Der Wiener Volksbildungs-Verein und der akademische Nachwuchs

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Author/Authoress:

Wettstein, Richard von

Title: Der Wiener Volksbildungs-Verein und der akademische Nachwuchs
Year: 1927
Source:

Leisching, Eduard (Hrsg.): 40 Jahre Wiener Volksbildungs-Verein 1887-1927 (= Denkschrift mit Beiträgen von Mitarbeitern sowie Hörern und Lesern von einst und jetzt), Wien 1927, S. 60-61.

Im Jahre 1889 erging an mich als jungen Privatdozenten an der Wiener Universität vom Volksbildungs-Verein die Aufforderung, im Rahmen der volkstümlichen Sonntagsvorlesungen einige Vorträge zu übernehmen. Ich folgte gerne dieser Einladung, nicht bloß, weil ich mich innerlich mit den Bestrebungen des Vereines verbunden fühlte, sondern auch deshalb, weil es für mich, da ich als Universitätsdozent vor drei bis vier Hörern las, von großem Reiz war, ein wissenschaftliches Thema vor einem großen Kreise volkstümlich zu behandeln. Gerne gedenke ich heute noch dieser Zeit, der Genugtuung, die ich empfand, wenn ich glaubte, den Erwartungen meiner Zuhörer entsprochen zu haben, der angeregten Diskussionen, die sich so oft an die Vorträge knüpften. Für mich war diese Vortragstätigkeit eine vorzügliche Schulung im freien Vortrage, und ich möchte dem Verein anläßlich seines Jubiläums hiefür vom Herzen danken. Wie mir, ist es zahlreichen anderen Dozenten der Wiener Hochschulen in den letzten Jahrzehnten ergangen und es ist darum wohl am Platze, der nicht beabsichtigten, aber sich ergebenden Förderung zu gedenken, welche so viele Angehörige dieser Hochschulen durch die Vortragstätigkeit im Volksbildungs-Verein erfuhren.

Es ist eine vielbesprochene und oft beklagte Tatsache, daß der Pflege der freien und formgerechten Rede in unseren Schulen zu wenig Beachtung geschenkt wird. Die Folge davon ist, daß gerade in akademisch gebildeten Kreisen die Fähigkeit der freien Rede verhältnismäßig selten ist. Auch in den Hochschulen ist – wenn wir von der Betätigung der Studenten in ihren Vereinen und auf politischem Gebiete absehen – nicht viel Gelegenheit vorhanden, sich im Reden, insbesondere im Vortragen und Behandeln eines wissenschaftlichen Themas zu üben. Die in manchen Fächern existierenden seminarischen Uebungen können dem Mangel nicht abhelfen. So tritt der junge Dozent vor seine Hörer, wissenschaftlich der Aufgabe gewachsen, aber nur zu oft als Vortragender unvorbereitet. Auch die Privatdozententätigkeit ist oft nicht geeignet, um das Versäumte nachzuholen; bei dem naturgemäß zumeist kleinen Hörerkreise fehlt die für den Redner so notwendige Resonanz der Hörerschaft, die Vortragsstunde nimmt leicht geradezu den Charakter der Privatunterredung an und es fehlt im allgemeinen die Nötigung, ein Thema in einer gegebenen Zeit abgerundet und dabei hinreichend erschöpfend zu behandeln, da ja das Versäumte in der nächsten Vortragsstunde [S. 60] nachgeholt werden kann. Darum ist es für einem jungen Dozenten von größtem Werte, Gelegenheit zu finden, vor einem größeren Hörerkreise zu sprechen; er steht da vor dem erziehlichen Zwange, das Thema gut zu gliedern und pädagogisch zu behandeln; er ist sozusagen der öffentlichen Kritik ausgesetzt und muß sich bemühen, dieser Kritik auch in formeller Hinsicht standzuhalten.

Wenn von den Wiener Hochschulen oft rühmend hervorgehoben wird, daß im allgemeinen gut, oft vorzüglich vorgetragen wird und daß diese Erscheinung insbesondere in den letzten Jahrzehnten stärker hervorgetreten ist, so ist dies gewiß, zum guten Teile wenigstens, auf die reiche Gelegenheit des Vortragens zurückzuführen, welche jungen Dozenten in den so gewaltig ausgebauten Wiener Volksbildungseinrichtungen geboten wurde. [S. 61]

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. In eckiger Klammer steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.)

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