Die Aufgabe des Volksbildungswesens

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Author/Authoress:

Jodl, Friedrich

Title: Die Aufgabe des Volksbildungswesens
Year: 1920
Source:

Volksbildung. Monatsschrift für die Förderung des Volksbildungswesens in Deutschösterreich, 1. Jg., H. 11 (15. August 1920), S. 305-306.

[S. 305] „Die Aufgabe unseres Volksbildungswesens ist es, zwei getrennte Pole unseres Volkstums einander zu nähern; ein Pol: die mit geistigem Bildungsstoff übersättigten gelehrten Kreise …, der andere Pol: die nach Bildungsstoff gierigen, aufstrebenden manuellen und geschäftlichen Kreise unseres Volkstums. Diese beiden haben wir in Berührung zu bringen, zu wechselseitigem Ausgleich; dann werden wir eine Aufgabe vollbringen auf unserem Gebiete, wie sie auch das Ziel einer vernünftigen Politik auf sozialem Gebiete sein muß: in gemeinsamer Arbeit die Klassengegensätze zu überwinden. Hier liegt das, was ich meine persönliche Überzeugung und gewissermaßen mein Programm nennen will.“

„Heute, wo gerade das deutsche Volk so schweren Bedrängnissen ausgesetzt ist, gibt es keinen anderen Schutz als die gesteigerte Pflege der Intelligenz. Die beste Kraft ist nutzlos, wenn das geistige Auge fehlt. Und unser deutsches Volk auf dieser Stufe der Intelligenz zu erhalten, ist das Ziel, das, je mehr wir uns ihm nähern, um so sicherer uns seinen Lohn für die Zukunft bietet.“ „Volksbildung, wie wir sie verstehen, ist keine Parteisache, sondern die gemeinsame Angelegenheit aller, denen das Wohl des Volkes und die Entwicklung unserer Zustände am [S. 306] Herzen liegt.“ „Was unsere Bestrebungen wollen, ist nichts anders als eine Fortsetzung, eine notwendige Ergänzung dessen, was die Schule leistet, … wir dürfen aber diese Fortsetzung nicht außer acht lassen wegen der politischen und wirtschaftlichen Erziehung unseres Volkes. Ein Staat ist nur so viel wert und kann nur so viel erzeugen, als seine Bildung leisten kann. Nur jenes Volk wird seine Stellung behaupten können, das eine große Zahl wissenschaftlich geschulter Kämpfer in den Wettkampf eintreten lässt … Gewiß hat, was man gemeinhin Bildung nennt, auch seine Gefahren. Aber es ist mit der Bildung wie mit der Freiheit. Wie die Gefahren der Freiheit nur durch die Übung der Freiheitskräfte geheilt werden können, so müssen sich auch die Gefahren der Bildung selbst heilen. Die großen Kämpfe, die ein Volk zu bestehen hat, werden nicht bloß auf dem Schlachtfeld ausgefochten. Nicht minder schwer und ernst ist der Kampf eines Volkes um seine geistige Freiheit, um seine geistige Erneuerung, um seine geistige Lebendigkeit. Schlimm daran ist nicht nur das Volk, das ein eingedrungener Eroberer niederwirft, sondern auch das Volk, das mit dem Feinde im Innern zu kämpfen hat: mit der bequemen Lässigkeit und dem eingewurzelten Schlendrian, der nichts mehr scheut, als das Banner in die Hand zu nehmen und in die Zukunft hinauszutragen.“ „Ein Zeitalter des allgemeinen Wahlrechtes muß auch ein Zeitalter der allgemeinen Bildung sein oder es wäre ein Zeitalter des allgemeinen Unglückes … Und je mehr das Bewußtsein des sozialen Zusammenhanges sich entwickelt, je mehr die Bevölkerung fähig wird, über ihre Geschicke selbst zu bestimmen, umso energischer wird sie jeder Partei deutlich machen, dass sie sich Bildungsnot auf die Dauer so wenig gefallen lassen wird, wie Fleischnot, dass sie die Sorge für gute und billige Bücher ebenso hoch anschlägt, wie die Sorge um Wohnung und Nahrungsmittel … Die notwendige Kehrseite des demokratischen Staates ist die Demokratie des Geistes.“ „Daß Wissenschaft und Kunst nicht Alleinbesitz der oberen sozialen Schichten bleiben dürfen, wenn eine gedeihliche Entwicklung des gesamten Volkstums stattfinden soll, ist ein Gedanke, der sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bei allen Kulturvölkern siegreich durchzusetzen begonnen hat. Es ist die Verwirklichung eines Programms, das Schiller unserer Nation als kostbares Vermächtnis hinterlassen hat: ästhetische und geistige Kultur des Volkes als der Weg zur politischen Freiheit, als die Voraussetzung des vernünftigen Staates.“

Dem obigen Text wurde folgende Erläuterung beigegeben: [S. 305, Fußnote] Die Witwe des hervorragenden verstorbenen Wiener Philosophen, Frau Margarete Jodl, läßt binnen kurzem in der J. G. Cottaschen Buchhandlung ein Buch unter dem Titel „Friedrich Jodl“ erscheinen, in dem sie das Leben und Wirken ihres Mannes nach seinen Tagebüchern und Briefen darstellt. Wir entnehmen dem Aushängebogen die obigen Ausführungen.

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. In eckigen Klammern steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.)

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