Die Psychologie in der Volksbildung

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Author/Authoress:

Kraft, Viktor

Title: Die Psychologie in der Volksbildung
Year: 1922
Source:

Volksbildung. Monatsschrift für die Förderung des Volksbildungswesens in Deutschösterreich, 4. Jg., Oktober-Dezember 1922, H. 1-3, S. 66-70.

Die Psychologie ist berufen, in der Volksbildung eine bedeutungsvolle Rolle zu spielen, eine viel größere, als es gegenwärtig den Anschein hat. Denn das praktische Leben verlangt heute an bestimmten Punkten dringend psychologische Vorbildung. Da ist vor allem einmal das große Gebiet der Erziehung. Nicht nur Berufserzieher, sondern alle Eltern sollen doch von dem Seelenleben des Kindes so viel wissen, daß sie Kinder nicht nur richtig zu behandeln imstande sind, sondern vor allem überhaupt einmal erst wirklich verstehen, daß sie wissen, wie ein Kind innerlich lebt, was es seelisch braucht, was es kann und was es nicht kann in einem bestimmten Alter (z. B. an Konzentration der Aufmerksamkeit, an Gedächtnis für Verbote). Es ist beinahe überraschend, wie wenig die Erwachsenen, die eigenen Eltern eine richtige Vorstellung vom Seelenleben des Kindes haben; bald stellen sie es sich viel zu hoch, fast so wie das des Erwachsenen, vor, bald auch wieder zu niedrig und einfach. Es gibt aber auch Kinderfreunde genug, welche ein lebhaftes Bedürfnis [S. 66] nach Belehrung darüber fühlen. Das habe ich zu meiner Freude gesehen, als ich einmal einen Kurs über die seelische Entwicklung des Kindes hielt, der überwiegend von jungen Müttern und anderen, die mit Kindern zu tun hatten, besucht war.

Der zweite große Kreis, der gerade heute und gerade bei uns nach psychologischen Kenntnissen verlangt, ist die Lehrerschaft, vor allem der Volksschulen. Denn hier hat jetzt die Schulreform eine ganz neue Basierung des Unterrichtes gebracht; ihr Wesen ist es, daß sie ihn psychologisch aufbaut, nicht systematisch, das heißt, daß in der natürlichen Weise, Kenntnisse durch Erfahrung zu erwerben, vorgegangen werden soll, nicht daß ein Stoff nach seiner logischen Gliederung gelernt werden soll. Und ebenso soll die ganze Schülerbehandlung eine psychologische sein: Eingehen auf die jugendliche und individuelle Art statt bloßer Disziplin und statt der einfachen Klassifizierung durch Rangnoten eine Beschreibung der Schülerindividualität. Dieses Prinzip soll jetzt in die Praxis umgesetzt werden von einer Lehrerschaft, die doch noch aus der alten Schule der Lehrerausbildung hervorgegangen ist. Wenn nun auch vielleicht die gewöhnliche Lebens- und Schulerfahrung samt der sachmäßigen Anleitung dafür genügt, so ist es doch zweifellos wenigstens wünschenswert, wenn nicht geradezu erforderlich, daß die Lehrerschaft von dem Kenntnis erhalten kann, was an theoretischen Erkenntnissen der Psychologie dafür vorliegt. Und ebenso sollte man das den beteiligten Eltern ermöglichen, die doch jetzt viel mehr als früher zur interessierten Teilnahme an der Schule herangezogen werden. Es macht sich auch das Bedürfnis danach bereits in der Lehrerschaft geltend. So ist vor kurzem ein junger Lehrer zu mir gekommen, der Literaturangaben über Kinderpsychologie verlangte. Es ist aber unmöglich, daß sich junge Lehrer, geschweige denn die Eltern, im allgemeinen direkt an die wissenschaftliche Literatur wenden und die zahlreichen Veröffentlichungen zur Kinderpsychologie1, zur differentiellen Psychologie2, zu den Testmethoden für Begabungsprüfungen3 durchstudieren. Das ist eine viel zu große und [S. 67] zu schwierige Arbeit. Sondern sie brauchen eine Vermittlung der einschlägigen psychologischen Ergebnisse. Und diese müßten ihnen, wie die Dinge jetzt liegen, volkstümliche Kurse geben.

Schließlich kann man noch auf die Beziehungen hinweisen, welche die Psychologie gerade neuestens zum Wirtschaftsleben hergestellt hat. Sie hat die psychologischen Bedingungen bestimmter Arbeitsleistungen (Taylorismus), der Eignung für bestimmte Berufe, der Reklame usw. untersucht4. Durch solche Ergebnisse – so sehr sie auch noch in den Anfängen stehen und so wenig man sie auch überschätzen muß – hat die Psychologie eine unmittelbare Bedeutung auch für manche Zweige der wirtschaftlichen Tätigkeit. Auch die Psychologie der Zeugenaussage hat ein unmittelbares praktisches Interesse für sich.

Es würde nun auch sehr schön und bestechend klingen, zu sagen, daß die Psychologie, ganz abgesehen von all dem, ja doch die große Aufgabe habe, uns unser eigenes Innere besser kennen und unsere Mitmenschen besser verstehen zu lehren. Aber dazu müßte unsere Psychologie viel weiter sein, als sie es tatsächlich ist. Das Getriebe unserer seelischen Erscheinungen aufzudecken, geschweige denn, uns "die verborgenen Tiefen unserer Seele zu enthüllen", gelingt ihr noch in sehr unzulänglicher Weise. Sie kann nur Bescheideneres versprechen: eine generelle Übersicht dessen, was auf der Bühne des Bewußtseins im hellen Licht auftritt, und dessen, was sich da begibt – und hie und da vielleicht noch einen flüchtigen Blick hinter die Kulissen.

Eine solche volkstümliche Psychologie, wie ich sie im vorausgehenden skizziert habe – das ist freilich nicht die Psychologie unserer Lehrbücher mit ihrer überwiegenden Empfindungsanalyse, ihren Schwellenwerten und Reaktionszeiten. Diese hat zu wenig Berührung mit dem wirklichen Leben. In ganz anderem Maß ist das bei der Entwicklungspsychologie, bei einer genetischen statt einer systematischen Darstellung des Seelenlebens der Fall. Wenn man das Seelenleben des Kindes von der Geburt bis zur Pubertät in seinem Werden vorführt, dann gewinnt man einen viel besseren Einblick in seinen inneren Aufbau als durch die abstrakte Systematik der psychologischen Lehrbücher. Die Empfindungen als Elemente unseres Vorstellungslebens und die Rolle des Gedächtnisses tritt da klar hervor; man sieht, wie das Bewußtsein des Raumes sich allmählich bildet [S. 68] und die Vorstellungen von Gegenständen und dann das Bewußtsein vom Ich, dagegen erst viel später das der Zeit; man sieht, wie die Sprache sich entwickelt und wieviel sie bedeutet, wie der Wille, das Festhalten von Absichten und die Konzentration, erst langsam und allmählich erstarkt, wie dann das Verhältnis von Ursache und Wirkung, der Unterschied von wirklich und nicht-wirklich erkannt, das Zählen und so vieles andere erlernt wird, und wie von da an immer mächtiger und breiter sich das Vorstellungsleben entwickelt gegenüber dem ursprünglichen Affekt- und Triebleben. Indem so das Bewußtsein sukzessive in seiner komplizierten Zusammensetzung sich vor uns aufbaut, heben sich uns die einzelnen Bestandteile viel deutlicher für sich und in ihrer Rolle im ganzen heraus. Die Struktur des Bewußtseins wird so viel eher verständlich als durch die systematische Aufzählung der Gattungen der psychischen Erscheinungen und ihrer Zusammenhänge.

Wo aber eine solche genetische Darstellung nicht am Platz ist, weil es sich nicht um die Psychologie der Jugend handelt, sondern um die der Erwachsenen – wie bei der Psychologie des Wirtschaftslebens – , muß man doch die allgemeinen psychologischen Voraussetzungen für derartige spezielle Anwendungen in der Form einer systematischen Psychologie entwickeln. Aber auch dann wird man anders vorgehen müssen, als es in den Lehrbüchern der Psychologie der Fall ist. Man wird nicht nach einigen allgemeinen Bemerkungen gleich mit der Lehre von den Empfindungen anfangen dürfen und diese so breit ausführen wie dort; sondern man wird vielmehr von ganz allgemeinen Beispielen des komplexen Bewußtseinlebens (etwa gut ausgewählten Romanabschnitten oder Schauspielmonologen oder aber praktischen Arbeitsleistungen) ausgehend zunächst einmal eine Übersicht der großen Gattungen seelischer Erscheinungen überhaupt (Wahrnehmungen, Erinnerungen, Begriff, Wille, Gefühl ...) geben. Dann wird man bei der Wahrnehmung analysierend einsetzen und darin die Empfindungen als elementare Bestandteile aufweisen und deren Reproduktion in den Erinnerungs- und Phantasievorstellungen. Dann erst kann man auf die Lehre von den Empfindungen kurz eingehen. Dann wird man zeigen, daß auch die Gefühle etwas Zusammengesetztes sind (aus Vorstellungen und Lust-Unlust-Zuständen und Organ- und anderen Empfindungen) und die verschiedenen Gefühlstheorien vorführen. Dann wird man das Willensproblem besprechen: ob der Wille ein eigenes psychisches Grundphänomen ist oder nur eine bestimmte Art des Ablaufes und Zusammenhanges seelischer Erscheinungen. Danach sind, ebenso immer von konkreten Beispielen seelischer Zusammenhänge aus, die Beziehungen darzulegen, welche zwischen den seelischen Inhalten spielen: Enge des Bewußtseins und Aufmerksamkeit, Verschmelzung, Assoziation, Gedächtnis, Übung, Gewöhnung usw. [S. 69] Hier macht sich die theoretische Unfertigkeit der gegenwärtigen Psychologie, namentlich hinsichtlich der Dynamik des Seelenlebens, geltend. Gerade deshalb wird man die psychodynamischen Grundgedanken Freuds und einiger anderer (Alfred Adler) nicht beiseite lassen dürfen und, wenn auch mit Vorsicht, zur Sprache bringen müssen6. Sehr wünschenswert wäre es auch, daß man auf die Psychologie der Individualität7 und die der Geschlechter8 und die der Masse eingehen könnte, soweit eben wissenschaftlich etwas darüber vorliegt. Denn das sind gerade Gebiete von größerer Lebensnähe und besonderem Interesse. Nur muß man hier sehr darauf achten, nur wirklich Ergebnisse der wissenschaftlichen Psychologie – die freilich spärlich sind – zu bringen und sich nicht durch die viel weitergehenden, aber haltlosen Konstruktionen einer populären oder journalistischen Psychologie verlocken lassen. Ein Buch, in dem man eine solche volkstümliche Psychologie fertig vorfände, wüßte ich nicht zu nennen. Der wissenschaftlichen Literatur kann man nur das Material entnehmen; die Arbeit der Auswahl und Anordnung und faßlichen Darstellung muß man aber selber leisten. [S. 70]

Anmerkungen:

1 W. Stern, Psychologie der frühen Kindheit bis zum sechsten Lebensjahre. 1914. – J. Sulln, Untersuchungen über die Kindheit. Deutsch von Stimpff. 3. Aufl. 1909. – G. Companré, Die Entwicklung der Kindesseele. Deutsch von Ufer. 1900. – C. Bühler, Die geistige Entwicklung des Kindes, Jena 1908. Abriß der geistigen Entwicklung des Kindes, Jena 1919. („Wissenschaft und Bildung“, 156.) – K. Groos, Das Seelenleben des Kindes. 2. Aufl. 1911. – R. Gaupp, Psychologie des Kindes, 2. Aufl. 1910. (Aus „Natur und Geisteswelt, 213.)

2 W. Stern, Die differentielle Psychologie, 1911.

3 E. Neumann, Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik. 2. Aufl. 1911. – A. Binet, Die neuen Gedanken über das Schulkind. Deutsch von Anschütz-Ruttmann, 1912. – W. Stern, Die psychologischen Methoden der Intelligenzprüfung in moderner Anwendung an Schulkindern, 1912. – Ferner dazu Arbeiten in der „Zeitschrift für angewandte Psychologie“ (herausgegeben von Stern) und der „Zeitschrift für experimentelle Pädagogik“ (begründet von Meumann).

4 H. Münsterberg, Psychologie und Wirtschaftsleben, 1912. – Ebenfalls Arbeiten in der „Zeitschrift für angewandte Psychologie“ und in der „Zeitschrift für praktische Psychologie“

5 A. Stöhr, Psychologie der Aussage, 1912. („Das Recht“, Bd. IX, X.)

6 S. Freud, Fünf Vorlesungen über Psychoanalyse. – A. Adler, Praxis und Theorie der Individualpsychologie, 1920.

7 A. Huther, Prinzipien der Charakterologie, 1911. – G. Kerschensteiner, Charakterbegriff und Charaktererziehung, 1912.

8 H. Thompson, Vergleichende Psychologie der Geschlechter, Übersetzt von Kötscher. 1905.

9 G. le Bon, Psychologie der Massen. Übersetzt von Eisler, 1912.

10 Zahlreiche Literaturangaben bei W. J. Ruttmann, Die Hauptergebnisse der modernen Psychologie, 1914.

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