Die Aufgabe der Naturwissenschaft in der Volksbildung

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Author/Authoress:

Lampa, Anton

Title: Die Aufgabe der Naturwissenschaft in der Volksbildung
Year: 1919
Source:

Volksbildung. Monatsschrift für die Förderung des Volksbildungswesens in Deutschösterreich, 1. Jg., 1919, H. 1, S. 25-29.

[S. 25] Im Augenblick, in dem darangegangen wird, die gesamte Volksbildungsarbeit zusammenzufassen, ist wohl auch geboten, ihre Aufgaben und Ziele neuerdings zu überlegen. Die politischen Umwälzungen haben die äußeren Bedingungen des Daseins umgeschaffen und damit einen Anpassungsvorgang notwendig gemacht, von dessen Durchführung Schicksal und Zukunft des Staates und des einzelnen in höchstem Maß abhängen. Daß nur die vollkommenste Entfaltung aller geistigen und materiellen Kräfte uns aus dem Unglück der Gegenwart herausführen kann, ist eine Erkenntnis, die nicht erst bewiesen zu werden braucht. Dies allein würde schon die Einbeziehung der Volksbildungsarbeit in die unmittelbaren staatlichen Aufgaben rechtfertigen. Doch der Selbsterhaltungstrieb ist wohl der nächstliegende, aber weder der einzige noch vornehmste Antrieb hiefür. Die Sicherung der materiellen Lebensnotwendigkeiten ist Bedingung, nicht Endziel. Nicht Dasein schlechthin mit noch so reichlicher Befriedigung der elementaren Triebe, sondern ein menschliches Dasein mit der Möglichkeit der Auswirkung aller Kräfte, die dieses begründen und auf immer höhere Stufen führen, ist das Ziel, welches uns durch die Entwicklung der Menschheit aufgezeigt wird.

Das Leben des Menschen ist bestimmt durch seine Eigenschaft als Naturwesen, das in den verwickelten Zusammenhang der „toten“ und lebendigen Natur hineingestellt ist, einerseits, durch seine Zugehörigkeit zur menschlichen Gesellschaft, aus welcher sich besondere spezifisch menschliche Beziehungen ergeben, anderseits. So verlangt denn die Erhöhung des animalischen Seins zum bewußten Leben und Wirken die Einstellung [S. 26] des Denkens nach diesen zwei Seiten hin. Damit allein ist schon die Bedeutung und Notwendigkeit der Naturwissenschaft als eines Grundelements der Bildung erwiesen.

Was nun von dem Ganzen der Naturwissenschaft als besonders bedeutungsvoll für die allgemeine Volksbildung herausgehoben werden soll, wird bestimmt sein durch das allgemeine Ziel, welches man dieser steckt. Darüber gehen die Ansichten stark auseinander, sie sind ja auch durch die historische Situation bedingt. Voltaire und die ganze Epoche der Aufklärungsphilosophie hat darüber anders gedacht als etwa Bernard Bolzano, der auch den Ausdruck „Aufklärung“ gebraucht, und auch in der gegenwärtigen Zeit ist keineswegs Einheitlichkeit in der Zielsetzung erreicht. Vom Standpunkt des nüchternsten Militarismus angefangen bis zu der rein idealistischen Forderung nach Vermittlung einer „Weltanschauung“ zahlreiche Abstufungen, deren genaue Darstellung unter der Unbestimmtheit und dem Fließenden der Begriffe leidet. Was dem Schreiber dieser Zeilen als das Ziel der Volksbildung erscheint, glaubt er oben klar genug gekennzeichnet zu haben: sie soll dem einzelnen das Rüstzeug und die Schulung geben, sein Leben bewußt zu leben und bewußt zu handeln. Dieses Ziel schließt die Forderung nach der Anregung und Ausbildung der Fähigkeit selbständigen Denkens in sich ein und eröffnet diesem, sofern sein Träger Glied des Kosmos und der menschlichen Gesellschaft ist, als letzte und höchste Aussicht die Erarbeitung einer Lebens- und Weltanschauung. Eine nähere Ausführung der Folgerungen, welche aus dieser Zielsetzung in theoretischer und praktischer Beziehung abgeleitet werden können, und die hieraus fließende Auseinandersetzung mit den verschiedenartigen Bestrebungen in der Volksbildungsarbeit der Gegenwart behalten wir einer besonderen Darstellung vor. Zunächst wollen wir darlegen, was die Naturwissenschaft unmittelbar und mittelbar für die Lösung der Aufgabe zu leisten hat und zu leisten vermag.

Ersichtlich umfaßt die Forderung nach Erkenntnis des Menschen als Naturwesen die Heranziehung aller naturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen. Das Dasein des Menschen [ sic] ist mit der ganzen natürlichen Umwelt verknüpft und von ihr teils unmittelbar abhängig, teils durch Zwischenglieder mit ihr verflochten. Um diesen Zusammenhang zu durchdringen, kann keines der Einzelgebiete entbehrt werden. Von der Astronomie angefangen bis zu den biologischen Wissenschaften hat jede dem nach Verständnis des Zusammenhanges zwischen Mensch und natürlicher Umwelt Ringenden etwas zu sagen. So ergibt sich denn das Verlangen nach Bekanntmachung mit den Ergebnissen dieser Wissenschaften, soweit sie für den erstrebten Zweck von Bedeutung sind. Nur auf diesem Wege ist zu erreichen, daß der Zusammenhang nicht nur dumpf gefühlt, sondern bewußt erlebt wird. Für den primitiven Menschen ist dieser Zusammenhang [S. 27] noch ein unmittelbar erlebtes, aber nicht reflektiertes Element seiner Geistigkeit. Die Erhebung in höhere Stufen der Zivilisation vernichtet die Unmittelbarkeit und bedingt hiedurch eine geistige Verarmung und einen Verlust an Glück, der auf die Dauer nicht ertragen wird. Denn der Zusammenhang bleibt und mögen sich noch so viele Zwischenglieder dazwischenschieben, auch der Mensch in der Zivilisation zieht seine Lebenssäfte aus der Natur, in der seine Wurzeln haften. Das Naturgefühl der feiner Organisierten ist der Ausdruck dieses Zusammenhanges, der Drang ins Freie, der Wandertrieb, der den Städter in den Wald und in die Berge treibt, quillt letzten Endes aus dem Trieb, den ursprünglichen Zusammenhang mit der Natur wieder zu erleben. Hier kann man aber auch beobachten, wieviel der Mensch durch die Zivilisation verlieren kann, die ihn des unmittelbaren Zusammenhanges mit der Natur beraubt hat. Welcher Unterschied zwischen den alten Germanen, welche den heiligen Wald in ehrfürchtigem Schweigen betraten, und den Scharen, welche schreiend durch die Bergwand klettern und das, was tiefstes, beglückendstes Erlebnis sein könnte, zu einem Sport herabdrücken. Das ist nur möglich, weil das natürliche Empfinden durch die Lebensbedingungen der Zivilisation zerstört und der natürliche Drang durch einsichtiges Verstehen noch nicht geadelt ist. Geben wir dem Menschen dieses, so geben wir ihm einen Reichtum zurück, den er in primitiven Zuständen gehabt hat, ohne daß wir Unmögliches möglich machen, ohne daß wir das Rad der Entwicklung zurückdrehen wollen. So aber ist die „Rückkehr zur Natur“ nicht nur denkbar, sondern im Zuge der Entwicklung liegende Aufgabe: das instinktive Empfinden des Primitiven durch erkennendes Verstehen des Kulturmenschen zu ersetzen und dadurch den Verlust wettzumachen, welchen die Zivilisation jenem verursacht hat.

Aber nicht nur der Mensch als solcher steht mitten drin in der Natur, sondern auch seine Arbeit. Es erwächst daher der Naturwissenschaft eine weitere Aufgabe in der Volksbildung nach den Worten Schillers:

So laßt uns jetzt mit Fleiß betrachten,
Was durch die schwache Kraft entspringt;
Den schlechten Mann muß man verachten,
Der nie bedacht, was er vollbringt.
Das ist’s ja, was den Menschen zieret,
Und dazu ward ihm der Verstand,
Daß er im innern Herzen spüret,
Was er erschafft mit seiner Hand.

Der Landmann, der Handwerker, der Industriearbeiter usf., sie alle haben einen Arbeitsprozeß durchzuführen, den erst die Naturwissenschaft durchleuchten kann, den sie zum Teil erst ermöglicht hat, indem sie die [S. 28] Elemente zu seinem absichtlichen Aufbau herbeigeschafft hat. Die ganze Technik ist ja nichts anderes als angewandte Naturwissenschaft! Hier kommen wir auch in Berührung mit einem der schwierigsten, für unsere soziale Entwicklung bedeutungsvollsten Probleme, der Beseitigung der psychischen Folgen der Mechanisierung der Arbeit. Gewiß, das Verstehen des Zusammenhanges, der das Stückchen von Arbeitsprozeß, das der Arbeiter immer wiederholt, mit dem Gesamten verbindet, das Verständnis der Bedeutung dieser seiner Arbeit für das Leben der Gesamtheit ist allein nicht imstande, die niederdrückende Wirkung eintöniger Wiederholung weniger Handgriffe und der Anspannung der Aufmerksamkeit ohne gleichzeitige geistige Selbsttätigkeit zu verhindern. Aber unter den verschiedenartigen Maßnahmen, die zur Unschädlichmachung dieses Übelstandes ergriffen werden können, wird die Vermittlung des allseitigen Verständnisses für die Arbeit und ihre Bedeutung nicht fehlen dürfen, denn sie allein vermag, die Unlust zu beseitigen, die sich sonst schon zu Beginn der Arbeit einstellt und für die verderblichen Folgen ihrer Einwirkung besonders günstigen Boden schafft.

Auf die Bedeutung der Naturwissenschaft, soweit sie den kranken Menschen, die Verhütung von Krankheiten, Untersuchung der Bedingungen für die Gesundheit des Nachwuchses usf. zum Gegenstand hat, braucht nur hingewiesen zu werden, um ins Bewußtsein zu bringen, daß diese ihre Zweige in der Volksbildungsarbeit nicht vernachlässigt werden dürfen. Alle gesetzlichen Bestimmungen, die im Interesse der Gesundheit des einzelnen und der Gesamtheit erlassen werden, können zur vollen Wirkung nur kommen, wenn sie auf willige, durch Verstehen derselben herbeigeführte Befolgung rechnen können. Auch hier wird das Beste gewonnen, wenn der äußere Zwang dem eigenen, durch Erkenntnis bestimmten Willen Platz macht.

Unser Ziel der Volksbildung schließt in sich eine Erhöhung des Menschen und der menschlichen Gesellschaft. Die vorstehenden kurzen Ausführungen werden genügt haben zu zeigen, daß der Naturwissenschaft ein reiches Feld der Arbeit offen steht, eine große Aufgabe von ihr zu erfüllen ist. Der Mensch, der an ihrer Hand durchschaut, was sie ihm deutlich machen kann, ist in den Besitz zahlreicher Bausteine gelangt, die zur Formung einer Lebens- und Weltanschauung nötig sind. Es bedarf nur einer Hinlenkung der Aufmerksamkeit auf dieses Ziel, um denjenigen, welche die innere Neigung dazu haben, die Bedeutung naturwissenschaftlicher Erkenntnis für dasselbe zum Bewußtsein zu bringen. Solchen wird schließlich auch die Bekanntschaft mit der Weltanschauung bedeutender Naturforscher zugänglich gemacht werden können, nicht im Wunsche, Proselyten zu machen, sondern zur Förderung ihres eigenen Denkens, zur Reifung ihrer kritischen Überlegung. Die wesentlichste [S. 29] Förderung der Bemühung um Gewinnung einer Lebens- und Weltanschauung wird jedoch aus der Methode der Naturwissenschaft herauszuholen sein. Und weil die geistige Schulung, die sich an ihr ergibt, nicht nur für dieses Ziel, sondern für alle Gebiete des Denkens und denkenden Handelns von größter Bedeutung ist, ist es notwendig, sie hier besonders hervorzuheben.

Die Methode der Naturwissenschaft lehrt vor allem zwei Dinge: vorerst die Notwendigkeit der sorgsamen Feststellung des Tatsächlichen und der unbedingten Achtung vor den Tatsachen und dann das Verständnis für die Rolle, welche die Theorie in der Naturwissenschaft nicht nur, sondern in der Wissenschaft überhaupt spielt. Die Theorie, als Zusammenfassung eines größeren Tatsachengebietes, stellt sich in gewissem Sinne als das Ziel der Wissenschaft dar; von dem Laien wird sie aber zumeist ausschließlich als solches empfunden. Daß „die Theorien aber sind wie dürre Blätter, welche abfallen, wenn sie den Organismus der Wissenschaft eine Zeitlang in Atem gehalten haben“ (Mach), diese Erkenntnis, die auch von manchem Naturforscher im Eifer der positiven Forschungsarbeit gelegentlich übersehen wird, ist unerläßlich, wenn der Versuch gemacht wird, eine Weltanschauung zu bilden. Die Naturwissenschaft gibt zwar nicht allein, aber die durchsichtigsten Beispiele für diesen Satz Machs und erweist sich damit als die brauchbarste Verdeutlichung dieses erkenntniskritischen Satzes. So kann sie zur Erkenntniskritik hinleiten und damit zur Erwägung der Frage, was denn eigentlich Weltanschauung ist und in welchem Sinne überhaupt eine solche möglich ist. Wer aber innerlich zu solcher Fragestellung vorgedrungen ist, wer die geistige Reife erlangt hat, ihre Bedeutung zu erfassen, dem ist der Zugang zum Verständnis des geistigen Ringens der Menschheit geöffnet.

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. In eckigen Klammern steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.)

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