Die Gründung des ersten „Gemeinnützigen Vereines“ in Wien

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Author/Authoress:

Stamm, Ferdinand

Title: Die Gründung des ersten „Gemeinnützigen Vereines“ in Wien
Year: 1879
Source:

Volks-Bildungs-Blätter (Organ des Gemeinnützigen Vereines im IX. Bezirke der Stadt Wien), 1. Jg., Juli 1879, H. 1, S. 2-4.

Bildung veredelt und erhöht die Würde des Menschen, und je allgemeiner Wissenschaften, Künste und edle Gesittung sich in einem Volke verbreiten, desto wohlhabender, einflussreicher, mächtiger und angesehener hebt es sich über seine ungebildeten Nachbarn.

Die Bildung eines Volkes läßt sich aber nicht ertrotzen und erzwingen, wenn man auch die gefürchtete Macht eines Gewaltherrschers besäße; sie lässt sich nur durch das belehrende Wort und das anregende Vorbild allmälig fördern, pflegen und verbreiten, und auch dafür ist die ausreichende Macht nicht in die Hand eines Einzigen gegeben, und sei es auch der Höchstgestellte im Staate; es müssen Mehrere, es müssen Viele sich zu dieser großen Aufgabe vereinigen und einheitlich zu gleichem edlen Zwecke zusammenwirken.

Erst in der neuen Zeit hat man das erkannt und in dem Vereinswesen die zweckmäßigste Form dafür gefunden. Nicht etwa versteckt als Geheimbündelei oder im Finstern schleichende Verschwörung, sondern in freier Vereinigung offen am hellen Tage, im Sonnenlichte, welches alles Gedeihen weckt und fördert, mit bestimmtem Ziele und mit klar vorliegenden Mitteln, auf dass sie leicht nachgeahmt und zu jeder Zeit verbessert werden können.

Als „Gemeinnützige Vereine“ sind diese Verbindungen in England, Nordamerika, in Frankreich, Belgien, und der Schweiz und in dem deutschen Reiche netzförmig über viele Staaten verbreitet, und die Erfolge für die Verbreitung der Bildung in allen Schichten des Volkes sind ganz außerordentlich. Die Förderung der sittlichen, geistigen und materiellen Interessen des Volkes, die [S. 2] Pflege des wohlgeordneten Familienlebens, die Wirkung und Hebung der Häuslichkeit, und der Heimatsliebe, die Belebung des bürgerlichen Gemeinsinnes sind die Zwecke. –

Versammlungen der Vereinsmitglieder zur Besprechung und Behandlung von Fragen und Angelegenheiten der Erziehung, des Unterrichtes, der Belehrung und Bildung, des Haushaltes, der Gesundheitspflege, der Erwerbs- und Verkehrsthätigkeit, des Handels und Gewerbefleißes und aller Fortschritte in der Ausbildung der Volkswirthschaft;

Oeffentliche freie und unentgeltliche Vorträge und gemeinverständliche wissenschaftliche Demonstrationen zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse;

Einführung von Fortbildungskursen für reifere Theilnehmer zur Behandlung von Lehrgegenständen, deren Verbreitung nach dem Zeiterfordernisse besonders dringlich erscheinen;

Ausstellungen, dann Ausschreibung und Zuerkennung von Preisen, Medaillen und Anerkennungs-Diplomen für gemeinnützige Aufgaben, Bestrebungen und Leistungen;

Errichtung und Leitung von öffentlichen Frei-Bibliotheken und Frei-Lese-Hallen;

Endlich Publication periodischer Mittheilungen, sowie Veröffentlich und Verbreitung anderer Druckschriften belehrenden und gemeinnützigen Inhaltes –

Das sind die Mittel, womit diese Vereine wirken.

In Oesterreich, dessen Völker für alle Anregungen zur Bildung besonders empfänglich sind, bestanden wohl seit der neuen Zeit der freiheitlichen Bewegung schon einzelne Vereine, welche sich einen und den andern der hier hier [ sic!] angedeuteten Zwecke zur Aufgabe stellten, allein sie sind ihrer Verbreitung und Entwicklung hinter denen anderer Culturländer zurückgeblieben.

Dr. Wilhelm Freiherr v. Schwarz-Senborn, ein Mann von vorragender Ursprünglichkeit, Thatkraft und Ausdauer, welcher seit nahezu vierzig Jahren immer an der Spitze der fortschrittlichen Bewegung unserer Zeit gestanden ist, sich dadurch um Oesterreich große Verdienste erworben hat, unermüdlich in diesem Geiste fortwirkt, durch drei Decennien in Frankreich, England und in den Vereinigten Staaten Amerikas lebte und wirkte und in seinen hohen und einflussreichen Stellungen, die er einnahm, Gelegenheit hatte, alle Förderungsmittel der Volksbildung und Volksveredlung kennen zu lernen, mit klaren Augen alles sah, mit warmem Herzen alle guten Eindrücke aufnahm und mit rastlosem Eifer diese reichen Erfahrungen geistig verarbeitete, fasste bei seiner jüngsten Rückkehr aus Amerika nach Oesterreich und in seine Vaterstadt Wien den Entschluß, die erprobten Institutionen des Auslandes für die Förderung der Volksbildung insbesondere die Gemeinnützigen Vereine mit ihren bewährten Einrichtungen in seine Heimat zu verpflanzen.

Alles war lange und reiflich erwogen, das reiche Materiale sorgsam gesichtet, die umfassende Vorbereitung abgeschlossen und so konnte nun die That folgen, von deren rascher Ausführung der Schreiber Dieses Zeuge war und sie daher skizzieren kann.

Anfangs März 1879 zog Freiherr v. Schwarz-Senborn einige Gesinnungsgenossen heran, um das Programm und die Statuten des Vereines zu berathen. Sie wurden als Entwurf gedruckt und einer größeren Versammlung von Männern aus dem neunten Bezirke (Alsergrund) der Stadt Wien, an welcher der Bezirksvorstand und die meisten Mitglieder der Gemeindevertretung sich betheiligten, mit eingehenden Erörterungen vorgelegt.

Eine große Zahl der Versammelten gaben [ sic!] nicht allein dem Programm und dem vorgelegten Entwurfe der Statuten ihre Zustimmung, sondern erklärten sich auch zur Theilnahme an dem geplanten Vereine bereit und unterfertigten das Programm. Damit constituirte sich am 8. März 1879 das Gründungs-Comité aus den nachfolgenden Mitgliedern:

Franz Erban Steinhändler, Gemeinde-Rath, IX. Roßauerlände 30.

Albert Felner von der Arl Ministerial-Rath im k. k. Justizministerium, IX. Schwarzspanier-Straße 5.

Ignaz Gerstle Gemeinde-Rath und Bezirks-Vorstand, IX. Thurn-Gasse 9.

Dr. Richard Godeffron Vorstand des chem. Laboratoriums des allg. österr. Apotheker-Vereines, IX. Spital-Gasse 31.

Eduard Göpfert Glas-Fabrikant, Firma: J. Schreiber & Neffen, IX. Liechtenstein-Straße 22 und 24

Eduard Kaiser k. k. Bau-Rath, Architekt und Stadtbaumeister, Gemeinde-Rath, I. Bauernmarkt 10.

Dr. Johann Kernecker Arzt, Gemeinde-Rath, IX. Hahn-Gasse 3.

Jakob Lohner k. k. Hofwagen-Fabrikant, IX. Porzellan-Gasse 2.

Anton Martin Kaiserl. Rath, Bibliothekar der technischen Hochschule, IV. Carls-Gasse 2.

Johann Ptaschnik k. k. Gymnasial-Director, IX. Wasa-Gasse 10

Alois Ritter von Roßmanit-Florstern k. k. Statthalterei-Rath a. D., IX. Was-Gasse 13.

Carl Schellenberger Volks-Schul-Oberlehrer, IX. Liechtenstein-Straße 137. [S. 3]

Dr. Ludwig Schlager k. k. Regierungs-Rath, Universitäts-Professor, Director der nied.-öst. Landes-Irrenanstalt, Gemeinde-Rath etc., IX. Lazareth-Gasse 14.

Dr. Wilhelm Freiherr v. Schwarz-Senborn Sr. k. und k. apost. Majestät wirkl. geheimer Rath, außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister a. D. etc. etc., IX. Wasa-Gasse 13.

Gustav Simon Metallwaren-Fabrikant, I. Bauernmarkt 7.

Franz Ignaz Singer Buchhändler, Buchdrucker, Gemeinde-Rath etc., IX. Berg-Gasse 23.

Dr. Ferdinand Stamm Schriftsteller, Bergwerksbesitzer, g. Reichs-Raths-Abgeordneter etc., IX. Berg-Gasse 9.

Dr. Julius Wiesner k. k. o. ö. Universitäts-Professor etc., IX. Liechtenstein-Straße 12.

Freiherr v. Schwarz-Senborn überreichte sofort die Vereins-Statuten der hohen k. k. Statthalterei, behufs behördlicher Bescheinigung und das Gründungscomité pflegte nun mehrere Berathungen über die Vorbereitungen zur Constituierung, vertheilte unter sich die Aufgaben und entwickelte eine eifrige Thätigkeit, deren weitaus größter Antheil wohl dem Präsidenten des Comités, Freiherrn v. Schwarz-Senborn zufiel. Vereins-Mitglieder wurden geworben, Bücherspenden für die Frei-Bibliothek gesammelt, bestens geeignete Localitäten für die zu gründende Frei-Bibliothek und Frei-Lese-Halle aufgesucht, und der Verein dem Wohlwollen und der Pflege der hohen Behörde empfohlen, welche auch die Gründung in erfreulichster Weise förderten [ sic!]. In wenigen Wochen waren alle Vorbereitungen soweit gediehen, dass am 17. April die erste und constituirende Vereins-Versammlung im großen Saale des allgemeinen österreichischen Apotheker-Vereines in Wien, welcher dem neuen Vereine freie Gastfreundschaft gewährte, stattfinden konnte. Die Mitgliederschaft war schon über hundert angewachsen.

Eine erste Ausstellung hervorragender Belege und Muster der neuesten Fortschritte war damit verbunden, und in gehobener Stimmung votirte die Versammlung Ihren Majestäten dem Kaiser Franz Joseph und der Kaiserin Elisabeth zur Feier Ihrer silbernen Hochzeit eine Huldigungs-Adresse.

Die Versammlung nahm die Wahlen des Vereinsausschusses, des Vereinsvorstandes und der ständigen Comités vor und erhielt von dem neugewählten Vereins-Präsidenten die erfreuliche Mittheilung, dass Dank der ausdauernden Anstrengung des Obmannes des Comités für die Bibliothek, Herrn Franz Platz, die Vorbereitungen für die erste Frei-Bibliothek und Frei-Lese-Halle schon so weit gediehen seien, um diese am 24. April eröffnen zu können. Dieser Tag wurde gewählt, um die Gründung der neuen Volksbildungsanstalt mit einem schönen und erhebenden Festtage des Kaiserhauses – mit der schon oben erwähnten silbernen Hochzeit des kaiserlichen Jubelpaares – in unlösliche geschichtliche Verbindung zu bringen.

Am 24. April wurde in Gegenwart des Herrn Vicepräsidenten der k. k. Statthalterei Ritter v. Kutschera-Aichland, des Herrn k. k. Polizei-Präsidenten Ritter v. Marr-Marrberg, des Herrn Bezirks-Vorstandes Ignaz Gerstle und anderer Ehrengäste die Frei-Bibliothek in dem Locale, Nußdorfer-Straße Nr. 3 (nahezu im Centrum des IX. Bezirkes und an der Kreuzung mehrer lebhafter Verkehrsstraßen) von dem Vereins-Präsidenten, Freiherrn v. Schwarz-Senborn für das Publikum eröffnet und der zahlreiche Besuch gleich in den ersten Tagen gab das erfreuliche Zeugnis von der dankbaren Aufnahme des neuen Bildungsmittels von Seite des Volkes.

Wie diese einfache Geschichte zeigt, ward wohl selten ein Verein für das allgemeine Volkswohl so energisch, rasch und sicher ins Leben geführt; es konnte dies auch nur geschehen, weil er lang und reiflich überlegt von der kräftigsten Initiative eines so gefeierten Volksmannes ausging und so freudige Mitarbeiter fand, wie es eben hier der Fall war. [S. 4]

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. In eckiger Klammer steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.)

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