Bildung. Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

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Author/Authoress:

Szanya, Anton

Title: Bildung. Zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Year: 1997
Source:

Szanya, Anton: Bildung wozu? Annäherung an einen europäischen Zentralbegriff, Wien 1997, S. 9-14.

Habe nun, ach, die Philosophei,  
Medizin und Juristerei
Und leider auch die Theologie  
Durchaus studiert, mit heißer Müh!  
Da steh ich nun, ich armer Tor,  
Und bin so klug als wie zuvor!  
Heiße Doktor und Professor gar  
Und ziehe schon an die zehen Jahr  
Herauf, herab und quer und krumm  
Meine Schüler an der Nas herum
Und seh, daß wir nichts wissen können,  
Das will mir schier das Herz verbrennen.  
Zwar bin ich gescheuter als alle die Laffen,  
Doktors, Professors, Schreiber und Pfaffen,  
Mich plagen keine Skrupel noch Zweifel,  
Fürcht mich weder vor Höll noch Teufel.  
Dafür ist mir auch all Freud entrissen,  
Bild mir nicht ein, was Rechts zu wissen,  
Bild mir nicht ein, ich könnt was lehren,  
Die Menschen zu bessern und zu bekehren;  
Auch hab ich weder Gut noch Geld,
Noch Ehr und Herrlichkeit der Welt.  
Es möchte kein Hund so länger leben!  
Darum hab ich mich der Magie ergeben ...1

Obwohl diese Klage des Doktor Faust schon mehr als zweihundert Jahre alt ist, erscheint sie von ungebrochener Gültigkeit. Sie ist der Ausdruck [S.
9] des narzißtischen Katzenjammers, der eintritt, wenn die Begeisterung über die Aussichten und Wirkungsmöglichkeiten, die der Erwerb von Bildung zu verschaffen verspricht, verraucht ist und Ernüchterung einkehrt.

Doch warum narzißtischer Katzenjammer? Mit Narzißmus ist im vorliegenden Zusammenhang eine Grundbefindlichkeit des Menschen gemeint, die ihn unablässig nach einer harmonischen Einheit mit der Welt unter der Herrschaft seines Größenselbst streben läßt. Seinen Ausdruck findet der Narzißmus etwa in den mythischen und religiösen Vorstellungen eines Paradieses, eines Nirwana, eines Goldenen Zeitalters oder von Elysischen Gefilden. Aber auch die von Philosophen und Wissenschaftern entworfenen rationalen Utopien und Ideologien, die harmonische, spannungsfreie Gesellschafts- und Staatsordnungen zu Inhalt und Ziel haben, sind im Grunde und in letzter Ursache Erzeugnisse des Narzißmus. Aus ihm erwachsen somit die wesentlichen Triebkräfte der kulturellen Entwicklung der Menschheit, die, um mit Mario Erdheim zu sprechen, “zur Entfaltung des kreativen Potentials des Menschen in seiner Auseinandersetzung mit Natur und Gesellschaft beitrugen. Schon sein Ordnungswille, der den ganzen Kosmos in einem System von Bildern und Begriffen zu erfassen versuchte, nährte sich aus jener narzißtischen Energie”2
wie auch der Wunsch zu erkennen, “was die Welt im Innersten zusammenhält”.3

Es ist das unausweichliche Schicksal des Narzißmus, immer wieder enttäuscht, ja gekränkt zu werden, weil seinem Wesen die Anerkennung der normativen Kraft des Faktischen zutiefst fremd ist. So auch im Zusammenhang mit Bildung, wie der eingangs zitierte Monolog Fausts beispielhaft zeigt:

Das Studium aller Wissenschaften hat ihm am Ende nicht das gebracht, was er sich erwartet hat. Wie es im Wesen der wissenschaftlichen Forschung liegt, wirft die Lösung eines Problems eine Anzahl neuer Probleme [S.
10] auf, sodaß er sich von der Erkenntnis der Welträtsel weiter entfernt fühlt als zuvor. Da Faust ein zu sich selbst ehrlicher Mann ist, trösten ihn seine Titel und Würden nicht über seine innere Leere hinweg, und er kommt sich als Betrüger an seinen Schülern vor, denen er nicht den Weg zur Erreichung des Zieles alles Studierens zeigen kann.

Faust weiß aber auch um die gesellschaftliche Funktion von Bildung. “Doktor”, “Professor” und andere Titel sind auch Garanten einer gehobenen gesellschaftlichen Stellung, die durch die Absolvierung der anerkannten Bildungsinstitutionen vermittelt wird, aber nicht in dem Maße, wie Faust es sich wünscht. Zwar verfügt er durchaus über Gut und Geld, aber in seinen Augen über zu wenig. Zwar besitzt er Ehre und Ansehen, aber nach seiner Ansicht in den Augen der falschen Leute, die er verachtet, weil er sich doch für erheblich klüger dünkt als “alle die Laffen”.

Faust mag sich da über die gesellschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten, die mit Bildung zu erreichen wären, übersteigerten Vorstellungen hingegeben haben. Schon den Begründern des modernen europäischen Bildungsbegriffs im 14. Jahrhundert schwebte vor, daß über Bildung ein gesellschaftlicher Aufstieg erreicht werden sollte, wobei die Wunschvorstellung bestand, daß der Gebildete durch seine Bildung den alten Machteliten Adel und Klerus ebenbürtig, ja überlegen werden sollte, weil Bildung das Ergebnis eigener Anstrengung und nicht des Zusammentreffens glücklicher Umstände ist. “Ich bewundere weder Deinen Reichtum noch den adeligen Glanz Deines Namens”, schrieb Coluccio Salutati vor rund sechshundert Jahren darum dem römischen Patrizier Niccolò Orsini, “wovon der eine ein Geschenk des gütigen Schicksals, der andere eine Gabe sowohl Gottes als auch der Natur ist, sondern ich bewundere Deine Tugend, in der Du alle übertriffst.”4 Tatsache war und ist es damals wie heute, daß Bildung lediglich innerhalb des bürgerlichen Mittelstandes als Zuteilungsmechanismus für verschiedene Positionen in der Gesellschaftspyramide [S.
11] Wirksamkeit besitzt,5 während Positionen, die wirkliche Macht und echten Reichtum, nicht bloß eine größere Menge ersparten Geldes, verschaffen, immer noch außerhalb des bürgerlichen Bildungsweges vergeben werden. Zynisch gewendet kann sogar gesagt werden, daß Bildung für die Erreichung derartiger Positionen sogar hinderlich ist.

In seiner Enttäuschung gefangen weiß Faust es auch gar nicht zu schätzen, daß er durch die Kraft der Bildung sich von Aberglauben und Borniertheit hat befreien können. Da er schon alles grau in grau sehen will, rechnet er die individuelle Befreiung von den kindlichen Ängsten vor Hölle und Teufel auf gegen den Verlust der Gewißheit allen Wissens und das offensichtliche Unvermögen von Bildung, auf die Menschen einen günstigen Einfluß zu nehmen.

Diese allgemeine Enttäuschung veranlaßt Faust letztendlich – auch hierin ist er überraschend aktuell – sich der Magie zuzuwenden in der Hoffnung, von ihr die Aufschlüsse zu erhalten, die ihm seine wissenschaftliche Bildung nicht geben hat können. Barock, Romantik, Postmoderne sind einige Beispiele für derartige Sinnkrisen des aufklärerischen Bildungsbegriffs, die in der Abwendung von Vernunft und Verstand und der Hinwendung zu Mystik, Spiritualität und Innerlichkeit als neue Hoffnungsträger auf der Suche nach dem Sinn der Welt und dem, was sie im Innersten zusammenhält, gipfelten.

Es ist die narzißtische Ungeduld, die es nicht erträgt, daß sich Erkenntnisse und Einsichten nicht sofort erschließen, und es ist die narzißtische Größenphantasie, die es schwer macht, sich einzugestehen, daß die eigene Verstandeskraft vor der einen oder anderen Lebensfrage versagt. Es gibt eben auch im Bereich der Bildung keine raschen, anstrengungslosen Erfolge. Es wird zwar oft leichthin gesagt, daß Bildung, also Lernen und der Einbau des Gelernten in die eigene Persönlichkeit, ein das ganze [S.
12] Leben begleitender Prozeß sei, aber in seiner Tragweite durchdacht wird dieses Wort anscheinend selten. Es ist zuzugeben, daß dies nicht immer ganz leicht ist, wird man doch, wenn man sich nicht vorsieht, allzu rasch von den Routinen der Alltäglichkeit aufgezehrt und in eine Geschäftigkeit gedrängt, die der Rückschau, der Abgleichung bisheriger Vorstellungen mit gemachten Erfahrungen und realen Umständen sowie auch der Neuorientierung entgegensteht.

Wenn Bildung ein das ganze Leben andauernder Prozeß ist, heißt das auch, daß man ein ganzes Leben dafür Zeit hat. Darum kann Bildung durchaus mit Bedacht und auch mit Bedächtigkeit betrieben werden, und das immer mit dem Bewußtsein, daß sie stets unabgeschlossen sein wird. Eine so verstandene Bildung macht aus einem Menschen das, was Friedrich Schiller einen “philosophischen Geist” genannt hat: “Neue Entdeckungen im Kreise seiner Tätigkeit (...) entzücken den philosophischen Geist. Vielleicht füllen sie eine Lücke, die das werdende Ganze seiner Begriffe noch verunstaltet hatte, oder setzen den letzten noch fehlenden Stein an sein Ideengebäude, der es vollendet. Sollten sie es aber auch zertrümmern, sollte eine neue Gedankenreihe, eine neue Naturerscheinung, ein neu entdecktes Gesetz in der Körperwelt den ganzen Bau seiner Wissenschaft umstürzen: so hat er die Wahrheit immer mehr geliebt als sein System, und gerne wird er die mangelhafte Form mit einer neuen und schöneren vertauschen.”6

Ein sogearteter Bildungsbegriff befreit die Menschen von ihren Neigungen, sich an Traditionen und Autoritäten zu binden, die bei Ungebildeten als Ersatz für eine eigenständige Persönlichkeit gedient haben und immer noch dienen. Ein sogearteter Bildungsbegriff fördert vielmehr die Toleranz, das heißt die Erkenntnis, daß alle gesellschaftlichen “Wertvorstellungen abhängig seien von ihrer Zeit und ihrem Ort; sie sind nicht wahr, sondern spiegeln nur die Vorurteile und Interessen derjenigen [S.
13] wider, die sie befördern”, wie es Francis Fukuyama ausdrückt7 und damit bestätigt, was die ansonsten von ihm weniger geschätzten Herren Friedrich Engels und Karl Marx mit den berühmt gewordenen Worten festgestellt hatten: “Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.”8 Wenn es aber in folgerichtiger Fortsetzung dieses Gedankenganges keine einzig richtige Sicht der Welt gibt, gibt es auch keine allgemein verbindlichen Normen und Doktrinen, die sich über den Wert eines Menschenlebens erheben könnten.

Es waren also Illusionen, welche die Menschen zu Heldentaten und Märtyrertum getrieben haben und die Geschichte als Abfolge sinnlosen Schlachtens erscheinen lassen. Darum kommt der Bildung neben ihrer Wichtigkeit und Unerläßlichkeit für die Reifung der Persönlichkeit in demokratiepolitischer Hinsicht eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Demokratische Gesellschaften, die nur auf den Grundlagen von Toleranz und Vernunft aufbauen können, sind nämlich von derartigen illusionären Wertsystemen tendenziell immer bedroht. Die Verankerung dieser Grundlagen in den Menschen als eine selbstverständliche und unbestrittene Haltung kann nur – und der Erweis des Gegenteils ist bis jetzt noch nicht erbracht worden – durch Bildung zustande kommen. Trotz aller Enttäuschungen, die der eine oder die andere mitunter über sie empfinden mag, ist Bildung, um ein Wort Sigmund Freuds abzuwandeln, “keine Illusion. Eine Illusion aber wäre es zu glauben, daß wir anderswoher bekommen könnten, was sie uns nicht geben kann.”9 [S.
14]

Anmerkungen:

1 Johann Wolfgang von Goethe, Faust; Ein Fragment (1790, sog. Urfaust). Szene „Nacht; in Fausts Studierstube”.

2 Mario Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit. Eine Einführung in den ethno-psychoanalytischen Prozeß, Frankfurt am Main 1992 (1984), S. 411.

3 Johann Wolfgang von Goethe, Faust, a.a.O.

4 Coluccio Salutati, Epistolario, ed. Francesco Novati. Roma 4 Bde 1891-1911. Bd I., S. 57. A.d.Latein. v. A.S.

5 Siehe dazu: Peter L. Berger/Brigitte Berger, Wir und die Gesellschaft. Eine Einführung in die Soziologie – entwickelt an der Alltagserfahrung (Sociology; A Biographical Approach, 1972). Reinbek bei Hamburg 1977, S. 136 f. und 177 f.

6 Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede (1789). In: Friedrich Schiller: Werke in vier Bänden. Bd IV. Salzburg o.J. (1983), S. 11-12. Hervorhebung im Original.

7 Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? (The End of History). München 1992, S. 406.

8 Karl Marx/Friedrich Engels: Feuerbach, 1. Teil der „Deutschen Ideologie“ (1845/46). In: Iring Fetscher (Hrsg.), Karl Marx – Friedrich Engels; Studienausgabe in vier Bänden, Bd 1: Philosophie. Frankfurt am Main 1982, S. 110. Hervorhebungen im Original.

9 Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion. In: Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse. Die Zukunft einer Illusion. Frankfurt am Main 1984 (1927), S. 135.

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. In eckiger Klammer steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.)

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