geeignet über sie verständigen. Gebildet ist, wer sich gut über Wissenschaft unterhalten kann und sich dabei unterhalten fühlt. Für die Zukunft brauchen wir gebildete Gesprächspartner mit einer Kennerschaft, die verstehen, dass Wissenschaft in ihnen steckt und zu ihnen – und damit zum Menschen allgemein – gehört. Nur aus dieser Verbindung kann die Anteilnahme – die Dialogbereitschaft – entstehen, die nötig ist, damit alle die Verantwortung übernehmen können, die Wissenschaft heute benötigt.

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