Die Volksbildung im neuen Staat

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Author/Authoress:

Lugmayer, Karl

Title: Die Volksbildung im neuen Staat
Year: 1935
Source:

Hovorka, Nikolaus (Hg.), Berichte zur Kultur- und Zeitgeschichte. XII. Band, Nr. 270-271, S. 197-214.

[S. 197] Wandel im Volksbildungswesen

Der Umsturz

Es ist für das deutsche Volk bezeichnend, daß jeder politische Umbruch seine Wellen auf Erziehungs- und Bildungsfragen wirft. Die politische Neugestaltung nach dem Jahre 1866 ging Hand in Hand mit dem Schlagwort vom „Preußischen Schulmeister“, der den Krieg gewonnen hätte. Der Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie im Jahre 1918 brachte eine Schulreform und den Versuch, das freie Volksbildungswesen von der staatlichen Seite her zu regeln. Das „Volksbildungsamt“ im Unterrichtsministerium wurde eingesetzt und die Landesreferenten für Volksbildung, die zugleich die Geschäftsführer der Landesbildungsräte sein sollten. Ortsbildungsräte sind wohl im ersten Schwung entstanden, zumeist aber ebenso rasch wieder verschwunden. Geblieben sind die „Landesreferenten für Volksbildung“ als „Bundesstaatliche Volksbildungsreferenten“ und das „Volksbildungsamt“ als „Volksbildungsstelle“, heute als „Zentralstelle für Volksbildung“ im Bundesministerium für Unterricht.

Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 als Bundesverfassungsgesetz in der Fassung von 1929 berührte das Volksbildungswesen nur in einem Satz, nämlich Artikel 14: „Auf dem Gebiet des Schul-, Erziehungs- und Volksbildungswesens wird der Wirkungsbereich des Bundes und der Länder durch ein besonderes Bundesverfassungsgesetz geregelt.“

[S. 198] Die neue Verfassung

Die Maiverfassung berührt das Volksbildungswesen wiederholt, und zwar immer in dem Zusammenhang „Schul-, Erziehungs- und Volksbildungswesen“. So im 2. Hauptstück (allgemeine Rechte der Staatsbürger), Artikel 31, Absatz 6: „Dem Staat steht rücksichtlich des gesamten Schul-, Erziehungs- und Volksbildungswesens das Recht der obersten Leitung und Aufsicht zu, unbeschadet der im Artikel 30 eingeräumten Rechte.“

Im 3. Hauptstück (Bund und Land), Artikel 37, Absatz 1, Punkt 2a: „Die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Schul-, Erziehungs- und Volksbildungswesens kommt zu hinsichtlich der Grundsätze dem Bunde, hinsichtlich der Ausführung der Grundsätze den Ländern über die Angelegenheiten des sonstigen Schul- und Erziehungs- sowie des Volksbildungswesens mit Ausnahme der in die Landesgesetzgebung fallenden niederen landwirtschaftlichen Schulen.“

Artikel 37, Absatz 2: „Die Vollziehung in den Angelegenheiten des Schul-, Erziehungs- und Volksbildungswesens ist mit den folgenden Einschränkungen Bundessache […]"

d) in den Angelegenheiten des Volksbildungswesens kann der Stadt Wien unter der Oberaufsicht des Bundes die Vollziehung hinsichtlich volksbildnerischer Anstalten und Einrichtungen durch Gesetz übertragen werden.“

Absatz 3: „Das dem Staat nach Artikel 31, Absatz 6, zustehende Recht der obersten Leitung und Aufsicht des gesamten Schul-, Erziehungs- und Volksbildungswesens ist Bundessache.“

[S. 199] Im 4. Hauptstück (Gesetzgebung des Bundes), Artikel 47, Absatz 1: „Der Bundeskulturrat besteht aus 30 bis 40 Vertretern von gesetzlich anerkannten Kirchen- und Religionsgesellschaften, des Schul-, Erziehungs- und Volksbildungswesens, der Wissenschaft und der Kunst.“

Im 6. Hauptstück (Gesetzgebung der Länder), Artikel 108 (2): „Die Landtage bestehen aus Vertretern von gesetzlich anerkannten Kirchen- und Religionsgesellschaften, des Schul-, Erziehungs- und Volksbildungswesens, der Wissenschaft und der Kunst sowie aus Vertretern der Berufsstände des Landes.“

Im 7. Hauptstück (Verwaltung in den Ländern), Artikel 121 (1): „In den Angelegenheiten des Schul-, Erziehungs- und Volksbildungswesens, mit Ausnahme der Hochschulen, führen die Vollziehung im Bereiche der Länder in Unterordnung unter den zuständigen Bundesminister Schulbehörden (Landes-, Bezirks-, Ortsschulräte und Fortbildungsschulräte), in denen die für das Schul- und Erziehungswesen in Betracht kommenden Interessen vertreten sind. Die Landes- und Bezirksschulräte sind unmittelbar Bundesbehörden. Vorsitzender des Landesschulrates ist der Landeshauptmann.“

Der Begriff der Volksbildung spielt also in der neuen Verfassung eine sehr bedeutende Rolle.

Was aber steckt heute hinter dem Wort?

Was ist Volksbildung?

Die Ideen des Liberalismus

Die Zielsetzung der Volksbildung in der Generation bis 1900, vielleicht 1910, war vor allem in den Schlagwörtern gekennzeichnet: „Wissen ist Macht“, [S. 200] „Bildung macht frei“. Das heißt, man hatte die Vorstellung, durch Verbreitung oder Vermittlung von Wissen den Menschen Mittel für ihren wirtschaftlichen oder politischen Kampf zu geben. Daher ging diese Bewegung in den achtziger und neunziger Jahren vielfach – nicht durchaus – Hand in Hand mit der politischen Bewegung des demokratischen Liberalismus. „Bildung macht frei“ würde man heute in dem Sinn verstehen, daß die harmonische Ausbildung der Persönlichkeit eben auch eine Befreiung von persönlichen oder gesellschaftlichen Hemmungen bringt. In der Zeit des Liberalismus hatte aber auch dieses Wort eher den Sinn einer politischen Befreiungsidee.

Es muß immer wieder anerkannt werden, daß der Schwung dieser Ideen sehr stark war, daß er sich in bemerkenswerten Einrichtungen niederschlagen konnte: unsere Wiener Volksbildungshäuser verdanken ihre Entstehung durchaus dieser Welle. Nach dem unglücklichen Ausgang des Weltkrieges folgte auf Wiener Boden noch eine stärkere Nachwelle, die sich besonders in den raschen Gründungen von neuen Zweigstellen der Volkshochschule Wien Volksheim äußerte. Diese Welle reichte etwa bis 1925.

Volksbildung als Volkwerdung

Gleichzeitig aber setzte von Deutschland her eine „neue Richtung“ ein, die sich selbst als solche bezeichnete. Ihr Ideenschlagwort war: „Volksbildung soll Volkbildung sein.“ Das heißt: die Volksbildungsarbeit hat als eigentliches Ziel, die geistige Einheit des deutschen Volkes herzustellen. Wenn die „alte Richtung“ ihren angemessensten Ausdruck in den Volkshochschulen nach Art der Volkshochschule [S. 201] Wien Volksheim fand, so die „neue Richtung“ in der „Heim-Volkshochschule“, in dem Versuch, diese geistige Einheit dadurch zu erreichen, daß man in einer kürzeren oder längeren Lebensgemeinschaft die betreffenden Menschen innerlich zusammenwachsen läßt zu einer Art volklichen Einheit. Die Volksbildungsstelle im Unterrichtsministerium hat im ersten Jahrzehnt der Nachkriegszeit sehr häufig Vertreter dieser neuen Richtung zu Gast geladen. Daher hat die Auseinandersetzung zwischen „alter“ und „neuer“ Richtung in amtlichen österreichischen Kreisen sehr viel Nachhall gefunden. Zu einer Bewegung aber hat sie in Österreich nicht geführt. Auch die Gründung des „Bäuerlichen Volksbildungsheims“ in Hubertendorf, das unmittelbar dem Bundesministerium für Unterricht untersteht, kann man nicht einfach in diese „neue Richtung“ einreihen.

War die „alte Richtung“ vielfach allzu stark auf den Intellekt eingestellt, so die neue allzu stark auf das Emotionale, auf die Gefühls- und Willenswelt. Die Verherrlichung des „Irrationalen" ließ dem Subjektivismus breiten Raum.

Keine der beiden Richtungen befriedigt uns heute, wenn wir sie als schlechthinigen Inhalt des Begriffes „Volksbildung“ nehmen wollen. Auch nicht ein einfacher Ausgleich dieser beiden, sicherlich nur konträren, Gegensätze.

Wie ein Volksbildungshaus aussieht

Es empfiehlt sich, von einem Sachbereich auszugehen, der sich heute hinter all den bestehenden Einrichtungen verbirgt, die den Namen Volksbildung tragen. Da finden wir in gleicher Weise Kurse für [S. 202] Philosophie wie Kurse für textile Handarbeiten, Vorführungen von Kulturfilmen und Darstellungen des Kunsttanzes, Kurse über Kunstgeschichte und praktische Kurse des Zeichnens und Malens, Bühnenspiele und Einzelvorträge über fremde Länder, Turnkurse und Sprachkurse, Konzerte und naturwissenschaftliche Fachgruppen, Volksbüchereien und Volkstanzkurse, mit einem Wort: wir finden durch die heutigen Einrichtungen des Volksbildungswesens so ziemlich alle Sachgebiete jenes Lebensbereiches betreut, den wir als kulturellen Lebensbereich bezeichnen, und es besteht kein Zweifel, daß man jedes einzelne Sachgebiet in eine innere Beziehung zum Begriff Volksbildung bringen kann, sofern man eben Volksbildungsarbeit als geordnete Kulturvermittlung auffaßt, die sich auf alle Schichten des Volkes erstreckt, vor allem aber auf jene, die besonders aus sozialen Gründen den Weg zu den kulturellen Gütern allein nicht oder nicht leicht finden können.

Volksbildung und soziale Gliederung

Damit hat der Begriff Volksbildungswesen und Volksbildungsarbeit für unsere Zeit neuen Boden gefunden. Die Differenziertheit unseres sozialen Lebens einerseits, das ungeordnete Gefüge des gesellschaftlichen Lebens andererseits bringen es mit sich, daß tatsächlich breite Schichten kein unmittelbares Verhältnis zu bestimmten Kulturgütern haben. Man denke etwa an das Verhältnis zu den Werken der bildenden Kunst. Oder: die Geisteswelt eines Philosophen wie Thomas von Aquin ist sicher gerade für unsere Zeit von außerordentlichem Wert. Man muß aber Vortragsreihen über diese Gestalt veranstalten, [S. 203] wenn man will, daß sein Bild tatsächlich in breitere Schichten dringt.

Volksbildung und Freizeitgestaltung

Dann verstehen wir auch den starken Zusammenhang von Volksbildung und Freizeitgestaltung besonders für die industrielle Arbeiterschaft. Denn in der Freizeitgestaltung gewinnt ja der kulturelle Lebensbereich besonderen Raum.

Volksbildung und Kultur

Es folgt daraus aber für uns sofort eine zweite Aufgabe: die Abgrenzung des kulturellen Lebensbereiches von den übrigen Lebensbereichen. Abgrenzung nicht im negativen Sinn der schlechthinigen Aussonderung und Verselbständigung, sondern in dem Sinn einer reinlichen Arbeitsteilung im gesamten Sozialkörper.

Die Lebensbereiche des Menschen

In welchen Lebensbereichen bewegen wir uns überhaupt?

Wertmäßig von unten nach oben gebaut wird man sagen können: im großen gesehen, lebt der einzelne Mensch und lebt die gesamte Gesellschaft in vier Bereichen.

Diese Lebensbereiche sind: der wirtschaftliche, der politische, der kulturelle, der religiöse.

Der wirtschaftliche Lebensbereich hat die Aufgabe, unser körperliches Dasein zu ermöglichen. Er ist deshalb schwer gestört, weil er für Millionen von Menschen dies heute nur in sehr unzulänglicher Form [S. 204] leistet. Man braucht sich da nur an die ungeheure Arbeitslosigkeit zu erinnern und an die Unsicherheit des wirtschaftlichen Lebens überhaupt. Aus der Erkenntnis dieser Unzulänglichkeit ist als neueste Zielsetzung der Ruf nach der berufsständischen Ordnung entstanden.

Der politische Bereich hat als Aufgabe, Friede und Ordnung zu wahren. Es ist dies die eigentlichste Aufgabe des Staates. Je geordneter die übrigen Lebensbereiche sind, desto mehr kann sich die Staatsverwaltung auf diese Aufgaben beschränken. Je unvollkommener etwa der wirtschaftliche Lebensbereich gestaltet ist, desto mehr wird der Staat gezwungen, hier einzugreifen. Wirtschaftliche Störungen sind eben der Ausdruck einer Unordnung und führen zu Unfrieden.

Der kulturelle Lebensbereich ist jener Bereich, der uns das Leben als Mensch erst lebenswert macht. Da ist darin die Gestaltung der Freizeit, das gesellige Leben in Haus und Nachbarschaft, die Teilnahme an geistigen Bewegungen, die Pflege des Schönen, kurzum eine Lebensgestaltung, die unseres leibgeistigen Doppelwesens würdig ist.

Der religiöse Lebensbereich ist gegeben mit allen jenen Einrichtungen und Tätigkeiten, die uns immer wieder unmittelbar auf das letzte, jenseitige Ziel des Menschen hinführen. Es ist vor allem der Bereich des kirchlichen Lebens.

Harmonisierung der Bereiche

Diese Sonderung der einzelnen Lebensbereiche bedeutet selbstverständlich keine künstliche Trennung. Im Gegenteil: das harmonische Ineinanderarbeiten [S. 205] der vier Bereiche ergibt die harmonische Persönlichkeit und die harmonische Gesellschaft. Nur in einer persönlichen und gesellschaftlichen Einheit hat die Sonderung Wert. Diese Einheit bringt zunächst eine negative Forderung: es darf kein Bereich den anderen stören. Erscheinungen des kulturellen Lebens, die etwa den religiösen Bereich gefährden, stören die Ordnung. Daher hat der Träger des politischen Bereiches, der Staat, solche Erscheinungen unmöglich zu machen. Dasselbe gilt von Erscheinungen des Wirtschaftslebens, die andere Bereiche stören. Diese Pflicht zur Ordnung wird um so stärker, je höher im Wert der gestörte Lebensbereich liegt.

Kultur und Religion

Ein besonderer Fall ergibt sich für die Volksbildungsarbeit durch die enge Berührung von Kultur und Religion. Es genügt, daran zu erinnern, wieviel an Kulturaufwand gerade die öffentliche Ausübung der katholischen Religion notwendig macht und wie so häufig der Zugang zu bestimmten Kunstgebieten durch den Kultus eröffnet wird (die Dorfkirche).

„Neutrale“ und „konfessionelle“ Volksbildung

Im Volksbildungswesen hat dies zeitweise zu theoretischen Streitfragen um das Wesen der Volksbildung geführt. In den letzten Monaten führte dies neuerdings zu manchen, oft recht hitzigen Erörterungen unter den Schlagwörtern „neutrale oder konfessionelle Volksbildung“. Die Frage hat ein theoretisches und ein praktisches Gesicht.

[S. 206] Theoretische Neutralität

„Neutrale Volksbildung“ ist ein Begriff, der nur noch aus geschichtlichen Gründen verstanden werden kann. Eine Neutralität des kulturellen Lebensbereiches zu den übrigen in dem Sinn, daß die übrigen Bereiche einfach abzuschalten wären, ist nicht möglich, weder theoretisch noch praktisch.

Man kann also höchstens sagen, der Unterschied liege darin, daß in dem einen Fall Bildungsarbeit bei den einzelnen Personen ein konfessionelles Bekenntnis voraussetzt, in dem anderen Fall nicht.

Oder von der sachlichen Seite her gesehen: die eine Art der Arbeit geht von den einzelnen Sachbereichen des täglichen Lebens aus und sucht sie im Sinn einer geordneten Kulturvermittlung zu pflegen. Die andere gehe aus von der letzten Zielsetzung des Menschen und verwende die Methoden und Mittel der Volksbildung, um diese Zielsetzung den Menschen immer wieder nahezubringen.

Dann hätten wir einen – nicht kontradiktorischen, sondern konträren – Gegensatz beider Richtungen, der zu einem Streit schwer Anlaß geben kann.

Praktische Neutralität

Praktisch liegen die Dinge noch viel einfacher: der weitaus größte Teil des heutigen Umfanges der Volksbildung gibt zu konfessionellen Stellungnahmen aus sich heraus wenig Anlaß. Es wird schwerfallen, jeden Tanzabend, jeden Kinderpflegekurs, jede künstlerische Veranstaltung, jeden Kulturfilm, jede Bildungsreise, mit konfessionellen Zielsetzungen in unmittelbaren Zusammenhang zu bringen, wenn man die Dinge nicht pressen will.

[S. 207] Ersetzt man den engeren Begriff Konfession durch den weiteren des Religiösen, so liegen die Dinge nicht viel anders. Geht man noch weiter und greift man zum Ausdruck Weltanschauung, so kommen wir in die Schwierigkeit, daß unter Weltanschauung sowohl das Religiöse, die Beziehung des Menschen zu seinem Schöpfer, verstanden werden kann, als auch eine Reihe von Hypothesen der Wissenschaft über das Weltbild, über die Stellung des Menschen im Kosmos, kurz über eine Reihe von Anschauungen, die aus sich heraus nicht in Gegensatz zum religiösen Weltbild kommen können.

Man kann auch den Unterschied rein äußerlich fassen: dann hätten wir als konfessionelle Volksbildung jene Volksbildung, die von konfessionellen Anstalten betrieben wird, gleichgültig, wes Inhalts sie sei. Die Folge ist dann die, daß ein Sprachkurs in dem einen Fall zur konfessionellen Volksbildung gehört, im anderen zur allgemeinen.

Denn es bleibt dann tatsächlich kein anderer Ausdruck zur Bezeichnung des Unterschiedes übrig.

Volksbildung im christlichen Staat

In einem Staat, der sich verfassungsmäßig als christlich bezeichnet, kann selbstverständlich für eine negative Einstellung zu den religiösen Kräften kein Raum sein. Gibt es also Gebiete im allgemeinen Volksbildungswesen, die an den religiösen oder konfessionellen Bereich näher heranrücken – und die gibt es natürlich, wie etwa die Philosophie –, so kann nur für eine positive Einstellung zur religiösen Welt Raum sein.

[S. 208] Volksbildung und Konfessionen

Es ist übrigens durchaus möglich, daß die Konfessionen, die Kirchen, zum sehr großen Teil Träger des kulturellen Lebens überhaupt, daher des Volksbildungswesens im besonderen werden. Das ist dort der Fall, wo eine Kulturautonomie der Konfessionen besteht, wo etwa nicht der Staat Träger des Schulwesens ist, sondern die Religionsgemeinschaften. Dort kommt es von selbst dazu, daß auch zum Beispiel der Rundfunk von der Kirchengemeinschaft getragen wird (Holland). Eine solche Entwicklung ist abhängig von der inneren Kraft und Geschlossenheit, die den Bekennern eines Bekenntnisses innewohnt. In Österreich ist diese Entwicklung erst in den Anfängen.

Für die Volksbildungsbehörden ist das Förderungsbild aber eindeutig gegeben: Förderung nach Maßgabe der sachlichen Leistungen im Sinn einer geordneten Kulturpflege, das heißt also Förderung beider Zweige.

Wir haben auf Wiener Boden sogar noch mehr getan: Einrichtung konfessioneller Hauptstellen der Volksbildungsarbeit, soweit sie noch nicht bestanden, in der Form von Vertrauensmännern aus den einzelnen Religionsgemeinschaften, die mit dem Volksbildungsreferenten in engster Arbeitsgemeinschaft stehen.

Auch in Hinsicht auf die Abgrenzung des kulturellen Lebensbereiches vom politischen sind einige Ausführungen notwendig. Es ist klar, daß auch die politische Willensbildung auf die Methoden und Mittel der Volksbildung angewiesen ist. Das hat ja [S. 209] von jeher Volksbildungsarbeit sehr stark in die Nähe der Politik gerückt.

Aber ebensowenig wie es notwendig ist, daß ein Tanzabend in unmittelbare Beziehung zum religiösen Bereich gesetzt wird, ebensowenig ist es angezeigt, daß ein Sprachkurs von einer politischen Organisation gehalten wird oder dazu benützt wird, in den Sachbereich des politischen Lebens überzugreifen.

Politik und Volksbildung

Mit dem Bundesgesetz vom 1. Mai 1934, betreffend die „Vaterländische Front“, haben wir einen gesetzlichen Träger der politischen Willensbildung, dessen Ziel ist „die politische Zusammenfassung aller Staatsangehörigen, die auf dem Boden eines selbständigen, christlichen, deutschen, berufsständisch gegliederten Bundesstaates Österreich stehen und sich dem derzeitigen Führer der Vaterländischen Front oder dem von ihm bestimmten Nachfolger unterstellen.“

Die Vaterländische Front

Es ist nun klar, daß es den verantwortlichen Führern des politischen Willensträgers nicht einerlei sein kann, wie sich das kulturelle Leben in Österreich entwickelt. Daher die Einrichtung der Kulturreferenten. Ihre Aufgabe ist es nicht, Kulturschöpfungen hervorzubringen, auch nicht volksbildnerische Einrichtungen zu schaffen, sondern vielmehr fördernd und anregend zu wirken und auf die Abstellung von Mängeln zu drängen, wenn sich diese in der Volksbildungsarbeit für den politischen Lebensbereich herausstellen.

[S. 210] Selbständigkeit des Volksbildungswesens

Bei entsprechender Großzügigkeit, Erfahrung und Einsicht aller Maßgebenden können wir daher durch die Vereinheitlichung der politischen Willensbildung eine stärkere Selbständigkeit des Volksbildungswesens erwarten, als es in der Zeit der Konkurrenzparteien möglich war.

Ein Volksbildungsgesetz

Wir haben oben die verfassungsmäßigen Grundlagen für die staatliche Förderung der Volksbildungsarbeit aufgezählt. Wir haben heute aber noch kein eigentliches Volksbildungsgesetz. Was soll ein solches Volksbildungsgesetz enthalten?

Behördliche Förderung

Vor allem muß der Begriff der „freien Volksbildung“ aufrechterhalten bleiben, Freiheit in der Benützung der Volksbildungseinrichtungen und Freiheit auch in den Methoden. Dann die gesetzliche Verankerung der öffentlichen Förderungsmaßnahmen. Das heißt also, budgetmäßige Bereitstellung von Mitteln und gesetzmäßige Befreiung von Lasten. Dies soll an einem Beispiel erörtert werden. Derzeit haben wir als Förderung der Wiener Volksbildungseinrichtungen durch die Gebietskörperschaften ausschließlich die Stadt Wien selbst, die einen vielleicht nicht an sich, aber doch verhältnismäßig bedeutenden Budgetposten ausdrücklich für Bildungszwecke führt. Wir haben auch auf dem Gebiet der Stadt Wien ein Beispiel für „negative“ Förderung, das heißt für [S. 211] Befreiung von Lasten, in der Verordnung des Bürgermeisters vom 13. Juli 1934, nach der für bestimmte Veranstaltungen die Lustbarkeitsabgabe auf Antrag des Volksbildungsreferenten im Einzelfall, auf bestimmte Zeit oder bis auf Widerruf ermäßigt oder zur Gänze erlassen werden kann.

Ein Volksbildungsgesetz muß eine Erweiterung dieses Förderungswesens auf das ganze Bundesgebiet bringen.

Die Volksbildungsbehörden

Das bringt selbstverständlich einen Behördenapparat mit sich, der ja im Grunde schon besteht. Für die Personen dieses Apparates brauchen wir Erfahrung im praktischen Volksbildungswesen und vor allem jene Großzügigkeit, die unnützen Papierverbrauch vermeidet und den Instanzenzug reibungslos gestaltet. Auch in diesem Fall sind die Behörden für das Volk da und nicht umgekehrt.

Kultur und Wirtschaft

Es darf auch noch ein Wort zur Verbindung von Kultur und Wirtschaft gesagt werden. So selbständig auch diese beiden Bereiche sind, so sind die Beziehungen doch gerade für Österreich außerordentlich eng. Österreich hat seine Weltgeltung nicht so sehr von der wirtschaftlichen Seite her, als vielmehr von der kulturellen.

Eine differenzierte Gesellschaft verlangt überhaupt ein stärkeres kulturelles Leben, auch vom Standpunkt der Wirtschaft her gesehen. Die drei Wiener Volksbildungshäuser allein hatten im Jahre 1934 einen Gesamtumsatz von 2 Millionen Schilling. Das [S. 212] heißt also: intensive Tätigkeit auf dem kulturellen Gebiet regt auch unmittelbar das Wirtschaftsleben an.

Wir haben eine ganze Reihe von Kursen, wie etwa die Sprachkurse, die vielfach aus überwiegend wirtschaftlicher Zielsetzung heraus aufgesucht werden. Hier führen wir dem wirtschaftlichen Bereich zusätzliche Kräfte zu.

Volksbildung und Arbeitslosigkeit

Durch jedes unserer drei Volksbildungshäuser gehen in den Wintermonaten 600 bis 1000 Arbeitslose täglich in Arbeitslosenkursen und Vorstellungen für Arbeitslose. Die 24.000 Leser der Wiener Arbeiterbüchereien setzen sich anfangs 1935 zu mehr als zwei Drittel aus Arbeitslosen zusammen.

Wir leisten also hier eine nicht unbedeutende moralische und geistige Arbeitslosenfürsorge, das heißt wir versuchen das Unsere zu tun, um den Arbeitslosen in seiner Spannkraft zu erhalten und ihn außerdem so zu schulen, daß er leichter und mit größerer Aussicht die Arbeitssuche wieder aufnehmen kann.

Der Ausbau der Beziehungen zur Wirtschaft liegt durchaus in der Linie eines zeitgemäßen Volksbildungswesens.

Volksbildung und Kultureinrichtungen

Noch ein Wort zum kulturellen Lebensbereich. Es gibt ganz große Vermittlungsstellen der Kultur, die man herkömmlicherweise nicht als Einrichtungen oder Anstalten des Volksbildungswesens zu bezeichnen gewohnt ist, wie Rundfunk, Presse, Bühne, Film, [S. 213] Museen. Es ist ganz klar, daß alle diese Einrichtungen ihrem Wesen nach einer geordneten Kulturvermittlung dienen sollen, im besonderen Rundfunk, Presse und Film. Es ist also sicher billig und recht, wenn wir auf einen vermehrten Einfluß der Volksbildung im engeren Sinn auf diese Volksbildungseinrichtungen im weiteren Sinn hinarbeiten, wenn wir eine möglichst enge Zusammenarbeit wünschen, die ja erfreulicherweise im Wachsen begriffen ist.

Ebenso gehören zum vollen Umfang der Volksbildung im Sinn einer geordneten Vermittlung von Kulturgütern alle Maßnahmen der Körperpflege. Das braucht nicht zu heißen, daß alle diese Gebiete nun einer einzigen Behörde unterstellt sein müßten, aber die Beziehungen müssen aufrechterhalten und ausgebaut werden.

Volksbildung im Ständestaat

Häufig wurde das Volksbildungswesen in Zusammenhang gebracht mit den neuen ständischen Gedanken, und es haben sich Begriffe einer eigenen ländlich-bäuerlichen und großstädtischen Arbeiterbildung ergeben. Man muß sich hier des Relativen bewußt bleiben, um nicht in Übertreibungen zu fallen. Ein Volk kann nicht in seine Berufsstände so auseinanderfallen, daß mehrere Kulturen nebeneinander oder auseinander gingen. Es ist klar, daß die verschiedene Arbeitsweise und die verschiedenen örtlichen Gegebenheiten eine verschiedene Art der Freizeitgestaltung bedingen. Unserem Gesamtgebiet des heutigen kulturellen Lebens werden daher für die verschiedenen Schichten des Volkes verschiedene Kulturgüter in verschiedener Weise näherliegen.

[S. 214] Das Arbeiterbildungswesen

Da sind für uns besonders wichtig die Einrichtungen des Arbeiterbildungswesens, die zum Teil vor der politischen sozialistischen Partei entstanden sind, zum Teil im Zusammenhang mit ihr, und die durch die Februarereignisse des Jahres 1934 in starke Mitleidenschaft gezogen wurden. In Wien ist es in einem nicht unbedeutenden Ausmaß gelungen, wertvolle Sachbereiche dieses Arbeiterbildungswesens zu erhalten. Es ist gelungen, die Arbeiterbüchereien weiterzuführen, eine Reihe von Bildungsvereinen oder Vereine, die besondere kulturelle Werte pflegen, aus dem Zustand der Auflösung wieder in sachliche Tätigkeit zu bringen, so Arbeitergesang-, Musik- und Mandolinenvereine, Arbeitertrachtenvereine. Es ist auch gelungen, die drei großen Volksbildungshäuser in ihrer Tätigkeit so auszudehnen, daß sie in vermehrtem Ausmaß geeignet sind, den Bedürfnissen gerade der Arbeiterschaft zu dienen.

Das sind allerdings nur Teile aus dem Gesamtgebiet der Kulturorganisationen, soweit sie eben in näherer Beziehung zum herkömmlichen Begriff der Volksbildung standen. Wir wollen die Hoffnung nicht aufgeben, daß alles das, was in der Arbeiterbildung vor den Februarereignissen an sich wertvoll war, durch die Parteiverbundenheit aber der Auflösung verfiel, soweit es nicht parteipolitisch bedingte Überdimensionierung angenommen hatte und aus der Parteiverbundenheit sachlich herausgelöst werden kann, in angemessenen Formen wieder den Weg zum Leben findet.

 

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt, Hervorhebungen in Fettdruck werden ebenfalls fett wiedergegeben. In eckiger Klammer steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.)

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