25 Jahre Volksheim. Eine Volkshochschul-Chronik (Auszug)

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Author/Authoress:

Reich, Emil

Title: 25 Jahre Volksheim. Eine Volkshochschul-Chronik (Auszug)
Year: 1926
Source:

Emil Reich, 25 Jahre Volksheim. Eine Wiener Volkshochschul-Chronik, Wien 1926, S. 3-27.

Subject descriptor: VHS Ottakring

Als ein österreichischer Bürgerminister (Dr. Karl Giskra, 1820-1879, Innenminister im sogenannten Bürgerministerium; Anm. d. Redak.) den Ausspruch wagte: „Die soziale Frage hört bei Bodenbach auf“, also an der Grenze, war bereits 1867 der Arbeiterbildungsverein in Wien gegründet, der als ältester pietätvoll erhalten noch heute im Bezirk Mariahilf wirkt, während die vielen nach seinem Vorbild geschaffenen Arbeitervereine andere zeitgemäße Umformungen ihres Namens wie ihrer Bestrebungen durchmachten. Doch eben dieses Bürgerministerium erwirkte 1869 das Reichsvolksschulgesetz, dessen acht Jahre Schulpflicht damals ebenso neu und bedeutungsvoll waren wie jetzt der Achtstundentag. Dieses Gesetz wurde die Grundlage aller Volksbildung und ihrer Fortführung in freier Betätigung. Als nach anderthalb Jahrzehnten das bescheidene Ausmaß von Schulpflicht und Schulbildung wieder verringert werden sollte, weckte dieser Versuch das Gefühl, es sei Pflicht, auch für die Bildung der Schulentwachsenen zu sorgen. Im Herbst 1886 begann Dr. Eduard Leisching die Vorarbeiten zur Schaffung eines Wiener Zweigvereines des im April 1885 gegründeten niederösterreichischen Volksbildungsvereines (einer der Studenten, die als Agitatoren unter seiner Leitung die Einladungen verbreiteten, war ich), und am 22. Jänner 1887 tagte die konstituierende Versammlung. Sonntagsvorträge bildeten neben Rezitationen und Konzerten die eine, Volksbüchereien die andere, stärker betonte Tätigkeit des seit 1893 selbständigen Wiener Volksbildungsvereines. 1890 wurde auf Anregung Ludo Hartmanns ein Teil der Vorträge zu Zyklen zusammengeschlossen, die ersten sieben Unterrichtskurse abgehalten, denen 1891 bis 1893 in den Winterhalbjahren 23 weitere folgten. Mit diesen 30 Dreimonatkursen, wenn er sie auch aus Mangel an Mitteln wieder einstellen mußte, war der Volksbildungsverein der Vorläufer und Bahnbrecher der volkstümlichen Universitätskurse, jener für ganz Deutschland beispielgebenden Schöpfung Ludo Hartmanns. Mit November 1895 begannen die vom Staat im Budget berücksichtigten, von einer Kommission der Universität, in der Hartmann bis zu seiner schweren Erkrankung der Führende war, geleiteten, von Professoren und Dozenten abgehaltenen, volkstümlichen Kurse.

In diesen Universitätskursen wurde bald der Philosophie eine wichtige Stellung eingeräumt. Adolf Stöhr, ein origineller Forscher, verstand es hier ebenso volkstümlich vorzutragen, wie er an der Universität seinen Studenten unentwegt Schwerverständliches darbot. Aus treuen Hörern seiner Kurse fanden sich zuerst sieben zusammen, deren einige auch, ihn heimbegleitend, noch [S. 3] mehr erfuhren. Da sie den Wunsch hegten, nicht nur jeden Abend wöchentlich im Winterhalbjahr, sondern öfter, das ganze Jahr hindurch Gelegenheit zu finden, das erworbene Wissen zu erweitern und zu vertiefen, setzten sie eine von 38 Hörern des Kurses Stöhr unterzeichnete Eingabe auf, es möge eine Organisation geschaffen werden, um weitere fachmännisch geleitete Ausbildung ganzjährig zu bieten.

An einem Mainachmittag 1900 besprach Ludo Hartmann mit mir im Büro der Kurse im Rektorat diese Eingabe. Die lange Unterredung endete im Rathauspark mit dem Entschluß, eine Volkshochschule ins Leben zu rufen, deren Räume jeden Abend (nur die heißeste Zeit ausgenommen) Unterrichtskursen, am Sonntag Konzerten und Dichtervorträgen dienen sollten. Als Lehrer waren jene zunächst in Aussicht genommen, welche sich schon in den volkstümlichen Universitätskursen bewährt hatten, daneben aber gleichberechtigt befähigte Gelehrte an Mittelschulen oder ohne staatliche Anstellung. Im Herbst hielten wir Propagandavorträge; mit Unterstützung des Volksbildungsvereines sprachen am 2. Dezember 1900 gleichzeitig Professor Stöhr im 3., Hartmann im 6., Jerusalem im 9., Reich im 18., Lampa im 20. Bezirk „Über Volksuniversitäten“. Aufgelegte Bogen ergaben zahlreiche Anmeldungen. Wir sammelten Unterschriften für den Aufruf zur Konstituierung, deren 65 bald beisammen waren (...)

Den Namen „Volkshochschule“ hatte die übervorsichtige Statthalterei und Polizei untersagt, darum nannten wir uns Volksheim, denn „persönlichen Umgang zwischen Lernenden und Lehrenden, Individualisierung" forderten wir schon an der Jahrhundertwende, lange bevor diese Ideen nach dem Weltkrieg zu allgemeiner Geltung gelangten, ebenso „die Mitarbeit aller Lehrer, vom Hochschullehrer bis zum Volksschullehrer, aller Freiwilligen der Volksbildung, ob sie nun Bildung geben oder empfangen wollen. Im Zusammenarbeiten werden durch den gegenseitigen Verkehr alle lernen und alle lehren. Wir sind uns bewußt, ein Werk zu beginnen, das erhaben sein soll über die Streitigkeiten des Tages; deshalb schließen wir niemand aus und heißen jeden willkommen“. So lautete unser Aufruf an alle, und alle kamen (...) [S. 4]

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. In eckiger Klammer steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.)

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