Bildung oder: Geiz ist nicht geil

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Author/Authoress:

Schroeder, Renée

Title: Bildung oder: Geiz ist nicht geil
Year: 2011
Source:

Renée Schroeder (mit Ursel Nendzig), Die Henne und das Ei – Auf der Suche nach dem Ursprung des Lebens. St.Pölten-Salzburg: Residenz-Verlag 2011, S. 159-170.

[S. 159] Wir alle haben ein Ziel im Leben: Glück. Glücklich ist, wer die Eigenschaften, die er in sich trägt, so kohärent verarbeiten kann, dass er Lösungen für seine Probleme findet. Diese Lösungen sind natürlich – nachdem die Menschen so verschieden sind – möglichst individuell. Verschiedene Schicksale, unterschiedliche Lebenswege, individuelle Geschichten. Jeder Mensch sollte in der Lage sein, sein Leben selbst zu gestalten. Es ergibt sich daraus eine Vielfalt an Modellen und Lösungen, so vielfältig wie wir Menschen sind. Eine reiche Gesellschaft – und darauf komme ich immer wieder zurück – ist eine Gesellschaft, die eine hohe Diversität aufweist.

Was das mit Bildung zu tun hat?

Sehr viel. Jede Regierung, jeder Machtapparat ist daran interessiert, dass Menschen unzulänglich gebildet sind, denn dann sind sie manipulierbar genug, um sie in eine Richtung – in die von den Machthabern gewünschte Richtung – zu treiben. Wenn alle gleichgeschaltet sind, sind sie leichter zu handhaben. Da ist kein Raum für Diversität, für ganz individuelle Lösungs- und Lebenswege, die durch Bildung von jedem Einzelnen erreicht werden können. Deswegen ist Bildung so wichtig.

[S. 160] Bildung ist aber nicht gleich lnformation.

In der Gesellschaft, in der wir leben, ist es sehr leicht, an Informationen zu gelangen. Und weil es so leicht ist, müssen wir mit Bildung ganz anders umgehen lernen. Für mich ist das Ziel der Bildung klar definiert: in der Lage zu sein, kritisch zu denken. Die Grundlage dafür, der Weg zur Bildung, führt über die Schule. Kritisch denken lernen beginnt in der Volksschule. Noch besser wäre es, wenn schon im Kindergarten damit begonnen würde. In den ersten Schuljahren sollte man natürlich Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Vor allem Lesen und Schreiben: Die Sprache ist der Weg zur Bildung. Sie verhindert, dass soziale Spannungen entstehen. Schon bei den ganz Kleinen geht es um Sprache. Wer der Sprache nicht mächtig ist, braucht ein anderes Ventil und drückt sich dann oft mittels körperlicher Gewalt aus. Dem gilt es entgegenzuwirken. Und das ist, denke ich, eigentlich gar nicht schwer. Denn die Lust an der Sprache, am Schreiben und am Lesen, die Lust an der eigenen Kreativität, steckt in den Kindern drin. Man muss ihnen nur Raum geben, sich zu entfalten, und sie nicht zu sehr in eine Richtung drängen. Sehr früh sollte man den Kindern bereits klar machen, dass sie vieles erreichen können, wenn sie ihre Wünsche und Frustrationen klar ausdrücken können.

Genauso wichtig wie die Sprache ist das Philosophieren – das strukturierte Denken. Nicht über die großen Philosophen. Vielmehr sollten die Kinder verstehen, wie die Dinge sich verhalten, wie die Welt um sie herum strukturiert ist. Sie sollten lernen, nachzudenken. Ich bin in Brasilien aufgewachsen. Meine ersten Schuljahre habe ich in einem Schulversuch verbracht. Der Zugang, den es dort gab, war sehr spannend: Uns wurde nicht gesagt: „Die Erde ist rund. So ist es. Und aus.“ Sondern wir mussten herausfinden, wie man entdeckt hat, dass die Erde rund ist. Das mussten wir [S. 161] dann den anderen Kindern erzählen. Dabei lernt man durch vielseitige Prozesse: Man formuliert Fragen, sucht nach Antworten, lernt zu verstehen, was Beobachtungen bedeuten. Und was ganz besonders wichtig ist: Man lernt, sich klar auszudrücken, um es anderen erklären zu können. Denn um anderen etwas erklären zu können, muss man es selbst begriffen haben. Dieser Prozess braucht zwar viel mehr Zeit, ist aber auch viel befriedigender als einfaches Faktenlernen. Das ist ein ganz anderer Zugang zum Lernen, der mich sehr geprägt hat. Nur in Portugiesisch und Mathematik hatten wir Frontalunterricht. In allen anderen Fächern, Geschichte, Geografie, Naturwissenschaft, haben wir uns auf solche Entdeckungsreisen begeben.

Es gab noch ein Fach, das in unserem Schulsystem komplett fehlt: Rhetorik. Man lernt nicht nur, zu sprechen. Sondern auch, selbst zu denken. Aktiv zu sein. Der Unterricht lief so ab: Man bekam ein Wort von den Mitschülern zugerufen und musste alles darüber erzählen, was man wusste. Es entstanden Gedankenspiele, die spaßig und gleichzeitig sehr spannend für uns waren. Wenn man nichts darüber wusste, konnte man einfach nur erzählen, was man sich darunter vorstellte. Es war etwas ganz anderes, den anderen Schülern spontan etwas zu erzählen und auf Fragen zu antworten, die man sich vorher noch nie überlegt hatte. Es war egal, wenn man eine Frage nicht beantworten konnte. Es ging allein um den Lernprozess. Das war ein großer Unterschied. Es ging darum, die Scheu vor dem freien Sprechen abzulegen, formulieren zu lernen, ohne vorher etwas auswendig gelernt zu haben. Man bekam keine Noten. Sondern Fähigkeiten.

So zu lernen ist lustvoll. Diese Lust steckt in jedem Kind. Wissen wird zum Spiel – wie bei der „Millionenshow“. Es weckt auch die Lust am Wettbewerb. Sobald ein [S. 162] Kind zu denken beginnt und sprechen kann, fragt es und fragt und fragt. Diese Warum-Phase ist schön, weil sie Denkmuster frei legt. Kinder denken logisch. Das geht aber den meisten Menschen leider auf die Nerven. Frag nicht so viel! Warum? Weil die Art, wie wir lernen, auf das Reproduzieren beschränkt ist. Wir Erwachsene haben meistens verlernt oder vergessen, wie unser Faktenwissen entstanden ist. Es sollte nicht sein, dass die Kinder nur wiedergeben, was sie erzählt bekommen. Das ist bequem. Dann bekommen sie gute Noten. Das heißt: unsere Bildung ist eher die Ruhestellung des Denkens. Die Kinder können mit dem Erlernten nicht umgehen. Sie lernen nicht, ihr Wissen aktiv zu verwenden. Ein Lückentext! Finde ich das Letzte. Multiple Choice! Schrecklich. Unkreativ. Das reine Abrufen von Information.

Man muss erst Lernen, wie man mit Wissen umgeht.

Wie komme ich zu der Information, die ich brauche, was bedeutet sie, was darf ich glauben, was darf ich nicht glauben? Wie bekomme ich heraus, ob die Quelle verlässlich ist oder nicht, ob es eine gute Information ist oder nicht? Das braucht man fürs ganze Leben. Ob man jetzt ein Auto kaufen möchte oder ein gesundheitliches Problem hat. Es geht darum, nach individuellen Lösungen zu suchen. Das wären die Fähigkeiten, welche man Kindern und Erwachsenen beibringen müsste, um mit der heutigen Informationsflut und vor allem mit der Desinformationsflut umgehen zu können.

Die Volksschule, so wie wir sie haben, ist im Grunde nicht schlecht. Aber es hängt so sehr von der einen Lehrerin ab, welche die Kinder unterrichtet. Ich würde zuallererst mehr Männer in den Volksschulen sehen wollen. Damit es im Sinne der Gender-Frage ausgeglichener zugeht. Ich würde mir wünschen, dass Frauen nicht nur deshalb Lehrerin werden, [S. 163] weil es so schön vereinbar ist mit der eigenen Familie. Sondern dass sie das wirklich als Berufung sehen. Dass sie diesen Beruf bewusst wählen und ihn mit Leidenschaft ausüben. Es gibt sie ja auch, die wirklich tollen Lehrer und Lehrerinnen, und man sollte diese auch immer wieder wissen lassen, wie wichtig das ist, was sie machen. Sie bereiten unsere Kinder für die Zukunft vor. Ich kann mir keine bedeutungsvollere Aufgabe vorstellen. Der Stellenwert unserer Lehrer muss unbedingt verbessert werden. Bildung und Schule müssen als die wichtigste Investition in die Zukunft erkannt werden. Wenn man einen Studenten fragt, warum er sich für ein Fach begeistern kann, ist die Antwort doch oft, weil er einen Lehrer hatte, der in ihm das Interesse geweckt hat.

Ich bin pädagogisch nicht bewandert. Aber ich merke – sogar in der Arbeit mit meinen erwachsenen Studenten an den Universitäten –, dass man dann erfolgreich ist, wenn man die Schüler motiviert, dass sie ihre Stärken ausleben. Wenn man auf das hinweist, was sie gut können, und nicht nur auf ihre Fehler, wie es bei uns leider meistens ist. Den Fehlern wird viel zu viel Aufmerksamkeit gewidmet, viel mehr als den Stärken. Das erzeugt einen irrsinnigen Druck. Völlig umsonst, denn wenn es Dinge gibt, die Kinder absolut nicht wollen, dann machen sie es eben nicht. Man muss ja nicht alles gemacht haben. Qualität vor Quantität. Es ist besser, die eigenen Fähigkeiten auszubauen. Es geht nicht darum, alle möglichen Halbfähigkeiten anzusammeln. Wenn Kinder Erfolgserlebnisse haben, fällt es ihnen meistens auch leichter, unangenehme Aufgaben zu übernehmen.

Es geht darum, die Stärken zu stärken.

Das Ziel der Bildung ist für mich also klar definiert: Jeder sollte seine individuellen Fähigkeiten optimal einzusetzen lernen und dabei ein gewisses Maß an Sicherheit gewinnen. [S. 164] Selbstsicherheit. Sich selbst gut einschätzen können, was man kann und womit man Schwierigkeiten hat. Und mit seinen Schwächen umgehen können. Jeder sollte die individuelle Lösung finden können, die er braucht. Wir entfernen uns aber von diesem Ziel, statt dass wir ihm näher kommen. Wenn ich diesen Werbeslogan höre: „Geiz ist Geil“, dann macht mich das wütend. Er ist stellvertretend für die Fülle an Manipulation, die uns als Konsumenten zugemutet wird. Der Konsument wird in ein Verhalten gedrängt.

Der Ungebildete ist ein Opfer.

In jeder Hinsicht: Denn auch Ernährung und Gesundheit sind an die Bildung gekoppelt. Allein schon deswegen ist Bildung so wichtig. Vor Kurzem habe ich eine Sendung gehört über den Zusammenhang zwischen Gesundheit und Bildung. Es hieß darin, dass Amerika ein Land sei, in dem es keine traditionell entwickelte Ernährungsform gibt. Dass die Amerikaner auf alles hörten, was über die Medien verbreitet wird. Wenn es gerade wieder heißt: „Fett ist gut und Kohlenhydrate sind böse“, schlägt sich das sofort auf die Umsätze der Bäckereien und Pasta-Läden nieder. Die Menschen geraten aus dem Gleichgewicht und leben immer ungesünder. Weil sie verlernt haben, wie eine gute Ernährung sein sollte. Sie hören nicht auf ihren Körper, sondern auf das, was gerade „in“ ist. Auf das, was gerade „geil“ ist. Das kann es doch nicht sein.

Was ist gesund? Was ist ein Schönheitsideal? Muss man ein Schönheitsideal anstreben? Als ich gehört habe, dass sich in China manche Frauen ihre Beine operativ verlängern lassen, bin ich fast ausgeflippt! Die lassen sich die Knochen brechen, damit die Beine auseinandergezogen werden können. Wahnsinn. Warum macht man das? Warum will man einem bestimmten Ideal entsprechen, warum eifert man [S. 165] dem in einem solchen Ausmaß nach? Fühlt man sich danach wirklich besser? Es wird nicht hinterfragt. Das ist ein starkes Zeichen für mangelnde individuelle Bildung. Auch bei uns gibt es zu viele Menschen, die viel zu stark von der Werbung beeinflussbar sind.

Es braucht eine bestimmte Menge an Bildung, um zu hinterfragen und nicht so leicht beeinflussbar zu sein. Sei es politisch, sei es von Religionen oder von der Werbung. Von all diesen manipulierenden Kräften, welche die Menschen ausbeuten wollen. Nur, wer eine starke Persönlichkeit hat – durch Bildung – wird nicht so leicht zum Opfer aller möglichen Mächte.

Genauso sind Ernährungsprobleme, Essstörungen bei Jugendlichen eine Folge mangelnder Bildung. Sie ist notwendig, um das richtige Maß, die richtige individuelle Lösung zu finden. Nicht zu hungern oder zu fressen oder sich operieren zu lassen. Ich finde es auch einen Wahnsinn, was mit alten Menschen gemacht wird. Was man ihnen alles aufschwatzt und wie viele Medikamente sie schlucken müssen, meistens vollkommen unkontrolliert. Was in ihnen für Hoffnungen geweckt werden – nach Operationen, Medikamenten, Hilfsmitteln. Weil sie Goldesel sind, an denen man verdienen kann, werden sie als Geldquelle regelrecht geschröpft.

Hier ist überall unsere Bildung gefragt: damit wir nicht so leicht Opfer werden. Opfer der Werbung, von Psychotricks oder Modeerscheinungen. Wenn die Menschen beginnen, rationell zu denken, werden all diese Slogans nicht mehr wirksam sein. Sicher sind Emotionen wichtig. Aber die dürfen nicht das ganze Verhalten bestimmen.

Geiz ist nämlich überhaupt nicht geil.

Das ist jedem klar, der von Anfang an die Chance bekommt, eigenständig zu denken und sich seine eigene Meinung zu bilden. Geiz verschlechtert das soziale Netz der [S. 166] Menschen. Das war mir bei der Erziehung meiner Kinder extrem wichtig. Ich hatte kein Konzept dafür. Ich habe es vermieden, Ratgeber zu lesen. Wenn ich welche geschenkt bekommen habe, habe ich sie mir natürlich angesehen, obwohl sie mir zuwider waren. Ich habe den Kindern zugeschaut, habe beobachtet, wie sie sich entwickeln. Wenn es notwendig war, ich gemerkt habe, der braucht einen Rat oder geht in die offensichtlich falsche Richtung, habe ich ein bisschen nachgeholfen. Oder Dinge verhindert.

Grundlage dafür ist meine Überzeugung: dass in den Kindern das Richtige bereits drinsteckt. Ich glaube, wenn man den Kindern vermittelt, dass sie okay sind, so wie sie sind, dass man sie mag, ganz unabhängig von ihrer Leistung, dann entfaltet sich das Kind schon richtig. Und wie wichtig es ist, dass man die Freunde der Kinder auch so behandelt. Dass sie eine sehr wichtige Komponente sind für ein gelungenes Leben. Man darf den Kindern eben nicht vermitteln: Ich mag dich nur, wenn du das tust, was ich will. Wenn du so bist, wie ich mir vorstelle, dass du sein solltest. Das ist, woran die meisten Kinder leiden: dass sie von den Eltern nicht angenommen werden. Weil sie nicht so sind, wie sie in deren Augen sein sollten.

Bei mir gab es auch keine Bestrafung. Wenn sie schlimm waren und ich wollte irgendetwas dagegen tun, habe ich immer gesagt: „Ich zähle jetzt bis 3, aber dann!“ Und sie haben mich nie gefragt, was „dann“ ist. Mir wäre auch nicht eingefallen, was „dann“ gewesen wäre. Zum Glück haben sie es nie darauf ankommen lassen. Dieses Verhalten gibt es oft. Ich hörte im Religionsunterricht oft den Satz: „dann ist deine Seele verloren“. Klingt wirklich bedrohlich. Aber was bedeutet das eigentlich? Was passiert wirklich, wenn meine Seele verloren ist? Oder ich in den Himmel komme? Mittels dieses Mechanismus funktioniert meistens [S. 167] die Manipulation, weil die Menschen nicht weiterfragen. Was ist „dann“?

Noch so einen Trick hatte ich: Die meisten Konflikte drehten sich darum, dass die Kinder Unordnung gemacht hatten. Meine Lösung dafür war, dass wir öfters eine „Clean-Up-Party“ veranstaltet haben. Ich habe Pizza bestellt, wir haben die Musik laut aufgedreht und das Kinderzimmer mit Schwung aufgeräumt. Das war eigentlich Spaß. Das heißt: Viele Dinge, die man als unangenehm erachtet, kann man so gestalten, dass es angenehm ist.

Natürlich muss nicht alles Spaß machen. Es ist auch wichtig, dass man lernt, sich zu manchen Dingen zu überwinden. Zu merken, dass es eine Qual ist, sie zu tun. Und dann, wenn es gelungen ist, diese große Befriedigung zu spüren. Dieses Erlebnis muss man den Kindern auch zumuten. Man muss schwierige Situationen zulassen, durch die das Kind sich kämpfen muss. Es lernt, dass es, auch wenn es Probleme hat, deswegen nicht weniger akzeptiert wird. Nur Defizite, die wirklich schlimm sind, sollte man so hinbiegen, dass das Kind einigermaßen zurechtkommt. „Stärken stärken“ ist ein gutes Prinzip, denn meistens, wenn ein Kind merkt, wie gut es in einer Sache ist, zieht es die anderen Dinge mit. Wer Erfolgserlebnisse hat, hat mehr Energie. Dann ist das Selbstbewusstsein höher. Wie eine Spirale, die sich nach oben schraubt.

Ich wüsste gar nicht, wie man Kinder bestrafen könnte. Wozu auch? Strafaufsatz? Das ist doch ein Wahnsinn! Da lernt das Kind: zu schreiben ist eine Strafe. Das, was es besonders gerne tut, verbieten? Fernsehverbot? Das bedeutet doch nur, dass Fernsehen das Tollste ist, was es gibt. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Fernsehen steht der Bildung, wie ich sie verstehe, im Weg. Weil es verhindert, dass sich Gedankengebäude im Kopf selbst errichten. Vielmehr wird das [S. 168] Denken von außen vorgegeben. Ich lehne Fernsehen ab. Lesen ist für mich viel spannender, weil ich mir in meinem Kopf eigene Bilder aufbauen kann. Es wird weniger vorgegeben. Natürlich sehe ich manchmal gerne einen guten Film. Aber ich mag es überhaupt nicht, mit Themen unterhalten zu werden, die mich nicht interessieren. Ich werde nur sehr ungern abgelenkt von meinen eigenen Gedanken.

Bildung ist wichtig für unsere Lebensqualität. Bildung ist aber genauso wichtig für die Qualität der ganzen Gesellschaft. Denn je schlechter unsere Bildung ist, desto mehr sind wir in Gefahr, dass unser demokratisches System nicht mehr funktioniert. Denn für eine Demokratie brauchen wir ein mündiges, gebildetes Publikum. In der chinesischen Gesellschaft steht das Individuum unter dem Wohl der Gesellschaft, das heißt: Es ist klar, dass man sich dem Wohl der Gesellschaft opfert. Das Individuum ist unmündig. In unserer Verfassung hingegen steht, dass das Individuum darüber steht. Es kann also niemand für das Wohl der Gesellschaft geopfert werden.

Und schon gar nicht über seine Ängste manipuliert werden.

Bildung ist das beste Mittel gegen Angst. Allein dafür lohnt es sich schon, sich zu bilden. Denn Angst haben wir vor Dingen, die diffus sind, die wir nicht genau kennen, die tabuisiert sind. Vor Dingen, die man sich nicht traut zu fragen. Davor haben wir Angst. Aber wenn wir lernen, klare Gedanken zu fassen und diesen Dingen nachzugehen, um sie zu verstehen, verschwindet die Angst. Das ist extrem wichtig, denn sie hemmt uns, sie beschwert uns. Wirken wir gegen die Angst – indem wir unsere Bildung pflegen und hochhalten –, können wir Menschen auch nicht mehr über unsere Angst regiert und manipuliert werden.

Wenn es um die Manipulation über unsere Ängste geht, sind die Werbemethoden der Versicherungsgesellschaften [S. 169] und der Politik ein gutes Beispiel: Angst schüren und dann Lösungen vorschlagen. Angst vor Einbrechern. Angst vor der Zukunft. Angst vor Genen! Angst vor dem Fremden! Angst vor fremden Genen!! Merken Sie jetzt, wie die Politik damit arbeitet? Zuerst suggeriert man Ihnen eine Gefahr, vor der Sie Angst haben sollten. Sie hinterfragen es nicht wirklich – Sie haben keine Angst –, aber so ein ungutes Gefühl bleibt zurück. Und dann fragen Sie sich – womöglich unter Selbstvorwürfen –, ob Sie wirklich alles tun, um die Gefahr abzuwenden. Wir müssen überlegen: Ist es wirklich eine Gefahr? Und wie wahrscheinlich ist es, dass sie eintritt? Schließe ich diese Versicherung ab oder nicht? Möchte ich wirklich viel Geld zahlen und mir dann von der Versicherungsgesellschaft diktieren lassen, wie ich mich tagtäglich zu verhalten habe? Mir sagen lassen, wie viele Schlösser und Lichtquellen ich brauche? Ich will mir das von niemandem vorschreiben lassen. Denn dabei entwickelt man eine gemeine, hemmende Paranoia. Die Menschen werden dadurch manipulierbar. Das Wichtigste ist, sich zu fragen, was passieren kann. Was ist die Konsequenz, wenn dieses gefährliche Ereignis wirklich eintritt? Was ist das Schlimmste daran, bestohlen zu werden? Man hat ein paar Gegenstände weniger. Na und? Die Analyse der Folgen eines Ereignisses, vor dem wir Angst haben, ist extrem hilfreich. Es macht das Leben leichter. Meistens merken wir dann, dass die Folgen nicht wirklich Angst einflößen müssen. Denn Angst vermindert unsere Lebensqualität entscheidend.

Piotr Slonimski, mein früherer Chef, hat einmal zu mir gesagt, er teile die Menschen in zwei Gruppen ein: die Intelligenten, die sich leicht tun, Entscheidungen zu treffen; und die, denen Entscheidungen schwer fallen. Mit denen will er nicht arbeiten. Weil er sagt: Wenn man Entscheidungen zu treffen hat, soll man nur nachdenken, ob es wichtig ist oder [S. 170] nicht. Man kommt darauf: Die meisten Dinge sind unwichtig. Da kann man sich schnell für irgendetwas entscheiden, weil es ganz egal ist. Aber wenn man dann eine wichtige Entscheidung zu treffen hat, soll man es sich gut überlegen. Was bei der Entscheidungsfindung hilft, ist, sich zu überlegen, was die Konsequenz ist. Entscheidungsmöglichkeit A – was wäre die Folge? B – was wäre die Folge? Und: Wenn in den Folgen etwas Negatives entsteht, wie kann ich dieses Negative wieder aufheben oder vermindern?

Diese Methode ist sehr sehr hilfreich. Bildung hilft dabei sehr, denn man versteht Dinge zu hinterfragen und rationell zu analysieren, und ist nicht so leicht emotionell beeinflussbar.

Wissen, Informationen, Fakten sind die Grundlagen für Bildung. Bildung ist die Verarbeitung und der aktive Umgang damit. Deswegen ist es wichtig, dass die Quellen der Information zugänglich bleiben und nicht einseitig manipulierbar sind. Daher darf das Internet nicht abschaltbar sein – wie in vielen autoritären Staaten, wo manche Webseiten nicht erreichbar sind. Nicht existieren für das Volk. Vor allem darf das Internet nicht von politischer Seite abschaltbar sein. Es muss mehrere Instanzen geben, die das Wissen, die Fakten, unabhängig, global kontrollieren. Ohne dass diese nach Macht streben. Es müssen Institutionen sein, die gewährleisten, dass die Informationen, die über das Internet abrufbar sind, für jeden und zu jeder Zeit zugänglich sind. Denn sie bilden heute die Basis für unsere Bildung.

Bildung ist wichtig für die globale Demokratie, für die globale Entspannung.

Sie ist die Grundlage dafür, dass wir unser Ziel erreichen: Glück.

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. Ausrücke in runden Klammern stehen auch im Original in runden Klammern. In eckigen Klammern steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.)

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Buchcover "Die Henne und das Ei" von Reneé Schröder