Die Aufgaben der Volkshochschule von heute

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Author/Authoress:

Tesar, Ludwig Erik

Title: Die Aufgaben der Volkshochschule von heute
Year: 1953
Source:

Die Österreichische Volkshochschule, Jänner 1953, H. 11 (NF 7), S. 9-13.

Paracelsus: Der Wille zeugt das Werk.

Die Volkshochschule (VHS), und zwar sowohl Abend- wie Heim-VHS, hat wie jede andere Schule einschließlich Universitäten eine zweifache Aufgabe: eine, was die Gesellschaft, die Volksgesamtheit, und eine, was die Persönlichkeit der einzelnen Hörer betrifft. Auch heute. Wie das nun aber im Leben schon ist, kann man diese Doppel-Aufgabe entweder ernster und eindringlicher ansehen, was dann freilich bald auch eine doppelte Verpflichtung und eine doppelte Verantwortung ergibt, oder eben gleichgültiger, was dann rasch die "circenses" ergibt. Soll die VHS "den großen Namen wieder verdienen" (W. Bründl in Nr. 6 (der "Österreichischen Volkshochschule", Anm. d. Redak.)), so wird sie wohl zur ersten Einstellung wieder finden müssen.

Der gesellschaftlichen Seite dieser zweifachen Aufgabe gehört es als wesentlich zu, den Sinn und die Verantwortung für den gesellschaftlichen, staatlichen, rechtlichen und sittlichen Gehalt im eigenen Volk (der "Volksgesamtheit") zu erwecken und zu pflegen, also durchaus nicht bloß für dessen kulturellen Gehalt. Es ließe sich sogar von gesellschafts-, staats-, rechts-, moralpolitischer und natürlich auch kulturpolitischer Willensbildung sprechen, wenn das nicht auftrumpfend geschieht. jedenfalls hat gerade das den nordischen VHS (Grundtvig), aber wohl auch der Wiener VHS vor dem ersten Krieg (vgl. W. Bründl) ihren Schwung gegeben. Sie wollten an der Gestaltung, Umgestaltung, Neugestaltung ihrer Volksgesamtheit (ihrer Gesellschaft) mitschaffen und waren überzeugt, daß sie es auch könnten! Sie hatten Glauben und Hoffnung gegenüber Leben und Zukunft. Daraus zogen sie selbst ihre Kraft und gaben sie Kraft den Hörern und dadurch auch der Gesellschaft. Dieser Geist gab ihnen als Ganzes Zweck und Sinn, die einzelnen Vorträge (Kurse) waren nur seine Diener. Und wie verhält sich das heute?

Ist das heute überhaupt noch möglich? Sind wir nicht zu müde dazu? Zu müd' zu Hoffnung und erst recht zu Glaube? Und sind nicht die verschiedenen Machtgruppen, von denen die VHS und deren Teilnehmer abhängen, zu autokratisch geworden, um derlei Extratouren zu gestatten? Denn gewiß: diese Willensbildung kann nicht darin bestehen, einfach ja und Amen zu sagen - freilich auch nicht darin, zu nörgeln und besserzuwissen. Sie erfordert die Stellungnahme, getragen von nüchterner, sachlicher Kenntnis und von verantwortlicher, mutiger Wahrheitsliebe, dabei ebenso fern von intoleranter Rechthaberei, wie nah verantwortungsbewußter Menschlichkeit. Das ist schwierig. "Wir sind Zeugen des Endes einer Welt und zugleich der Einleitung zum Drama einer Welt, die im Werden ist (...) Was muß sterben? Was wird weiter leben?" (Kard. Suhard). Schwere Fragen, bis zum Zermalmen schwer. Dennoch, ich glaube, die VHS müßte da Stellung nehmen - nehmen können. Stellung im Widerstreit innerhalb der heutigen Wirtschaft und Politik zwischen liberalistischen und utilitaristischen Ideen einerseits und christlichen und sozialistischen und solidaristischen Ideen, diese drei wieder untereinander uneins, andererseits. Das ist sicherlich simplifiziert von mir beschrieben. Es ist auch durchquert vorn Widerstreit gläubiger (religiöser) und ungläubiger Ideen, sittlicher und sittlich indifferenter Ideen, hier wie dort verfärbt von Lippenbekenntnissen und Heuchelei, und zugleich durchstoßen von einer technischen Entwicklung (Atomkraft, synthetische Chemie) und von einer wirtschaftlichen Organisierung (Konzentrationen), die alle Ideen, über den Haufen zu werfen scheinen. Soll unser tückisches Dilemma: Friede oder Krieg, sollen die großen, einfachen sittlichen Gefühle, letzter Halt und letzte Hoffnung von zahllosen, namenlosen arbeitenden Menschen heute, die VHS wirklich so blutwenig angehen? Sollte die VHS sich um diese nicht gerade heute zentralisieren? Zentralisieren dürfen?

Allerdings kann man wohl nicht gut Stellung nehmen, ohne selbst Stellung zu haben oder wenigstens einen Sack voll Fragen, die auf sie abzielen. Das ist die bekannte Sorge um den "Maßstab" oder wenigstens um das "Gefühl" und "Vorgefühl" für das Richtige und für das Kommende. Die VHS müßte also ein Gesellschaftsbild und Lebensbild haben und so auch ein Menschenbild und Weltbild. Hat sie's nicht, was heut wahrscheinlich ist, so muß sie wenigstens sich klar werden, mit ganzer Wahrheit klar

zu werden suchen, was ihr zu diesem Bild fehlt. Denn, wie es kürzlich Alberto Moravia [S.
9] präzisiert hat: "Das Sichgegenüberstehen zweier Welten - im kalten Krieg heut - verfälscht alles". Dazu wäre, gerade was die VHS betrifft, etliches zu sagen - ich muß es bei diesem Wenigen bewenden lassen.

Aber auch das führt schon zu etwas Heiklem, von dem zu sprechen heut möglicherweise tabu ist. Geraten wir nämlich mit Stellungnahme und Maßstab nicht rasch ins "Parteipolitische und weltanschaulich Einseitige"? Nun, ich meine zunächst, daß wir da mit einer "prinzipiellen" Ablehnung immerhin etwas vorsichtig sein müssen, wenn wir uns nicht selbst in Widersprüche verwickeln wollen. Denn schließlich hat Österreich zwei durchaus katholische und zwar landwirtschaftliche VHS, die ihre Bedeutung haben und denen niemand den Namen VHS streitig machen wird: St. Martin und Graschnitz in Steiermark (J. Lehrls rühmende Worte in Nr. 5 (der "Österreichischen Volkshochschule", Anm. d. Redak.)). Und andererseits wußte auch jedermann, daß die große Wiener Volksbildung liberal bzw. sozialistisch und städtisch war, dennoch hat ihr ebenso niemand den Namen VHS verweigert. Es gibt noch andere Beispiele. Allerdings müßten in diesen und ähnlichen Fällen einige unerläßliche Voraussetzungen erfüllt sein! Vor allem muß eine solche Einseitigkeit offen und ehrlich einbekannt werden! Leider kommt es aber in der Volksbildung zuweilen vor, daß (und zwar aus den verschiedenen Himmels- oder wenigstens Erdrichtungen) recht einseitig abgeblendet, trotzdem aber behauptet wird, man verfahre unabhängig bzw. voraussetzungslos. Das braucht nicht Heuchelei zu sein, es kann auch Irrtum aus gutem Glauben sein. Aber es ist gewiß dem Namen und auch der Idee der VHS abträglich.

Ist es zu gewagt zu behaupten, daß jede Volksbildung (VHS) jemals und heut mehr oder minder politisch und weltanschaulich eingestellt war und ist? Liberal, christlich, sozialistisch, nationalistisch, o. a. Kann es denn eine VHS "an sich" geben, also beziehungslos in Raum und Zeit, in Gegenwart und Geschehen? Die VHS wird doch von Menschen gemacht und von Mächten. Wirkt sie sich nicht auch dort politisch und weltanschaulich aus, wo Neutralität oder auch bloß Ahnungslosigkeit vermeint, sie davon fernzuhalten? Lehrreich dazu die Arbeit und die Kämpfe der nördlicheren deutschen (Heim-) VHS in der Zwischenkriegszeit bis 1933.

Dies alles gilt auch weithin für die noch heut wiederholt und oft mit gutem Fug geforderte "Selbständigkeit" im Überlegen und Urteilen als Ziel der VHS. Sie vermag niemals darin zu bestehen, überhaupt ohne jeglichen Maßstab auskommen zu können, sondern kann vielmehr nur darin bestehen: 1. zu wissen, daß man stets Maßstäbe mit sich trägt, mit denen man mißt, 2. sich zu bemühen, diese, so gut es geht, kennen zu lernen (völlig ist's niemals möglich) und 3. sich immer auch die Begrenztheit aller Maßstäbe, also auch der eigenen, vor Augen zu halten.

Mit diesen letzten Forderungen sind wir bei der anderen Voraussetzung. Auch sie unabdingbar. Denn das warnende Signal vor Einseitigem und Parteiischem besteht, unbeschadet der eben vorgebrachten Einschränkungen, heut mehr als jemals zurecht!

Entscheidend scheint es mir nämlich für jede VHS (und für alle ihre Dozenten und alle ihre Teilnehmer): nicht sich selbst als die Fortgeschrittenen und die anderen als die Zurückgebliebenen, nicht sich selbst als die Auserwählten und die anderen als die Ausgesetzten oder gar Aussätzigen zu betrachten, nicht bloß bereit zu sein, die eigenen Anhänger zu lieben und die übrigen zu hassen, sondern vielmehr auch von den anderen, gerade den anderen, lernen zu wollen, und einander, wenn schon nicht zu lieben, so mindestens achten zu lernen - auch dort zu achten, wo man, um der Wahrheit und Würde wegen, einander bekämpfen muß, und sei's auch mit Einsatz des Lebens. Denn weh einem Volk, dessen Volksbildung und VHS zum bloßen Instrument der Machtgruppen in ihrem Machtkampf werden! Hier sehe ich eine der drängendsten, wenn nicht gar die drängendste Aufgabe der VHS heut und besonders bei uns! Mag sein, daß diese Aufgabe die VHS aus dem Einseitigem und Parteilichem [ sic!
] bereits hinaus führen könnte. -

Falls Volksbildung mehr- oder weniger separat für Arbeiter, Bauern und Bürger, für Katholische, Sozialisten und Liberale usw. betrieben wird, mit mehr oder weniger wechselseitiger Unkenntnis und Abneigung, Mißachtung und Unduldsamkeit, wird die Frage brennend, wann und wo diese konkurrierenden Vertreter von Volks-"Teilen" [S.
10] endlich zusammenkommen? Wo das Volks-“Ganze" bleibt? Die Volks-"Gesamtheit"? Und daher wohl auch die Demokratie? Bittere Fragen, sie brauchen deshalb nicht unwahr zu sein.

Wie dem auch sei, jedenfalls war ich in den letzten Jahren immer wiederum neu erstaunt, daß der Gedanke einer gewissermaßen gesamt-volklichen österreichischen VHS so geringen Widerhall findet, ja überhaupt auch nur ausgesprochen wird. Und zwar Österreich durchaus nicht bloß als Besinnung auf volkskundliche Bräuche und Werte, auch nicht einmal bloß auf seine großen kulturellen Werte und Fähigkeiten, sondern vor allem auf seinen gesamt-staatlichen und gesamt-volklichen, seinen rechtspolitischen und sozialpolitischen Gehalt und Ausdruck! Österreichs Kunst der Verwaltung und des Verständnisses für Menschen, sein Fingerspitzengefühl für Lebensführung hatten einmal internationalen Ruhm (vgl. etwa M. Scheler). Liegt also nicht hier eine spezifische Aufgabe der österreichischen VHS von heute? (Zugegeben leichter für eine Heim-VHS, die für einige Wochen Wiener und. Tiroler und die anderen, Städter und Dörfler, Arbeiter, Bürger, Bauern usw. als Hörer und Hörerinnen zusammenbringt.) Wichtig dabei: Österreich, bei aller Besinnung auf seine Vergangenheit, vor allem als Gegenwart und als Zukunft - vgl. dazu was Fuller (Gesch. d. zweiten Weltkrieges) von Wien und Österreich als dem "Tor zu Mitteleuropa und daher auch Osteuropa" schreibt, dessen Besitz auch über den Sieg des zweiten Weltkrieges entscheide.

Dies führt darüber weiter hinaus zu einer anderen bedeutenden Aufgabe der VHS heut: die europäische VHS! Auch sie nicht propagandistisch und ideologisch, auch nicht bloß historisierend, sondern mit der hervorgehobenen Sachlichkeit und Ehrlichkeit aufgefaßt, und nicht zuletzt als moralische (und geistige) Aufgabe, trachtend nach der "Harmonisierung der Vielfalt" und nicht nach der Unterwerfung unter irgendeine Einseitigkeit.

In Leopoldskron bei Salzburg gibt es eine bedeutsame Bildungsstätte über Amerika - es mag andere, von denen ich nicht weiß, über anderes Ausland geben - warum haben wir keine gerade über Österreich und über Europa? Und zwar nicht für einen exklusiven Kreis, der sich's leisten kann bzw. als Gast erwünscht ist, sondern der Gesamtheit zugänglich als VHS! --

Das Bisherige ist nur die eine Seite der Doppelaufgabe der VHS, etwa ihr Knochengerüst - Fülle und Wärme des Fleisches ergibt erst ihre andere Aufgabe: der Mensch als persönlicher Mensch. Beide Aufgaben sind gleichzeitig und untrennbar. Denn ebenso wie eine jede Gesellschaft letztendlich aus den einzelnen Menschen aufgebaut ist, auch jede Masse (Alfr. Weber), so ist auch der einzelne Mensch immer nur innerhalb einer gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen Situation vorhanden. Allerdings wird diese wechselseitige Unentrinnbarkeit heute eher theoretisch zugegeben, als ihr praktisch gerne Rechnung getragen wird. Auch in den VHS.

Jedoch, dieser einzelne persönliche Mensch ist niemals und nirgends bloß durch psychologische Begriffe auszuschöpfen oder durch das Problem seiner Mußebeschäftigung zu bewältigen. Persönlichkeit ist nicht nur mehr, sondern auch etwas anderes als Psychologie und Zeitvertreib. Umso mehr und anders, je leidenschaftlicher (was nicht mit triebhaft zu verwechseln) und je bedeutender (was nicht mit erfolgreich zu verwechseln) sie ist. Letzten Grundes ist sie überhaupt nicht erfaßbar, also irrational, worauf besonders der jetzt gern zitierte Max Scheler hingewiesen hat. Auf jeden Fall ist sie ein Ganzes - wir müssen uns hüten, sie volksbildnerisch aus Teilen, wie etwa Beruf, Familie, Freizeit, o. a. summieren zu wollen.

Volksbildnerisch ergibt sich da eine außerordentliche Schwierigkeit und oft auch genug Verlegenheit. Die Glanzzeiten der VHS, von Grundtvig bis zu Ludo Hartmann, hatten es hierin leichter, weil damals die existentiellen persönlichen Nöte gelinder waren, obgleich das künstlerische und schriftstellerische Barometer schon um die 70er Jahre (des 19. Jahrhunderts, Anm. d. Redak.) Sturmtief anzuzeigen begann.

Hier muß freilich etwas gesagt sein, was mancherlei Anstoß erregen mag - nämlich daß dem "Persönlichen" gegenüber die religiös und die ethisch (und auch etliche philosophisch) gegründeten Lebenseinstellungen und deren Volksbildungen überlegen sind den nur rational und wissenschaftlich gegründeten - daher auch eine religiös christliche einer positivistisch sozialistischen. Denn für jene ist das Ganze und freilich [S.
11] auch das letztlich Rätselvolle und Unerfaßbare einer Persönlichkeit selbstverständlich oder sollte es wenigstens sein. Sie sind darum jederzeit für deren existentielle (d. h. hier nicht bloß materielle, sondern auch und besonders persönlichkeits-gemäße) Anliegen und Nöte empfänglich und zugänglich. Für diese hingegen ist Persönlichkeit mehr oder weniger "Privat"-Sache (simplifiziert: Religion als Privatsache), wodurch sie sich in der Regel den Zugang zum eigentlich persönlich Existentiellen von selbst verschließen. Allerdings kann diese Überlegenheit, zumal bei einer Einstellung, der es um eine politisch benützbare "Weltanschauung" geht, auch mißbraucht werden, wurde es und wird's.

Nun hat's ja heut mit dem Religiösem und Ethischem [
sic!] manchmal merkwürdige Bewandtnis - auch in den VHS. Denn es kommt 'bekanntlich vor, daß beide gar nicht so selten - und zwar von verschiedenen, selbst entgegengesetzten politischen und ideologischen Gruppen - mehr oder minder bloß als Mittel ihrer Taktik für recht andere Zwecke benützt werden. Geschieht es dann nicht, daß etwa für die einen ein verbeugender Eiertanz vor ihnen empfehlenswert erscheint, obwohl die eigene Ideologie sie nach wie vor als reaktionär oder atavistisch abtut? Und daß etwa für die anderen dort Übersteigerung und Ablenkung ins Theologisch-Spekulative ratsam erscheint, wo es den vielen bescheidenen Menschen um schlichte Christenwahrheit und sittliches Gefühl geht? Und etwa für Dritte ein Drittes usw. Das hängt ja mit den schon angedeuteten Schwierigkeiten und Verfälschungen zusammen. Nicht erst zu reden von ausgefallenen sektiererischen Intellektualismen auf diesem Gebiet. Mir kommt vor, daß all dies die Gefahr hat, "Volks"-Bildung von Haus aus verlogen zu machen. Das mindert aber nicht meine Überzeugung, bestärkt sie vielmehr, daß die VHS heute ums Sittliche und ums Religiöse nicht herumkommt - im Gegenteil! Diese Überzeugung mag manchem als irrational und darum als rückständig gelten: jedoch bleibt nicht das irrationale Teufelchen, wenn's schon ein Teufelchen sein muß, in unserem Kopf auch nach dessen gründlichstem rationalem [
sic!] Reinemachen behaust? Schon wenn es sich um die Physik von E. Mach oder E. Schrödinger handelt, geschweige erst dort, wo Leben, Menschen, Leidenschaften und Tod ins Spiel kommen?

Ich möchte nicht mißverstanden sein. Ich begehre in keiner Weise, daß nun alle Volksbildung christlich werden sollte oder sonst religiös oder eben sektiererisch. Sie soll und kann das so wenig, wie sie etwa durch die Bank sozialistisch oder liberal werden sollte und könnte. Nein, am Anfang und Ende jeder Volksbildung stehen Wahrheitsliebe und Ehrlichkeit; auch sind Kreuzzüge immer von Übel. Über die Notwendigkeit des gegenseitigen Sichverstehenwollens (freilich aus warmem, wahrem Herzen. heraus und nicht bloß im Als-ob) wurde schon gesprochen.

Berechtigt die Frage: was denn eigentlich die "existentiellen" Anliegen und Nöte sind? Sie mögen zunächst nicht mit "Existentialismus" u. ä. verwechselt werden (womit ich freilich den nicht leichtfertig abtue). Ansonst begnüge ich mich mit einem Zitat aus dem soeben erschienenen Buch von R. Jungk "Die Zukunft hat schon begonnen", dessen Studium ich allen Volksbildnern eindringlicher empfehle als das der meisten theoretischen Auseinandersetzungen über Bildung. Jungk schaut beim Gewissenshelfer (counselor) der Western Electric dessen Aufzeichnungen durch; es fällt ihm auf, wie schnell die Gesprächspartner des counselors, also die Angestellten der Unternehmung, "zur Resignation bereit" scheinen. "Fast immer kam nach Ausbrüchen von Haß, Angst, Unsicherheit, Klagen über fehlende Wärme der Mitmenschen der Ausdruck des Verzichtes und das Eingeständnis einer tiefen, ohnmächtigen Hilflosigkeit." Der counselor antwortete ihm: Ist das nicht das Beste, was wir erreichen können? Die Leute kommen zu mir und lassen Dampf ab (...) Wenn ich dem Elend ganz auf den Grund gehen wollte, wo würde das dann hinführen? Ich frage Sie: Wohin?"

Soll unsere VHS diese Resignation unterstützen? Hat nicht die ganze pflegliche Regelung des Zeitvertreibs, bastelnd oder wissenschaftlich oder künstlerisch, auch recht die Gefahr dieser Resignation in sich? "Beschäftige dich und vergiß!" "Nur nicht über das Leben nachdenken!“ Daraus wird bald: "Sei stets hübsch brav und folgsam!" Bewußte Zeitvertreibslenkung - Jungk berichtet auch von "bewußter Gewissenslenkung" in der W. E. (Western Electric, Anm. d. Redak.)Lenkung, Lenkung, Lenkung! War es nicht das große sittliche Ziel von Karl Marx, die Entpersönlichung des arbeitenden Menschen wieder rückgängig zu machen? Ist diese Resignation nicht ebenso verhängnisvoll für das Ich wie für die Gesell- [S.
12] schaft, der es angehört? Organisation ist notwendig, wahrscheinlich nicht zuletzt heute - aber Organisation allein gebiert schließlich die grauslichen Zwillinge Despotie und Resignation.

Selbstverständlich taucht auch hier wieder die Frage des Lebensbildes und Weltbildes auf, im besonderen die des Menschenbildes und Menschenzieles. Nur erwähnt sei dazu, obgleich es gerade der VHS wegen gründlicher Ausführung bedürfte, daß jedes Bild und Ziel brüchig bleibt, wenn es nicht auch den Menschen, als persönlichen und als vergesellschafteten, in Beziehung setzt mit der Natur und den Ordnungen des Kosmos und des "Seins" überhaupt. --

Zusammengefaßt meine ich, daß die VHS heute mehr denn je ihre Aufgabe hätte: eine staats- (gesellschafts-) politische und eine existentiell persönliche und damit eine ethische (moralische) - aber alle drei (die dritte wurde hier nur implizite behandelt) eine unzertrennliche Einheit bildend.

In Salzburg erlaubte ich mir, in Anschluß an einen Gedanken von A. v. Martin, darauf hinzuweisen, daß die VHS so etwas wie das gesellschaftliche Gewissen vorstellen sollte. Was sie nun freilich nur sein könnte, wenn sie zugleich für den einzelnen Hörer der gute und wertvolle Kamerad ist, dem er sich ganz anzuvertrauen vermag.

Die praktische Darstellung im Einzelnen und das dabei nötige Methodische überschritte den Rahmen dieser mehr grundsätzlichen Andeutungen. Bloß zwei Bemerkungen möchte ich dazu machen: Ich glaube, jeder solcher VHS heute müßte ein eminent wirklicher und gegenwärtiger (faktischer) Zug zu eigen sein, von Politik und Wirtschaft angefangen über Technik und Wissenschaft. und über Ideen und Lebensführung bis zu Lektüre und Kunst - das wahrhaft Ewige bleibt dann schon zu Recht. Ich bin ferner überzeugt, sie kann nur gelingen, wenn die Persönlichkeit des Leiters ihren Geist ihr aufprägen darf, selbständig und schöpferisch, wenn also der Leiter nicht zum Untergebenen innerhalb der oder jener Bürokratie herabgesetzt ist. Man soll sich den Leiter ansehen, bevor man ihn bestellt, danach aber muß man ihn frei wirken lassen. [S.
13]

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. In eckiger Klammer steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.)

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