Aus der Werkstatt des Arztes

Titelvollanzeige

Autor/in:

Strümpell, Adolf von

Titel: Aus der Werkstatt des Arztes
Jahr: 1911
Quelle:

Adolf v. Strümpell, Aus der eigenen Werkstatt: Aus der Werkstatt des Arztes. Zwei Vorträge gehalten im Wiener Volksbildungsverein, Wien – Leipzig 1911, S. 5–53.

Sachdeskriptor: Medizin

[S. 5] Hochgeehrte Damen und Herren!

Ich bin gebeten worden, Ihnen etwas aus der „ärztlichen Werkstatt“ mitzuteilen, also gewissermaßen ein wenig aus der Schule zu plaudern. Gern bin ich dieser Aufforderung gefolgt, denn die Zeiten sind längst vorbei, wo die Ärzte ihr Können und Wissen wie einen verborgenen Schatz sorgfältig hüteten, und wo sie es als zuträglicher für ihren Ruhm erachteten, wenn sie ihr Tun und Treiben mit dem Nimbus des Geheimnisvollen umgaben. Heutzutage gibt es keine Geheimwissenschaft und keine Geheimhaltung in der Wissenschaft mehr. Jede neue Erfahrung, jeder kleine neue Schritt in der Erforschung des bisher noch Unbekannten gelangt alsbald zur allgemeinen Kenntnis der Fachgenossen und unterliegt ihrer kritischen Beurteilung und Nachprüfung. Aber auch das größere Publikum hat einen Anspruch darauf, von [S. 6] den Anschauungen und Fortschritten der medizinischen Wissenschaft unterrichtet zu werden. Handelt es sich doch um ein Gebiet, das in das Wohl und Wehe eines jeden Menschen aufs tiefste eingreift. Nicht nur an den Theorien und Lehren der ärztlichen Schulen sollen die Leistungen der Ärzte gemessen werden, auch das praktische Leben hat ein Recht, hierüber zu urteilen.

Wenn ich aus der Werkstätte des Arztes berichten soll, so fragt es sich, wo ist denn diese Werkstatt? Man spricht von der Werkstatt des Handwerkers und von der Werkstatt des Künstlers. Ist denn auch der Arzt ein Handwerker oder ein Künstler? Ich glaube, er muß beides sein. Das Handwerkmäßige liegt im Technischen, im Erlernen notwendiger Fertigkeiten, das Künstlerische liegt in der besonderen Art der Anwendung dieser Fertigkeiten. Der Handwerker arbeitete nach dem Muster, nach der Schablone. Er produziert die Menge, die Gleichartigkeit. Der Künstler gestaltet das einzelne Kunstwerk, von individuellem Gepräge, ein abgegrenztes Stückchen [S. 7] Stoff oder Leben, aber durchdrungen mit eigenen Gedanken und Ideen. Ohne handwerkmäßige Fertigkeit kann kein Kunstwerk entstehen, aber das, was es zum Kunstwerk macht, liegt außerhalb des Handwerkmäßigen in der Seele des Künstlers. Und so arbeitet auch der Arzt mit zahlreichen Fertigkeiten, die er handwerkmäßig erlernen muß. Aber die ärztliche Kunst besteht im Individualisieren, d. h. in der Erfassung der gesamten körperlichen und geistigen Individualität des Kranken und in der Anwendung der ärztlichen Fähigkeiten und Kenntnisse auf diesen einen besonderen kranken Menschen. Wie der Künstler sein Kunstwerk mit seinem Geist durchdringt, so soll auch ein geistiges Band, eine geistige Gemeinschaft zwischen dem Arzt und seinen Kranken entstehen. Der Arzt soll nicht nur der Berater, er soll auch der Freund des Kranken sein. Denn nur so ist es möglich, daß jenes Gefühl des gegenseitigen Vertrauens entsteht, das zu einer ersprießlichen ärztlichen Tätigkeit unbedingt notwendig ist.

Ich weiß sehr wohl, daß die eben ausgesprochenen [S. 8] Sätze eine ideale Forderung enthalten, denen die Wirklichkeit keineswegs immer entspricht. Man kann sogar behaupten, daß die moderne Entwicklung des Ärztewesens der Anknüpfung eingehender persönlicher Beziehungen zwischen Arzt und Patient, wie ich sie soeben als wünschenswert bezeichnet habe, wenig günstig ist. Die gute altbewährte Einrichtung des Hausarztes entschwindet immer mehr und mehr. Der Hausarzt der alten Zeit war wirklich meist der bewährte und treue Freund der Familie, der alle Verhältnisse und Eigenheiten der einzelnen Familienmitglieder kannte, der genau wußte, wo jeden der Schuh drückt, und der daher bei eintretender Krankheit oft schon von vornherein wußte, worauf besonders zu achten sei. Gegenwärtig wird der Arzt häufig erst dann gerufen, wenn eine Krankheit ausbricht. Er tritt dem Kranken oft als ein völlig Fremder gegenüber und muß sich dessen Vertrauen und die Kenntnis von dessen Eigenart erst neu erwerben.

Ein weiterer Umstand, der in nicht ganz unbedenklicher Weise die individualisierende Behandlung [S. 9] der Kranken erschwert, ist die immer zunehmende Entwicklung des ärztlichen Spezialistentums. Bei der großen Ausdehnung der einzelnen ärztlichen Gebiete ist die Bildung besonderer Spezialfächer unabweisbar, und unleugbar hat das ärztliche Spezialistentum sehr viel Treffliches in wissenschaftlicher und technischer Hinsicht geleistet. Andererseits birgt aber die gegenwärtig im Publikum immer mehr zunehmende Mode, womöglich für jedes Leiden einen besonderen Spezialisten zu konsultieren, die Gefahr in sich, daß über der spezialärztlichen Behandlung des einzelnen Organes der ganze übrige Mensch vergessen wird und daß der Kranke schließlich wohl eine Menge Spezialärzte für alle seine einzelnen Beschwerden hat, aber keinen einzigen Arzt, der seinen ganzen Körper und seine körperliche und geistige Gesamtkonstitution kennt und in Berücksichtigung zieht.

Vom Arzt verlangt der Leidende vor allem Hilfe. Das höchste Ziel alles ärztlichen Strebens und Forschens ist die Heilung der Krankheiten und die Linderung der Schmerzen. Aber die Aufgabe [S. 10] des Arztes ist eine noch viel weiter gehende. In unzählige Verhältnisse des Lebens spielen gesundheitliche Fragen mit hinein. Wie häufig sind die wichtigsten Entschlüsse und Entscheidungen abhängig von dem Ausspruche des Arztes, von seiner Beurteilung der Leistungsfähigkeit, der Widerstandskraft, Ausdauer desjenigen, der etwas Neues unternehmen will. Daher die besondere Vertrauensstellung, welche die Ärzte zu allen Zeiten genossen haben. Sie sind daher stolz auf ihren Beruf, aber sie sollen auch das stete Gefühl ihrer großen Verantwortlichkeit haben.

Wenden wir uns jetzt etwas näher der gewöhnlichen ärztlichen Tätigkeit zu. Nur wenige Punkte kann ich heute hervorheben, die von allgemeinem Interesse sind. Sie alle wissen, daß die Grundbedingung aller wissenschaftlichen Heilkunde eine genaue Erkennung jener krankhaften Veränderungen ist, die den vom Kranken empfundenen Störungen und Beschwerden zugrunde liegen. Die Schwierigkeiten, die sich in dieser Hinsicht dem ärztlichen Erkennen entgegenstellen, sind ungemein groß. [S. 11] Denn sorgfältig verhüllt die Natur das innere Getriebe des Körpers. Um so bewunderungswürdiger sind die von der unermüdlichen Arbeit und dem Scharfsinn zahlreicher Forscher erzielten Erfolge, trotzdem ein Urteil über den Zustand und die Tätigkeit der verborgenen Organe zu gewinnen. Es wird Sie vielleicht interessieren, wenigstens einige der Wege und Methoden flüchtig kennen zu lernen, welche die neuere Medizin zu diesem Zweck erfunden hat.

In früherer Zeit mußten die Ärzte sich damit begnügen, die nach außen hervortretenden Lebenserscheinungen, namentlich den Puls und die Atmung sowie ferner die Beschaffenheit gewisser Ausscheidungen des Körpers genau zu beobachten und hieraus ihre Schlüsse auf ein normales oder krankhaftes Verhalten der inneren Teile zu ziehen. Eine direkte Untersuchung der inneren Organe war noch größtenteils so gut wie unmöglich. Die erste grundlegende Erweiterung unserer diagnostischen Hilfsmittel und damit die Möglichkeit, unmittelbare Kenntnisse von dem Zustande der inneren Organe [S. 12] zu erhalten, verdanken wir der Erfindung der Perkussion und der Auskultation, d. h. der Verwertung von Schallerscheinungen, die teils in den inneren Organen durch die Lebensvorgänge selbst erzeugt werden oder die wir künstlich in den inneren Organen durch Beklopfen hervorrufen. So können wir jetzt zahlreiche Organe, die unserem Auge entzogen sind, mit unserem Gehör in Verbindung setzen und die Organe fangen an, eine dem kundigen Ohr des Arztes wohl verständliche Sprache zu sprechen. Wir Ärzte kennen z. B. jetzt die wirkliche Sprache des Herzens. Wer diese Sprache versteht, dem hat das Herz viel zu berichten. Es kann dem Arzt vertraulich ins Ohr sagen, daß es gesund und kräftig schlägt, es kann ihm eindringlich klagen, daß es schwach und gebrechlich ist. Es kann ihm genau die Stelle angeben, wo es krank ist und wo ein Hindernis sitzt, das dem Blute den freien Kreislauf unmöglich macht, und es kann erzählen, wenn das Blut vom richtigen Wege in falsche Bahnen abgelenkt wird.

An der Entdeckung und Ausbildung dieser wichtigen [S. 13] diagnostischen Methoden der Perkussion und Auskultation hat die alte Wiener medizinische Schule den größten Anteil. Hier in Wien wirkte von 1751–1768 am spanischen Hospital und dann als frei praktizierender Arzt Leopold Auenbrugger, dessen hundertjährigen Todestag die ganze medizinische Welt im vorigen Jahre gefeiert hat. Auenbrugger veröffentlichte im Jahre 1761 ein kleines, nur wenige Seiten starkes Büchlein, worin er seine neue Erfindung, durch Beklopfen des Brustkorbs die Krankheiten der Brustorgane zu erkennen, den Fachgenossen mitteilte. Aber viele Jahre blieb seine Entdeckung völlig unbeachtet, ja sie wurde sogar als gänzlich unbrauchbar verspottet und verlacht. Erst 48 Jahre später, aber zum Glück doch noch ein Jahr vor Auenbruggers Tode, erkannte Corvisart, der berühmte Leibarzt Napoleons I., die grundlegende Bedeutung der Perkussion und gab eine französische Übersetzung des Auenbruggerschen Buches heraus, das nun in den ärztlichen Fachkreisen bald allgemein bekannt wurde. Die Ausgestaltung der Perkussion zu ihrem gegenwärtigen [S. 14] Umfange verdankt die Medizin ebenfalls einem Großen der Wiener Schule, dem erst 1881 gestorbenen Josef Skoda, der auch der von dem Franzosen Laënnec erfundenen Auskultation die breite, noch bis heute unverrückte wissenschaftliche Basis gab.

Aber die Schallerscheinungen, die aus dem Innern des Körpers an das Ohr des Arztes dringen, geben doch nur eine indirekte Nachricht von dem Verhalten der Organe. Sie müssen gewissermaßen erst übersetzt werden in die Vorstellungen von dem wirklichen Zustande der inneren Teile. Welch weiteren großen Fortschritt der Diagnostik bedeutete es daher, als die Ärzte allmählich lernten, mit Hilfe scharfsinnig erfundener Spiegelvorrichtungen wenigstens einzelne innere Organe direkt demjenigen Sinne zugänglich zu machen, der uns am meisten Aufschluß über die Beschaffenheit der Welt außer uns geben kann, dem Auge. Die erste grundlegende Entdeckung war die Konstruktion des Augenspiegels durch H. Helmholtz im Jahre 1851. Ihr folgte die Herstellung [S. 15] des Kehlkopfspiegels, um dessen Einführung in die Praxis sich wiederum zwei Wiener Ärzte, Ludwig Türck und Johann Czermak, das größte Verdienst erwarben. Seitdem sind noch eine ganze Reihe anderer Spiegelvorrichtungen zur Untersuchung der Ohren, der Nase, der Speiseröhre, der Blase, des Darms u. a. in die ärztliche Praxis eingeführt worden.

Aber der gewiß schon oft sehnsüchtig empfundene Wunsch, doch auch in das tiefste Innere des Körpers hineinsehen zu können, schien unerreichbar zu sein, bis er im Jahre 1895 durch die Entdeckung Wilhelm Röntgens wenigstens zum Teil seine gänzlich unerwartete, aber darum um so überraschendere wunderbare Erfüllung fand. Ein tief ergreifendes Gefühl muß es gewesen sein, von dem jeder denkende Arzt am Röntgenschirm noch jetzt alltäglich einen Nachklang empfindet, als das menschliche Auge zum ersten Male ein menschliches lebendes Herz schlagen sah. Zwar sind es nur die Schattenbilder der inneren Teile, die von den Röntgenstrahlen entworfen werden, aber diese [S. 16] Schattenbilder geben uns doch einen vollkommen klaren und scharfen Umriß des Herzens und der Lungen, der großen Blutgefäße, unter gewissen Bedingungen auch des Magens und des Darms und vor allem aller Knochen und Knorpel. Und was besonders wertvoll ist, wir sehen deutlich die Bewegungen der inneren Teile, wir sehen das Herz und die Aorta pulsieren, wir sehen die Lungen atmen, wir sehen, wie der Magen seinen Inhalt entleert und wie der Darm sich bewegt. Wir erkennen schadhafte oder gebrochene Stelle an den Knochen, wir sehen die in den Körper eingedrungenen Fremdkörper, wir sehen die Kugel im Innern des Schädels, wir sehen die krankhaften Steinbildungen in der Niere. Dies alles sind Dinge, die uns jetzt schon ganz selbstverständlich vorkommen, deren Erzählung aber noch vor wenigen Jahren als ein unglaubwürdiges Wunder angezweifelt worden wäre. Wie haben sich die Zeiten geändert! Auenbrugger mußte 48 lange Jahre warten, bis seine Entdeckung die verdiente Anerkennung fand. Seit der epochemachenden Entdeckung [S. 17] Röntgens sind noch nicht 15 Jahre verflossen und schon existiert eine kaum mehr übersehbare Literatur über die Anwendung der Röntgenstrahlen in der Medizin, es gibt eigene Zeitschriften, die sich nur mit diesem Gebiete befassen, alljährlich wird ein ausschließlich der Röntgenologie gewidmeter Ärztekongreß abgehalten, jedes nur einigermaßen gut eingerichtete Krankenhaus hat seinen eigenen Röntgenapparat und die junge Ärztegeneration kann sich kaum mehr in jene Zeit hineinversetzen, wo man noch nicht in der Lage war, z. B. die früher oft recht schwierige Diagnose einer Erweiterung der großen Hauptschlagader mit einem raschen Blick auf den Röntgenschirm zu stellen. Mit der Verwertung der Röntgenstrahlen für die Medizin sind wir auch unzweifelhaft noch nicht am Ende angelangt. Noch erweitert sich alljährlich das Anwendungsgebiet dieser merkwürdigen Strahlen und es ist nicht abzusehen, welche weiteren Erfolge die rasch fortschreitende Technik auf diesem Gebiete noch erzielen wird.

Noch auf eine ganz andere Reihe merkwürdiger [S. 18] neuer Entdeckungen auf diagnostischem Gebiete möchte ich mit wenigen Worten hinweisen. Sie alle wissen, daß man eine bestimmte große Gruppe von Erkrankungen als Infektionskrankheiten bezeichnet. Es sind dies diejenigen Krankheiten, die auf dem Eindringen von mikroskopisch kleinen parasitären Organismen in den menschlichen Körper beruhen. Der ganze Krankheitsprozeß, z. B. beim Typhus, der Diphtherie, dem Scharlach, der Tuberkulose u. v. a. kann aufgefaßt werden als ein Kampf unserer Körperzellen mit den eingedrungenen Feinden. Wie unser ganzer Körper sich wehrt, wenn er von einem Raubtier überfallen wird und wie er in diesem Kampfe entweder siegt oder überwältigt wird, genau ähnlich wehren sich auch unsere inneren Körperzellen gegen die Bakterien, die in sie eingedrungen sind. Dieser Kampf der Zellen geht ganz ohne Beteiligung unseres Bewußtseins vor sich, nach höchst merkwürdigen Kampfesregeln und Verteidigungsarten, die unsere Körperzellen wahrscheinlich im Laufe zahlloser Generationen erlernt [S. 19] und erprobt haben. Das ist ja eine der wunderbarsten Erscheinungen unserer Organisation, daß sie offenbar in möglichst zweckmäßiger Weise angepaßt ist an alle Gefahren, die dem Körper von der Außenwelt her drohen. So sehen wir auch in den Krankheitserscheinungen vielfach das Walten einer höchst merkwürdigen Zweckmäßigkeit. Bei vielen Krankheitssymptomen – ich brauche bloß an die Entfernung schädlicher Krankheitsprodukte durch Husten, Erbrechen usw. zu erinnern – liegt diese Zweckmäßigkeit offen zutage. Bei anderen Krankheitserscheinungen hat es lange Zeit gedauert, bis die Wissenschaft ihre Bedeutung als Schutz- oder Abwehrbestrebungen des erkrankten Körpers erkannt hat. So faßt man z. B. gegenwärtig das früher so gefürchtete Fieber, die Erhöhung der Eigenwärme des Körpers, zum großen Teil als eine Kampfesmaßregel des infizierten Körpers auf, ähnlich wie wohl schon oft tapfere Menschen ihre eigene Stadt in Brand gesetzt haben, um den Feind daraus zu vertreiben. Das Fieber ist aber nur eins der verschiedenen Kampfmittel, [S. 20] deren sich der Körper im Kampf mit den Bakterien bedient. Durch die Untersuchungen Pasteurs, Robert Kochs, Behrings, Paul Ehrlichs und anderer Forscher haben wir erfahren, daß der Kampf zwischen Bakterien und Körperzellen hauptsächlich mit chemischen Waffen geführt wird, mit Giften und Gegengiften. Auf alle mögliche Weise versuchen die Bakterien durch Produktion giftiger Stoffe die Körperzellen zu schädigen oder ganz zu töten. Aber die in diesem Kampf erfahrenen Körperzellen setzen jedem Gift ein entsprechendes Gegengift entgegen, das die Giftwirkung unschädlich machen soll. Wir können diese Gifte und Gegengifte noch nicht chemisch isolieren, wohl aber sie an ihren bestimmten Wirkungen und Beziehungen zueinander erkennen. Wir können im Reagensglase oder unter dem Mikroskop ein künstliches Kampfspiel veranstalten zwischen dem Blutserum eines Kranken mit seinen Schutzstoffen und einer bestimmten, künstlich gezüchteten Bakterienart. Auf diese und ähnliche Weise gelingt es, aus der besonderen [S. 21] Wirksamkeit des Blutserums auf ganz bestimmte Bakterienarten oder deren Produkte einen Schluss zu ziehen auf die besondere Art der Krankheitserreger, die den Körper befallen haben. Dies ist, in populärer Weise kurz ausgedrückt der Grundgedanke der Serumdiagnostik, die von Tag zu Tag mehr an Bedeutung gewinnt. Die Ergebnisse der gegenwärtig in allen Kulturstaaten mit dem größten Eifer betriebenen Serumforschung haben nicht nur praktisches, sondern auch großes theoretisches Interesse. Sie sind ein neues Beispiel für die merkwürdigen einheitlichen Beziehungen, die sich in der ganzen Welt des Organischen gebildet haben. Jeder Organismus kämpft für seine Existenz, die er aber nur erhalten kann auf Kosten und durch Schädigung anderer Existenzen. In diesem Kampf haben sich aber die Kräfte der Organismen gesteigert und hat sich der Erfindungsgeist der Natur an immer neuen und schwierigeren Aufgaben geübt und bewährt.

Nur an einzelnen Beispielen habe ich Ihnen zu zeigen versucht, wie sehr wir Ärzte bemüht sind, [S. 22] durch immer neue und verfeinerte diagnostische Methoden uns einen Einblick in die Natur der vorkommenden Krankheitsfälle zu verschaffen. Bei zahlreichen Krankheiten können wir auch bestimmte organische Veränderungen nachweisen oder bestimmte, wohl charakterisierte Krankheitserreger auffinden, die in den Körper eingedrungen sind und die bestehenden Krankheitserscheinungen hervorrufen. In vielen Fällen bleibt freilich die Deutung unserer Befunde unsicher und vor diagnostischen Irrtümern ist bekanntlich auch der erfahrenste und sorgsamste Untersucher nicht geschützt.

Aber nun gibt es noch eine große Anzahl von Kranken, die über allerlei unangenehme und störende Beschwerden klagen, bei denen aber auch die genaueste, allseitige ärztliche Untersuchung gar keine oder wenigstens keine irgendwie wesentlichen organischen Veränderungen nachweisen kann und bei denen es sich gewiß auch nicht um irgend eine Infektion des Körpers handelt. Es wird Sie vielleicht überraschen zu hören, daß gewiß bei der Mehrzahl der Kranken, die ärztlichen Rat [S. 23] erheischen, der Arzt keine deutliche objektive Ursache für ihre Beschwerden finden kann. Diese Kranken, die, wie man sich ausdrückt, kein eigentliches organisches Leiden haben, sind – zum Teil gewiß mit Recht – von den Leistungen ärztlicher Kunst oft am wenigsten befriedigt. Sie laufen nicht selten von einem Arzt zum anderen, erhalten aber überall den für sie wenig tröstlichen Bescheid, daß der Arzt nichts Schlimmes finden könne und daß ihr Leiden, wie man sich auszudrücken pflegt, jedenfalls nur „funktioneller“ oder auch „nervöser“ Natur und deshalb durchaus ungefährlich sei. Es sei mir gestattet, auf diese so häufigen und wichtigen Krankheitszustände etwas näher einzugehen, wobei ich mich natürlich wiederum auf die Hervorhebung einiger wichtiger Gesichtspunkte beschränken muß.

Um Ihnen eine klare Vorstellung von den hier in Betracht kommenden Verhältnissen zu verschaffen, muß ich zunächst einen Begriff erörtern, der in der Pathologie eine große Rolle spielt – ich meine den Begriff der Konstitution.

Überlegen wir uns, wie unendlich mannigfaltig [S. 24] unser Organismus zusammengesetzt ist, wie verwickelt alle die Einzelleistungen und das Zusammenwirken der zahlreichen Organe sind, so erscheint es als ein Wunder, daß im allgemeinen doch bei fast allen Menschen alle diese Organe und ihre Leistungen in der von der Natur bestimmten Weise zu gehöriger Entwicklung gelangen. Dabei treten nun aber doch bei jedem Individuum gewisse Eigentümlichkeiten hervor, die zwar meist, wie man sich ausdrückt, innerhalb einer gewissen physiologischen Breite liegen, aber doch nicht sehr selten auch nach oben oder nach unten aus diesen physiologischen Grenzen hinaustreten. Wäre dem nicht so, erzeugte die Natur ihre Organismen, wie eine Maschine ihre gleichförmigen Produkte in stets genau gleicher Art und Weise, so wäre eine fortschreitende, sich vervollkommnende Entwicklung der Organismen nicht möglich. Je höher wir in der Reihe der Organismen hinaufsteigen, um so stärker entwickelt sind die Unterschiede der einzelnen Individuen, und dasselbe Gesetz gilt auch für die einzelnen Organe. Darum zeigen sich beim Menschen die größten [S. 25] individuellen Verschiedenheiten in den Leistungen seines höchststehenden Organs, des Gehirns. Denken Sie nur an die vielen Unterschiede der Verstandesleistungen, der Begabung, des Gedächtnisses, des Charakters, des Temperaments usw., die alle sicher mit einer individuell verschiedenen Beschaffenheit des Gehirnes zusammenhängen. Aber sicher bestehen, wenn auch geringere und vor allem nicht so leicht nach außen tretende und bemerkbare Unterschiede auch in der Ausbildung und Funktionsstärke aller anderen inneren Organe. Man kann also sagen, wie jeder Mensch mit seiner besonderen Gehirnorganisation, d. h. mit seinen besonderen Fähigkeiten und Charaktereigenschaften ins Leben tritt, so kommt er auch mit einem besonderen individuell veranlagten Muskelsystem, Drüsensystem, Gefäßsystem, Verdauungsapparat usw. zur Welt. Und diese besonderen Organisationen bilden einen Teil dessen, was man die Konstitution nennt. Darum gibt es Menschen, die von Jugend auf schwache Muskeln, ein schwaches Herz, einen empfindlichen Magen haben. Sie leiden daran, ohne [S. 26] daß der Arzt äußerlich an dem betreffenden Organ eine eigenartige anatomische Veränderung nachweisen kann. Die Unterschiede der Leistungsfähigkeit beruhen offenbar auf feineren Verschiedenheiten des inneren Baus der Organe.

Allein die Unterschiede der individuellen Konstitution machen sich auch noch auf viel verborgeneren Gebieten geltend. Sie alle wissen, daß unser Lebensprozeß in einer beständigen chemischen Umsetzung besteht. In jede einzelne Körperzelle treten fast unausgesetzt Stoffe ein, werden verändert und verarbeitet, und andere Stoffe, die Endprodukte dieser chemischen Prozesse treten aus der Zelle wieder heraus, teils um an anderen Körperstellen in Aktion zu treten, teils um als weiterhin unbrauchbar aus dem Körper endgiltig ausgeschieden zu werden. Könnten wir mit einem riesigen Vergrößerungsglase zu gleicher Zeit in das feinste chemische Getriebe aller Körperzellen hineinsehen: unser Körper, der uns jetzt für gewöhnlich so ruhig und still erscheint, würde uns den Anblick einer großen, in lebhaftem Betriebe begriffenen mechanischen [S. 27] Fabrik mit unendlich vielen Rädern, Transmissionen und Hebeln darbieten oder auch, um ein anderes Bild zu gebrauchen, den Anblick eines großen, dicht bevölkerten Ameisenhaufens mit unendlich zahlreichen fleißigen kleinen Arbeitern, die geschäftig unzählige kleine Lasten hin und her tragen, beständig bauen und zerstören.  Das Merkwürdigste bei der Organisation unseres Körpers ist aber das, daß kein Organ nur für sich arbeitet, sondern ein jedes zugleich mit Rücksicht auf die Zwecke und Bedürfnisse des anderen. Bewegen sich z. B. unsere Muskeln so fangen auch ohne unsere bewußte Absicht durch eine innere Verbindungsleitung angeregt, die chemischen Depots in unseren Verdauungsorganen an stärker zu arbeiten. Sie mobilisieren diejenigen Stoffe, deren Verbrennung die Kraft zur Muskelarbeit liefert. Ohne unser Zutun beginnt das Herz stärker zu schlagen und das Blut übernimmt den Transport der kraftliefernden Stoffe gerade zu denjenigen Muskeln die sie gebrauchen. Alle die zahlreichen Organe unseres Körpers stehen in einer den Zwecken des gesamten Organismus [S. 28] entsprechenden Weise untereinander in Verbindung. Sie werden in letzter Hinsicht von einem einheitlichen Prinzip geleitet. Dieses Prinzip ist aber nicht der Wille und Vorteil eines einzelnen, sondern es ist das Prinzip vollster Uneigennützigkeit, der beständigen Unterordnung des einzelnen unter die Zwecke des Ganzen, die stete Berücksichtigung des Wohls der Gesamtheit. So lange die Natur unbewußt arbeitet, nur ihren eigenen Gesetzen folgend, leistet sie das Vollkommenste, das unter den gegebenen Verhältnissen erreichbar ist. Erst der bewußte Verstand, der sich zum Tyrannen des organischen sozialistischen Staates aufwerfen will, greift störend in das wohlgeordnete Getriebe ein. Ob immer zum Vorteil des Ganzen, werden wir gleich sehen.

Daß der komplizierte große chemische Betrieb des Körpers in den allermeisten Fällen richtig und ungestört vor sich geht, daß ununterbrochen von der ersten Bildung des Embryos an alle die Jahrzehnte des Lebens hindurch jedes Teilchen der Nahrung an seine richtige Stelle kommt und seine richtige Verwendung findet, ist wohl wiederum eines [S. 29] der größten Wunder, das die Natur uns bietet. Eine absolute Vollkommenheit ist freilich auch hier nicht vorhanden und so kann man sagen, wie jeder Mensch seine individuell gebauten Organe und ihre individuelle Leistungsfähigkeit hat, so hat er auch seinen individuellen Stoffwechsel. Ja, die Annahme ist naheliegend, daß die Art seines Stoffwechsels die Art seiner Organe bedingt und daher das Primäre und Wesentliche ist. Jedenfalls äußert sich die besondere individuelle Konstitution auch in gewissen besonderen Eigentümlichkeiten des chemischen Gesamtbetriebes des Organismus, sei es, daß die chemischen Umsetzungen selbst eine besondere Art und Richtung einschlagen, sei es, daß die oben angedeuteten eigentümlichen chemischen Beziehungen der Organe untereinander eine Störung erfahren haben. Wenn alle diese Abweichungen natürlich auch nur innerhalb verhältnismäßig enger Grenzen stattfinden können, da ja jede stärkere Änderung in dem physiologisch-chemischen Betriebe des Körpers mit einer Erhaltung des Lebens gar nicht vereinbar wäre, so machen sie sich doch oft [S. 30] genug als gewisse krankhafte Störungen geltend, die die Ärzte ebenfalls als individuelle Abweichungen der Gesamtorganisation, als sogenannte Konstitutionsanomalien auffassen.

So finden wir also zahllose Klagen und Beschwerden bedingt nicht durch von außen gekommene Krankheiten, sondern durch Abweichungen der Konstitution, die wir in letzter Hinsicht als angeborene bezeichnen müssen. Natürlich wird ihr Auftreten auch von bestimmten Ursachen abhängen, die sich aber einstweilen noch meist unserer Erkenntnis entziehen. Sehr oft treten gerade diese Anomalien in einzelnen bestimmten Familien auf. Sie sind vererbbare und vererbte Familieneigentümlichkeiten. So sehen wir z. B. die Gicht, die Zuckerkrankheit, die krankhafte Fettleibigkeit, aber ebenso auch zahlreichere leichtere Krankheitszustände, z. B. die Neigung zu Kopfschmerzen, zu Migräne, zu Magen- und Verdauungsstörungen, zu Herzschwäche usw. in gewissen Familien ganz besonders häufig vorkommen. Man kann sogar noch weiter gehen und wie man von der individuellen und [S. 31] der familiären Konstitution spricht, auch gewisse Eigentümlichkeiten der nationalen Konstitution feststellen. Auch die Völker und Nationen haben ihre besonderen Neigungen zu gewissen Krankheitszuständen. Diabetes, Gicht, Nervenleiden u. a. kommen bei manchen Rassen auffallend häufiger vor, als bei anderen.

So wird also der Arzt, wenn er keine bestimmte Organerkrankung als Ursache vorhandener Beschwerden nachweisen kann, zunächst an etwaige konstitutionelle Anomalien zu denken haben. Er wird die Familiengeschichte des Kranken, dessen pathologische Genealogie, so weit wie möglich erforschen und durch eine besondere Untersuchung der funktionellen Leistungsfähigkeit der einzelnen Organe, sowie etwaiger Eigentümlichkeiten der Stoffwechselvorgänge ein Urteil über die individuelle Konstitution des Kranken zu gewinnen suchen.

Schon vorhin habe ich erwähnt, daß die individuellen Unterschiede um so mehr hervortreten, je höher entwickelt und ausgebildet das betreffende [S. 32] Organ ist. Die größte Mannigfaltigkeit der Organisation, die größten Unterschiede in der Stärke und Art der Leistungen bietet das Nervensystem dar, im Nervensystem das Gehirn und in diesem wiederum jene Teile, die den höchsten Leistungen vorstehen, die die Natur überhaupt bis jetzt hervorgebracht hat, den Vorgängen des Bewußtseins, den Erscheinungen des sogenannten Seelenlebens. Wenn ich vorhin vergleichsweise den Gesamtbetrieb des Körpers als eine sozialistische Einrichtung bezeichnete, worin jeder Teil sich den Zwecken des Ganzen unterordnet, so zeigt sich doch auch in der organischen Welt die Schwierigkeit, eine solche Einrichtung dauernd zu erhalten. In der fortschreitenden Reihe der Organismen zu immer höher entwickelten Formen zeigt ein Organ die immer mehr und mehr hervortretende Tendenz, zur Herrschaft über die anderen Organe zu gelangen, und dies Organ ist das Nervensystem. Es ist hiedurch freilich nicht nur zu einer bevorzugten Machtstellung, sondern auch zu einer sonst unerreichten Entwicklung seiner inneren Kräfte und seiner Leistungsfähigkeit [S. 33] gelangt. Aber diese dominierende Bedeutung des Nervensystems hat auch ihre schlimmen Folgen gezeitigt. Wie es auch sonst bei menschlich-sozialen Organisationen zuweilen vorkommen soll, daß eine zu häufige direkte Einmischung der obersten Instanzen in den regelmäßigen Ablauf der niederen Betriebe nur störend und verwirrend wirkt, so macht sich auch der vordringliche Einfluß des Nervensystems auf die übrigen Funktionen sehr häufig in wenig angenehmer Weise bemerkbar. Sie alle kennen das böse Wort „nervös“ und wissen, wie zahlreiche Übel in allen möglichen Teilen des Körpers als „nervös“ bezeichnet werden, weil ihr Ursprung nicht in den scheinbar betroffenen Organen selbst, sondern in den hinzugehörigen Nerven gesucht wird. Sie wissen, wie diese Bezeichnung eines Leidens als eines „nervösen“ oft gerade da gebraucht wird, wo die ärztliche Untersuchung keine gröberen krankhaften Veränderungen nachweisen kann und wo das Wort „nervös“ daher nur zu oft der bequeme Deckmantel für unsere Unkenntnis ist.

[S. 34] Und doch kann auch die ernste und kritische Wissenschaft das Wort „nervös“ nicht entbehren. Sie muß es aber freilich immer nur in einem bestimmten Sinn gebrauchen und genau untersuchen, wo die nervösen Einwirkungen auf die einzelnen Organe ihren Ursprung nehmen und in welcher Weise sie deren Tätigkeit beeinflussen. Da hat sich denn gezeigt, daß besonders zahlreiche, wenn auch freilich keineswegs alle als „nervös“ bezeichneten Erkrankungen abhängig sind von abnormen Einflüssen der höchsten Tätigkeit unseres Nervensystems, d. h. von den Zuständen unseres Bewußtseins, von unseren Vorstellungen. Hier zeigt es sich besonders, wie störend oft das Eingreifen dieser höheren Funktionen in das niedere Organgetriebe ist. Nehmen wir zur Erläuterung dieses Satzes als Beispiel unsere Herztätigkeit.

Das Herz ist wohl der fleißigste und dabei uneigennützigste Arbeiter, den es auf der Welt gibt. Fast ausschließlich im Dienste des übrigen Körpers und für dessen Zwecke arbeitet es Tag und Nacht ununterbrochen, stets hilfsbereit, nie [S. 35] ermüdend. Man hat berechnet, daß das Herz eines erwachsenen Menschen täglich eine Arbeit verrichtet, die dem Heben von 20.000 Kilogramm auf einen Meter Höhe gleichkommt. Und dabei ist das Herz von anspruchslosester Bescheidenheit. Der gewöhnliche gesunde Mensch kümmert sich nicht im geringsten um sein Herz. Er weiß kaum, wo und wie es arbeitet und nimmt seine unbezahlbaren Leistungen ohne allen Dank als selbstverständlich entgegen. Und so ist es auch für das Herz und seine ungestörte Tätigkeit am besten!

Denn wenn das Bewußtsein anfängt sich ohne genügenden Grund um diesen treuen Diener zu kümmern, wenn es an seiner Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit zu zweifeln anfängt, wenn es ihn argwöhnisch und ängstlich belauscht, wenn es sich einbildet, er tauge nichts mehr – dann ist es mit der schönen regelmäßigen Tätigkeit des Herzens zu Ende, dann wird das Herz verwirrt, es fängt an zu rasch und zu stark zu schlagen. Der Mensch fühlt jetzt sein Herz, an das er früher nie gedacht hat, er fühlt es klopfen, er empfindet dabei allerlei [S. 36[ unangenehme und schmerzhafte Sensationen und so bildet er sich leicht ein, schwer herzleidend zu sein! Ein so entstandenes Herzleiden nennt man ein nervöses, man sollte es richtiger ein eingebildetes oder vielmehr ein durch Einbildung entstandenes nennen. Ein derart eingebildeter Herzkranker leidet vielleicht noch viel mehr, als mancher wirkliche Herzkranke. Denn die Angst und die Sorge um die Zukunft versetzen ihn in beständige Aufregung, rauben ihm den Appetit und den ruhigen Schlaf. Ich glaube ohne Übertreibung sagen zu können, daß die Zahl derjenigen, die sich nur einbilden, einen Herzfehler zu haben, erheblich größer ist, als die Zahl der Kranken mit wirklichen Herzfehlern. Und dasselbe was vom Herzen gilt, gilt auch von vielen anderen Organen. Zahllose Menschen leiden unter der Furcht, ein gefährliches Magenübel zu haben und daher keine irgendwie schweren Speisen vertragen zu können. Andere werden von der Angst gequält, rückenmarksleidend zu sein usw.

Alle diese eingebildeten Krankheiten gehören [S. 37] in die große Gruppe der sogenannten nervösen Leiden und Sie können sich denken, wie wichtig, aber freilich auch wie schwierig es oft für einen Arzt ist, diese rein seelische Entstehung einer scheinbar körperlichen Krankheit durch ängstliche Vorstellungen und Befürchtungen zu erkennen. Denn es liegt auf der Hand, daß derartige durch Vorstellungen entstandene Krankheiten auch nur durch die Beseitigung der ängstlichen Vorstellungen, also auf psychischem Wege geheilt werden können, eine Aufgabe, die freilich oft viel Geschick, Geduld und vor allem auch Takt von seiten des Arztes erfordert.

Ein genaueres Eingehen auf die zahlreichen wichtigen Beziehungen zwischen den geistigen und den körperlichen Vorgängen würde mich hier viel zu weit führen. Nur den einen Punkt möchte ich noch hervorheben, daß die meisten dieser sogenannten nervösen, d. h. in letzter Hinsicht psychisch bedingten Krankheitszustände bei Personen auftreten, deren Seelenleben überhaupt gewisse Eigentümlichkeiten zeigt. Wie wir vorhin von der körperlichen [S. 38] Konstitution gesprochen haben, so müssen wir auch den Begriff der geistigen Konstitution anerkennen. Was wir gemeinhin als Nervosität bezeichnen, ist nichts anderes, als eine besondere krankhafte Form der geistigen Konstitution, charakterisiert durch die mangelnde einheitliche Geschlossenheit des Bewußtseins, durch das unberechtigte, oft sprunghafte Hervortreten einzelner Vorstellungen, die nicht genügend von anderen Vorstellungen korrigiert und auf das richtige Maß ihrer Bedeutung zurückgeführt werden. Jeder Mensch kann gelegentlich den Gedanken fassen, daß sein Herz vielleicht nicht ganz gesund ist. Allein, wenn diese Befürchtung wirklich unbegründet ist, so wird dies der normale, ruhig überlegende Mensch bald erkennen und seine Besorgnis dann verlieren. Bei einem nervösen Menschen aber wird dieser ängstliche Gedanke, so unbegründet er auch sein mag, lange nicht so leicht aus dem Bewußtsein verdrängt. Vernünftige, ruhige Überlegung, sich überzeugen lassen von guten Gründen – das alles ist bei nervösen Menschen [S. 39] schwer zu finden, die immer von ihren eigenen überwertigen Ideen beherrscht werden. Woher stammt denn die beständige Aufregung und Unruhe der meisten nervösen Menschen? Nur daher, daß sie eben ihre aufregenden Gedanken und Ideen, so unberechtigt und unnötig diese auch sind, nicht unterdrücken und los werden können.

Wie die körperliche, so ist auch die geistige Konstitution in letzter Hinsicht etwas Gegebenes, Angeborenes. Aber dennoch würden wir in einen verhängnisvollen Irrtum verfallen, wenn wir die Konstitution überhaupt als etwas ganz Unveränderliches betrachteten und jeden Versuch als aussichtslos bezeichneten, sie wenigstens nach Möglichkeit umzugestalten und zu verbessern. Ja, auch in der Annahme des Angeborenen ist eine gewisse Zurückhaltung nötig. Denn manches, was bei flüchtiger Betrachtung als angeborene konstitutionelle Veranlagung erscheint, zeigt sich bei genauerem Zusehen als das Ergebnis äußerer Einflüsse, die eine ursprünglich normale Konstitution in ungünstiger Weise verändert haben. Zum mindesten [S. 40] wird man zugeben müssen, daß eine vielleicht nur geringe konstitutionelle Veranlagung durch äußere Einflüsse einerseits gehemmt und in Schranken gehalten, andererseits zu erheblich stärkerer Entwicklung gebracht werden kann.

Hiemit haben wir einen Punkt berührt, der zu einer der wichtigsten Aufgaben des Arztes hinführt, durch Lehre und Beispiel, durch Rat und Tat dem Hervortreten und der Entwicklung krankhaft konstitutioneller Zustände soviel als irgend möglich entgegenzuarbeiten. Zu keiner Zeit ist aber eine derartige Beeinflussung so sehr nötig und möglich als zu der Zeit, wo der Körper und der Geist überhaupt noch nicht ihre endgiltige Form und innere Entwicklung angenommen haben, zu der Zeit der Kindheit. Hieraus folgt die unendliche Wichtigkeit der Art und Weise, wie das Kind aufwächst, wie es gepflegt, wie es ernährt, wie es erzogen wird. Durch eine richtige Art der Ernährung kann eine irgendwie sich geltendmachende körperlich-konstitutionelle Eigenheit zweifellos in andere Bahnen gelenkt oder wenigstens [S. 41] eingedämmt werden. Bei dem kleinen Kinde, das nicht das Glück hat, an der Mutterbrust ernährt zu werden, liegen die Verhältnisse besonders schwierig. Willenlos ist ein solches Kind der künstlichen Ernährungsweise ausgesetzt, die ihm von den Eltern geboten wird. Wieviel Überlegung und Arbeit hat es die Kinderärzte gekostet, unter diesen unnatürlichen Umständen das Beste und Richtigste zu finden. Wie groß ist die Verantwortlichkeit der Eltern und ihrer ärztlichen Berater bei der Ernährung der Kinder, die nicht selten grundlegend ist für einen großen Teil der ganzen späteren körperlichen Entwicklung. Nur mühsam gelingt es den Ärzten, vielfach eingewurzelte Vorurteile zu überwinden. Eins der häufigsten und wichtigsten ist die Meinung, als ob die Kinder nur möglichst viel und kräftig essen und möglichst dick werden müssen. Von den schädlichen Folgen geistiger Überbürdung und körperlicher Überanstrengung weiß ein jeder zu reden, aber das Übermaß chemischer organischer Arbeit, das dem Körper – dem erwachsenen ganz ebenso wie dem kindlichen – zu [S. 42] seinem Schaden durch eine anhaltende Überfütterung aufgebürdet wird, bleibt nur zu häufig unbeachtet. Ich weiß nicht, ob ich mich darin täusche, aber mancher Gang über die Ringstraße hat mir den Gedanken nahegelegt, als ob gerade hier in Wien die Zahl der überfütterten Kinder eine besonders große sei.

Und wie die Ernährung des Kindes auf seine körperliche Entwicklung von Einfluß ist, so ist es die Erziehung auf seine geistige Konstitution.[1] Die Erziehung gibt dem Kinde seine geistige Nahrung, die Fülle der Vorstellungen, aus denen sich das Gesamtbewußtsein zusammensetzt. Aber nicht auf die Zahl und den Inhalt der einzelnen Vorstellungen allein kommt es an, sondern vor allem auch auf ihre richtige Verknüpfung und ihre hiervon abhängige richtige Bewertung im Gesamtbewußtsein. Wollen wir unsere Kinder nach Möglichkeit davor bewahren, nervöse Menschen zu werden, so sollen wir sie dazu erziehen, ihre Affekte [S. 43] und Erregungen zu unterdrücken. Die Kinder sollen lernen, kleines Ungemach ohne viel Klagen zu ertragen, sie sollen ferner lernen, das geistig Wertvolle hochzuhalten, das geistig Wertlose nicht zu überschätzen und von dem Schlechten sich abzuwenden. Sie sollen Freude an einer geregelten nutzbringenden Arbeit gewinnen, Freude an der fortschreitenden Erkenntnis und Freude am Wohltun für andere, die der Hilfe bedürfen. Und wenn Sie mich fragen, welches der wirksamste Faktor bei einer solchen Erziehung ist, so kann ich hierauf nur antworten: das Beispiel, das die Eltern und Erzieher dem Kinde geben. Der bildsame und empfängliche Geist des Kindes paßt sich immer der Umgebung an, ahmt ihr Vorbild nach und formt sich nach den Eindrücken, die es alltäglich empfängt. Nicht immer sind die Kinder nervöser Eltern deshalb auch nervös, weil sie die Veranlagung zur Nervosität mit auf die Welt gebracht, sondern weil sie von klein auf nur Unruhe, Aufregung, Heftigkeit oder übertriebene Ängstlichkeit um sich gesehen haben. ­–

Ist auch die Art der körperlichen und geistigen [S. 44] Nahrung, die das Kind in seinen ersten Lebensjahren erhält, von besonders großem Einfluß auf seine ganze weitere Entwicklung, so bietet doch auch die spätere Lebenszeit genug äußere Einflüsse dar, welche die leibliche und seelische Konstitution beeinflussen. Schicksal und Lebenserfahrungen, Kummer und Sorge gehen nicht spurlos an dem Bewußtsein vorüber, sie rütteln oft genug an der Festigkeit seines Gefüges und dehnen schließlich ihre Wirkung auch auf das körperliche Gebiet aus. Direkt auf den Körper stürmen aber eine Menge Einflüsse ein, die in der besonderen Art der Lebensführung und der Lebensgewohnheiten liegen. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß mit der zunehmenden Kultur und dem zunehmenden Wohlstande einerseits die Bekämpfung der Krankheiten und die Schaffung hygienisch zweckmäßiger Lebensverhältnisse zunimmt, daß aber andererseits gerade der kulturelle Fortschritt vielfach mit dem enormen Anwachsen gewisser krankmachender Schädlichkeiten verbunden ist. Wie oft und nicht ganz mit Unrecht hört man über die rasche Abnützung des Körpers [S. 45] und des Geistes in dem rastlosen Getriebe der Gegenwart klagen, und wo die Kultur sich auf unkultivierte Naturvölker ausbreitet, hört man stets das Bedauern darüber, daß mit ihren Segnungen auch die Giftwirkungen ihrer Genußmittel ihren Einzug in die bis dahin unberührten Gebiete halten. Ein großer Fortschritt der öffentlichen Gesundheitspflege liegt darin, daß die große Bedeutung der gesundheitlichen Schädigungen durch die übermäßige Zufuhr der Genußmittel endlich allgemein anerkannt und die Wichtigkeit der hieher gehörigen Fragen nicht nur ins Bewußtsein der Ärzte gedrungen ist, sondern immer mehr und mehr sich auch das Verständnis der Laienkreise verschafft. Die Alkoholfrage, von der neuerdings so viel die Rede ist, ist nur ein Teil der höchst interessanten allgemeinen biologischen Frage, warum die Menschen allenthalben und seit den ältesten Zeiten den geradezu instinktiven Trieb nach der Aufnahme gewisser Stoffe haben, die keine Nahrungsmittel im eigentlichen Sinne sind, sondern, wie der Alkohol und die Bestandteile des Tabaks, des Kaffees, des Tees [S. 46] und zahlreicher anderer, nur weniger verbreiteter und daher weniger allgemein bekannter Pflanzenprodukte, eigentlich starke Giftwirkungen auf den Körper ausüben und daher eher von dem Körper instinktiv aufs ängstlichste gemieden werden müßten. Die Lösung dieses Widerspruches liegt, wenn ich nicht irre, in dem merkwürdigen biologischen Gesetz, daß eine geringe Schädigung unseres Körpers Ausgleichs- und Reaktionserscheinungen hervorruft, die den angerichteten Schaden nicht nur ersetzen, sondern über ihn hinausgehend einen vermehrten Stoffansatz und eine erhöhte Funktionsenergie bewirken. So kommt es, daß diese Stoffe, die man eigentlich als schädigende Gifte bezeichnen müßte, in den Ruf von Stärkungsmitteln kommen konnten, einen Ruf, den sie freilich nur unter großem Vorbehalt verdienen, da ihre vielleicht nützliche Reizwirkung sehr bald von der dauernden schädlichen Einwirkung weitaus übertroffen wird. Die Genußmittel, deren ursprüngliche Berechtigung somit nicht ohneweiters in Abrede gestellt werden kann, haben sich daher zu verderblichen Krankheitsursachen [S. 47] entwickelt, deren schädliche Folgen um so häufiger hervortreten, je mehr die fortschreitende Kultur das scheinbare Bedürfnis nach den genannten Reizmitteln wachruft und zugleich alle diese Genußmittel in immer mannigfaltigeren und verlockenderen Formen darbietet.

Von allen Genußmitteln spielen in praktischer Hinsicht die alkoholischen Getränke wohl weitaus die wichtigste Rolle. Die ärztliche Forschung hat mit Sicherheit eine ganze Reihe von Krankheitszuständen ermittelt, deren Entstehung auf eine längere Zeit fortgesetzte übermäßige Alkoholzufuhr in den Körper zurückzuführen ist. Hieher gehören namentlich  gewisse schwere Erkrankungen des Herzmuskels, ferner manche Erkrankungen der Nieren, der Leber und des Nervensystems. Die schädlichen Wirkungen des Tabaks, wobei es sich keineswegs nur um den Nikotingehalt des Tabaks handelt, treten zwar nicht so augenfällig hervor, wie die Folgen des chronischen Alkoholismus, sie dürfen aber auch keineswegs vernachlässigt werden. Ich bin davon überzeugt, daß [S. 48] ein nicht ganz geringer Teil der Erkrankungen an sogenannter Gefäßverkalkung (Arteriosclerosis) auf zu starkes Rauchen zurückzuführen ist. Kaffee und Tee sind unzweifelhaft viel unschuldigere Genußmittel, als Alkohol und Tabak. Sie rangieren deshalb aber auch merkwürdigerweise viel tiefer in der Reihe der Genußmittel, denen so viele Menschen Gesundheit und Wohlstand opfern. Vom starken Kaffee kann ich auch keineswegs behaupten, daß sein anhaltender Genuß für den Körper gleichgiltig ist. Namentlich das Herz kann hierdurch in manchen Fällen deutliche krankhafte Störungen erfahren.

So sehen Sie also, daß die diagnostischen Aufgaben des Arztes sich keineswegs darauf beschränken, krankhafte organische Zustände der einzelnen Teile des Körpers nachzuweisen, sondern daß der Arzt ebenso die gesamte Konstitution und vor allem auch das geistige Verhalten seines Kranken und die Beziehungen von dessen Vorstellungsleben zu den vorhandenen Krankheitszuständen berücksichtigen muß. Er muß ferner die ursächlichen [S. 49] Verhältnisse der Krankheit möglichst genau feststellen und hierbei zu unterscheiden suchen, was auf Rechnung äußerer Einflüsse kommt und wieviel von angeborenen konstitutionellen Verhältnissen abhängt. Nur bei einer derartig eingehenden Diagnosestellung wird der Arzt, soweit es überhaupt möglich ist, auch die Mittel zu einer richtigen und erfolgreichen Behandlung der Krankheit finden.

Unser ärztlicher Einfluß auf den Ablauf organischer Veränderungen im Körper ist – von den großen Erfolgen der Chirurgie abgesehen ­ – leider ein verhältnismäßig geringer. Daß so viele Krankheiten mit schweren anatomischen Störungen der inneren Teile doch schließlich vollständig heilen, ist weniger ein Verdienst der ärztlichen Kunst, als jener merkwürdigen natürlichen Ausgleichs- und Heilungsbestrebungen unseres Körpers, von denen ich schon vorhin gesprochen habe. Diesen natürlichen Heilfaktoren nachzuspüren und sie gewissermaßen als Vorbild und Leitfaden für unsere therapeutischen Versuche zu benützen, ist eine der Hauptaufgaben der medizinischen Forschung.

[S. 50] Schon erheblich erfolgreicher ist unser ärztliches Eingreifen da, wo es sich darum handelt, gewisse konstitutionelle Anomalien zu beeinflussen. Zwar sind unserem Einfluß auch hier bestimmte Grenzen gezogen, die sich namentlich auf die angeborenen Verhältnisse der Konstitution beziehen. Immerhin haben aber die Ärzte durch die Regelung der Lebensweise und vor allem durch die Veränderung der Gesamternährung des Kranken einschneidende Mittel in der Hand, den ganzen Chemismus des Stoffwechsels in sehr erheblicher Weise künstlich zu beeinflussen. Ja, gewisse interessante neuere therapeutische Versuche, wie insbesondere die Versuche mit der Darreichung von Schilddrüsensubstanz, haben sogar die Möglichkeit ergeben, direkt den Einfluß einzelner Organe auf den Gesamtbetrieb des Körpers in erwünschter Weise zu modifizieren.

Fast die wichtigste und erfolgreichste Beeinflussung, die dem Arzt möglich ist, betrifft aber das Vorstellungs- und Gemütsleben des Kranken. Wer die Häufigkeit der auf psychischem [S. 51] Wege entstandenen Krankheitszustände erkannt hat, wird die große Bedeutung anerkennen, die der richtigen Beeinflussung des Seelenlebens des Kranken durch den Arzt zukommt. Die sogenannte Psychotherapie hat sich daher zu einem wichtigen Zweige der modernen Medizin ausgebildet. In vielfach unbewußter Weise ist sie freilich schon seit Jahrtausenden von Ärzten aller Zeiten und Völker getrieben worden. Denn wie unendlich zahlreiche Heilungen, die vermeintlich durch die Heilmittel der ärztlichen Schulen oder durch allerlei absonderliche Wundermittel von Charlatans und Kurpfuschern bewirkt wurden, sind nur der Einwirkung der angewandten Mittel auf das Vorstellungsleben der Kranken zuzuschreiben. Erst neuerdings hat man angefangen, auch diese wichtige Seite der Therapie wissenschaftlich zu erforschen. Dabei läßt es sich freilich nicht leugnen, daß gerade die Psychotherapie manche bedauerlichen Auswüchse zutage gefördert hat. Ich will u. a. nur an die Überschätzung der Hypnose zu Heilzwecken erinnern. Hypnotisieren heißt, einen Menschen künstlich hysterisch [S. 52] machen, d. h. absichtlich solche Störungen in dem Bewußtsein eines Menschen und in den Beziehungen seines Bewußtseins zur Körperlichkeit hervorzurufen, die man sonst in genau gleicher Weise bei der Hysterie beobachtet. Eine Krankheit durch Hypnose behandeln, bedeutet also gewissermaßen, den Teufel durch Beelzebub austreiben. Man kann natürlich nicht leugnen, daß durch die hypnotische Behandlung zahlreiche gute Erfolge erzielt sind, allein genau dieselben Erfolge kann man auch auf andere, viel unbedenklichere Weise erzielen und jedenfalls ist die Hypnose stets eine zweischneidige Waffe, die in der Hand nicht genügend fachkundiger oder gewissenhafter Ärzte mehr Unheil, als Nutzen stiftet.

Ich bin am Ende meiner kurzen skizzenhaften Ausführungen angelangt. Meine Absicht war es, Ihnen zu zeigen, wie ungemein kompliziert und mannigfaltig die Tätigkeit des Arztes ist. Nicht nur in der Heilung schon bestehender Krankheiten, sondern ebenso in der allgemeinen Überwachung, Beurteilung und Beeinflussung der geistigen und [S. 53] körperlichen Gesundheit liegt die Hauptaufgabe des ärztlichen Standes. Das Wohl und das Gedeihen eines Staates hängt in erster Linie von der Gesundheit seiner Staatsangehörigen ab. In dem Kampfe der Nationen untereinander wird diejenige siegen, deren Mitglieder die an Leib und Seele gesündesten und somit tüchtigsten sind. Daher die nicht hoch genug anzuschlagende Verpflichtung des Staates um seiner selbst willen für gute Lehrer und für gute Ärzte zu sorgen. Hat man gesagt, daß der deutsche Schulmeister die deutschen Siege erfochten hat, so kann man ebenso sagen, daß an den Siegen eines Volkes auch die Ärzte nicht unbeteiligt sind. Und nun werden Sie verstehen, wenn ich auf die zu Anfang meines Vortrages gestellte Frage, wo denn eigentlich die Werkstätte des Arztes ist, antworte: die Werkstatt des Arztes ist das Volk!

[1] Vgl. den Vortrag des Verfassers „Nervosität und Erziehung“. Leipzig, F. E. W. Vogel.

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. Ausdrücke in runden Klammern stehen auch im Original in runden Klammern. Die in eckigen Klammern angegebene Zahl bezeichnet den Beginn der jeweiligen Seite des Originaltextes. Ebenfalls in eckigen Klammern stehen Ergänzungen des Bearbeiters. Offensichtliche Druckfehler und falsche Namensformen wurden berichtigt.)

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