Das Volkshochschulwesen

Titelvollanzeige

Autor/in:

Hartmann, Ludo Moritz

Titel: Das Volkshochschulwesen
Jahr: 1910
Quelle:

Dürerbund. 66. Flugschrift zur Ausdruckskultur, München 1910, S. 1-14.

[S. 1] Ziel

Jede Organisation muß nach ihrem Ziele beurteilt werden. Ihr Zweck ist zugleich ihr Maßstab. Der Zweck der Hochschulkurse ist es, Bildung zu verbreiten, und sie sind um so vortrefflicher organisiert, je vollständiger sie dieses Ziel erreichen. Es kann nicht unsere Absicht sein, Fachschulen zu errichten; denn für das unmittelbar Nützliche sorgt der Staat, weil es ihm unmittelbar Vorteil gewährt, schon jetzt in mehr oder weniger geeigneter Weise, und wir wollen keine Dubletten schaffen. Auch ist es nicht unsere Absicht, in erster Linie Kinder oder Halberwachsene heranzuziehen, sondern für diejenigen zu wirken, welche von Staats wegen das Zeugnis haben, daß sie für ihren Beruf genug gelernt haben und sich nun auf eigene Füße stellen können. Wir wollen also gerade das leisten, was der offizielle Staat bisher entweder übersieht oder bewußt vernachlässigt, obwohl es gewiß nicht minder wichtig ist, als der staatliche Befähigungsnachweis, und obwohl es noch in weit höherem Maße die ganze Persönlichkeit ergreift, ja der Persönlichkeit erst die Möglichkeit schafft, sich auszuwirken. Gerade dadurch können wir dem Staate die Wege weisen und den offiziellen Unterrichts-, Erziehungs- und Drillanstalten immer um einige Schritte voraus sein. Je Vortrefflicheres diese leisten mögen, umsomehr werden wir angespornt, unsere Organisation den besseren Vorbedingungen anzupassen und selbst noch Besseres zu leisten. Denn einen Schlußpunkt für die Entwicklung des freien Volksbildungswesens kann es nicht geben. Es mag einer zu einem technisch vollendeten Schuster erzogen werden können, aber zu einem vollständig gebildeten Menschen niemals. Hier gibt es nur Annäherungen an das [S. 2] Ideal. Nur das eine ist möglich, die Denkkräfte zu wecken, die in dem Menschen schlummern. Deshalb ist der Unterricht der Volkshochschulkurse nicht an ein bestimmtes Wissensgebiet gebunden. Alle Wissensgebiete sind ihm prinzipiell gleich wertvoll, denn an jedem kann die Übung im Denken gepflegt werden und nur darum handelt es sich, diese zu fördern, den einzelnen die Wege zu leiten, welche die Wissenschaft in jahrtausendelanger Forschung gegangen ist und ihn dadurch zu selbständigem Gedankengange anzuregen, es ihm zu ermöglichen, seine Gedanken der umgebenden Natur anzupassen, die Erfahrungen, die er und andere gemacht haben, zu ordnen und dadurch wirklich kennen zu lernen. Denn diese Denkfähigkeit, diese Anpassungsfähigkeit der eigenen Gedanken aneinander und an die Erfahrungswelt ist das Wesen der Bildung. Sie setzt freilich eigenes Nachdenken voraus und kann nicht mit dem großen Trichter eingeflößt werden. Sie ist deshalb auch individuell entwicklungsfähig und mannigfaltig. Wer aus den volkstümlichen Kursen nur totes Wissen nach Hause trägt, beweist, daß entweder ihm oder seinem Lehrer die Befähigung zu eigenem Denken fehlt. Gerade deshalb kann und darf es nicht die Absicht sein, dem Schüler eine bestimmte Weltanschauung einzuprägen, denn eine solche übertragene Weltanschauung beengt das eigene Denken und verhindert das, was des strebenden Menschen höchstes Ziel ist, die Bildung einer eigenen Weltanschauung. Deshalb muß von unserem volkstümlichen Unterricht alles ausgeschlossen werden, was häufig mißbräuchlich noch als Wissenschaft bezeichnet wird, aber eigentlich nur die Lehre eines bestimmten politischen, religiösen, wissenschaftlichen Glaubens ist. Für den Lehrer wie für den Hörer volkstümlicher Kurse kann alles, was in das Gebiet dieser Betrachtungsweise fällt, nur unter historischen und nicht unter absoluten Gesichtspunkten betrachtet werden, und es ist besser in dieser Beziehung zu vorsichtig, als zu kühn zu sein. Denn nur auf diese Weise kann das ärgste Produkt, das auf geistigem Gebiete erzeugt wird, vermieden werden, die Halbbildung, die sich dadurch auszeichnet, daß der unglücklich mit ihr Behaftete seine feststehende Ansicht hat, daß er alles zu wissen glaubt und doch nur einen Glauben an Stelle des Wissens besitzt, der blind macht gegen alles andere, der zur Überhebung führt und am weitesten entfernt ist von der Erkenntnis des Weisen, daß er nichts wisse, und von dem faustischen Drange, mehr zu erfahren und mehr zu wissen. Unbildung ist entwicklungsfähig, Bildung ist Entwicklung, aber Halbbildung ist Starrheit, Unbeweglichkeit.

Voraussetzungen

Um im Sinne echter Bildung wirken zu können, müssen allerdings für die Volkshochschulkurse gewisse Voraussetzungen gegeben sein, und je nach diesen Voraussetzungen wird sich ihre Wirksamkeit gestalten. Es ist nicht möglich, Menschen auf diese Weise weiter zu entwickeln, die nicht gewisse primitive Elemente des Wissens und der Erfahrung in sich aufgenommen haben, und Hochschulkurse, wie wir sie heute besitzen, wären unmöglich ohne die Grundlage der allgemeinen [S. 3] Volksschule; in ihr werden wenigstens diejenigen Elemente geboten, welche dem Schüler die Benützung der einfachsten Hilfsmittel ermöglichen, welche für die Verbreitung des Wissens zur Verfügung stehen: lesen und einem Vortrage in richtigem Deutsch folgen, sowie jene Begriffe verwenden zu können, deren sich das Kind schon bemächtigt. Nicht minder wichtig als die Volksschule ist die tägliche praktische Erfahrung, aus der ein jeder unwillkürlich lernt und an die er weitere ihm dargebotene Vorstellungen anreihen kann, so daß der richtige Lehrer anknüpfen kann sowohl an das in der Schule gewonnene Elementarwissen, als auch an die durch das praktische Leben vermittelten Erfahrungen. Je besser die Volksschule, je reicher die Erfahrung, desto dankbarer ist unter sonst gleichen Bedingungen die Aufgabe des Volkshochschullehrers. Sie ist geradezu verzweifelt nur da, wo die Volksschule nicht einmal die ersten Elementarkenntnisse vermittelt oder wo jegliche praktische Erfahrung fehlt.

Eine andere Voraussetzung müssen die Lehrkräfte erfüllen, und auch in dieser Hinsicht sind die lokalen Verhältnisse sehr verschieden. Nicht jeder eignet sich zum Volkshochschullehrer. Im allgemeinen ist der beste Forscher, der beste Lehrer und der beste Redner gerade gut genug für die ungeheuer schwierige Aufgabe, die ihm gestellt wird. Diese Kombination ist nun allerdings selten genug, und gerade der relativ beste Volkshochschullehrer wird sich immer am meisten bewußt sein, wie unzulänglich er seine Aufgabe erfüllt. Im allgemeinen wird daher nur dort ein Zentrum für die Volkshochschulkurse und überhaupt für intensivere Volksbildungsbestrebungen geschaffen werden können, wo eine große Anzahl von wissenschaftlich, pädagogisch, rednerisch geschulten Personen vorhanden ist. Also am ehesten in den Großstädten, in Universitätsstädten usw. Gewiß werden sich auch unter Mittel- und Volksschullehrern, unter praktischen Ärzten, Advokaten und Richtern gelegentlich oder auch häufig geeignete Personen finden. Doch wo zum Beispiel nur eine Mittelschule vorhanden ist, wird immer die Auswahl beschränkt sein, ja man wird es als Zufall betrachten können, wenn sich gerade für die wichtigsten Wissensgebiete, die am meisten interessieren und den größten Zuhörerkreis anlocken, die richtigen Personen finden. Gar leicht kann dann die Volksbildungstätigkeit, weil sie durch den Zufall bestimmt wird, einseitig sein, oder es werden die Anforderungen notwendig so stark herabgesetzt, daß die Vorträge ihre Anziehungskraft und ihre ernsthafte Wirkung verlieren. Schon aus diesem Grunde müssen sich kleine Intelligenz-Zentren an die großen anlehnen, um sich von ihnen entweder das ganze Lehrermaterial oder wenigstens die notwendigen Ergänzungen zu beschaffen.

Eine dritte, nicht minder wichtige Voraussetzung ist rein materieller Natur. Keine Schule, die auf möglichst breite Kreise wirken und allgemein zugänglich sein will, kann sich selbst erhalten, und eine Abhängigkeit von den Beiträgen der Hörer würde etwa folgende Zustände nach sich ziehen: Es könnten entweder nur Sensationsvorträge gehalten werden, die weniger durch ihren bildenden Wert als aus anderen Gründen weite Volkskreise heranziehen; oder, wenn hohe [S. 4] Eintrittspreise gefordert würden, verlören die Vorträge von vornherein ihren volkstümlichen Charakter und sänken zu gewöhnlichen, sogenannten „populären Vorträgen“ herab; diese würden vor einem Publikum gehalten, dem gewiß ebenfalls wissenschaftliche Anregung zu gönnen ist, das sich aber diese Anregung zum Teil auf andere Weise verschaffen kann, zum Teil mehr der Mode als des wirklichen Interesses wegen die Vorträge besucht. In diesem Falle ist auch die ungünstige Rückwirkung auf die Vortragenden nicht zu unterschätzen, die leicht geneigt sein können, das Vortragen mehr als eine Befriedigung persönlicher Eitelkeit denn als ernsthafte Arbeit an der Volksbildung zu betrachten. Es ist daher notwendig, zunächst auf privatem Wege Geldmittel zu beschaffen, durch welche die notwendigen Kosten der Organisation hereingebracht oder wenigstens das Defizit zwischen einem minimalen Eintrittspreise und den Erfordernissen gedeckt werden kann. Diese privaten Mittel müssen namentlich im Anfange von den bürgerlichen Mitgliedern solcher Organisationen durch Mitgliedsbeiträge und Spenden hereingebracht werden. Die finanzielle Lage wird auch dadurch erleichtert, daß Einzelvorträge vielerorts von den Vortragenden wohl unentgeltlich abgehalten werden, und man darf es nicht vergessen, daß diese freiwillige Arbeitsleistung der Vortragenden oft ein größeres Opfer bedeutet, als eine Geldspende oder ein Mitgliedsbeitrag. Der Wiener Volksbildungsverein hat in dem Vierteljahrhundert seines Wirkens seine Sonntagsvorträge, deren in jedem Winter zwei- bis dreihundert abgehalten werden, durchgeführt, ohne die Vortragenden zu honorieren, und er hat anderseits nur bei Konzerten und Rezitationen ein geringes Eintrittsgeld eingehoben. Doch kann auch eine solche auf Unentgeltlichkeit aufgebaute Organisation, auch unter den günstigen Umständen der Universitäts-Großstadt, wo zahlreiche Vortragskräfte zur Verfügung stehen, zweifellos nicht alles leisten, was die Hochschulkurse leisten sollen, sondern sie kann nur das Interesse für intensivere Bildungsarbeit im Publikum erregen. Einzelvorträge werden wohl in der Großstadt von vielen geeigneten Personen auch unentgeltlich abgehalten, allein es ist unmöglich, ein wirkliches Kurs- oder Unterrichtssystem auf die Unentgeltlichkeit aufzubauen, denn der Kreis derjenigen Personen, welche zugleich geistig und materiell in der Lage sind, eine so große Arbeit und so großen Zeitaufwand, wie sie die Durchführung eines oder mehrerer Kurse beanspruchen, unentgeltlich zu übernehmen, ist sehr eng. Deshalb hat der Wiener Volksbildungsverein zwar seinerzeit drei Jahre hindurch regelrecht honorierte Vortragskurse abhalten lassen, welche durch einmalige Spenden finanziert wurden, er war sich aber von vornherein dessen bewußt, daß diese Kurse gleichsam nur ein Wegweiser für eine spätere Organisation sein sollten. Denn auch die nicht honorierten Einzelvorträge legen den veranstaltenden Organisationen nicht unbeträchtliche Regiekosten auf; so die Kosten für die Bekanntmachung, für das Demonstrationsmaterial, für die Lokale nebst Beleuchtung und Heizung. Zum mindesten für diese letzteren Ausgabeposten sollte schon im frühesten Stadium der Vortragstätigkeit die Gemeinde [S. 5] aufkommen; so hat auch die Gemeinde Wien dem Volksbildungsverein für seine Sonntagsvorträge ihre Volksschulräume unentgeltlich zur Verfügung gestellt, bis die christlichsoziale Mehrheit des Gemeinderates dem Volksbildungsvereine die Räume entzog.

Sind diese drei Voraussetzungen: Elementarbildung der Bevölkerung, qualifizierte Lehrkräfte in genügender Menge und private Subventionen gegeben, so kann überall mit der Volksbildungsarbeit begonnen werden. Allerdings mehr in dem Sinne, daß das Terrain vorbereitet wird, als daß schon intensiv gearbeitet werden könnte. In Wien betrachten wir die Sonntagsvorträge des Wiener Volksbildungsvereines mehr als eine Vorbereitung und als ein Reizmittel, durch welches die Bevölkerung an die intensive Volksbildungsarbeit gewöhnt werden soll, da ja in einem Einzelvortrage vor einem nicht vorgebildeten Publikum Neugier und Wissensbegier mehr geweckt als befriedigt werden können. Ebenso bilden die Elementarkurse in den Arbeiterbildungsvereinen ‒ die in Österreich nicht nur der Zuwanderung der anderssprachigen Bevölkerung, sondern auch der Unvollkommenheit der Volksschulen wegen nötig sind ‒ die Voraussetzungen für die intensive Volksbildungstätigkeit; im gleichen Sinne ist etwa der in Dänemark und England wie neuerdings auch im Deutschen Reiche so ausgezeichnet organisierte Arbeiter-Unterricht durch Studenten aufzufassen, da sich die Studenten in weiser Selbstbeschränkung auf die Erteilung von Unterricht in den Elementen der verschiedenen Wissenschaften beschränken. Häufig wird der Arbeiter den Weg vom Elementarunterricht und von den Einzelvorträgen zu der intensiven Arbeit, die ihm Hochschulkurse zumuten, nicht direkt zurücklegen, sondern auf dem Wege durch die Volksbibliothek. Wenn er liest, wenn er nicht nur leichte und oberflächliche Belletristik, sondern ernsthafte Literatur liest, wird eine Unmenge von Problemen vor ihm auftauchen, die er auch an der Hand guter populärwissenschaftlicher Literatur nicht allein bewältigen kann, und er wird dann einen tiefgründigeren Unterricht herbeisehnen. In Wien haben sich neben den älteren, nicht so reichlich ausgestatteten und zum Teile einseitig ausgestalteten Bibliotheken der Arbeiterbildungsvereine die Volksbibliotheken des Volksbildungsvereines und des Vereines Zentralbibliothek parallel mit den Einzelvorträgen und den volkstümlichen Kursen entwickelt, und sie sind für die Vortragstätigkeit ebenso notwendig, wie umgekehrt die Vortragstätigkeit die Wirksamkeit der Volksbibliotheken ergänzt.

Organisation

Wenn der Boden vorbereitet ist, handelt es sich darum, ihn mit möglichst tauglichen Mitteln zu bearbeiten und Organisationen zu schaffen, welche hiezu imstande sind. Es wäre verfehlt, wenn die Schulorganisation zum Muster genommen würde; denn die Schule unterscheidet sich von den freiwilligen Bildungsorganisationen dadurch, daß sie beinahe durchaus Zwangsschule ist und im großen ganzen ein einheitlich vorgebildetes und gleichaltriges jugendliches Schülermaterial voraussetzt. Dagegen muß die freiwillige Volksbildungsorganisation alles Schablonenhafte vermeiden; sie darf nicht starr, [S. 6] sondern muß möglichst beweglich sein. Sie muß sich den Bedürfnissen des Ortes und der Bevölkerung, auf die sie wirken will, anpassen können: Einen Lehrplan aufzustellen wäre z. B. schon deshalb ganz verfehlt, weil sich die Hörer der volkstümlichen Kurse, welche von den verschiedensten Interessen ausgehen, nach den verschiedensten Seiten hin entwickeln wollen und können. Die ernsthaften Hörer der volkstümlichen Kurse weisen in der Zusammenstellung der Kurse, die sie hören, die mannigfachsten Kombinationen auf, und wenn wir der Ursache dieser Vielgestaltigkeit nachforschen, so wird man in der Regel finden, daß sie ihren guten Grund hat. Und gerade dieses individuelle Suchen für die Bildungsarbeit, die der einzelne an sich selbst leistet, ist von größtem Werte; und aus demselben Grunde, weil der erwachsene Mann, oder die erwachsene Frau, welche die volkstümlichen Kurse besuchen, schon ganz anders differenziert sind als Knaben und Mädchen der Volksschule, wäre es verfehlt, für die Pädagogik in den Hochschulkursen eine bindende Andragogik zu setzen, welche über allgemeinste Regeln hinausgehen würde. Lehrfreiheit und Lernfreiheit muß den Volksbildungsinstitutionen mit den Hochschulen gemeinsam sein. Der gute Lehrer der Hochschulkurse wird mit seinem Publikum Fühlung gewinnen, wie immer dieses Publikum auch beschaffen sei, er wird aber, um diese Fühlung zu gewinnen, in einem Arbeiterbezirke andere Mittel anwenden müssen, als in einem bäuerlichen Bezirke oder in einer bürgerlichen Landstadt; er wird deshalb nicht mit einem starren Vortragsplan vor seine Hörer treten, sondern in der Auswahl und in der Form seines Stoffes der Art seines Publikums entgegenkommen.

Diese enge Fühlung mit dem Publikum ist aber nicht nur für den Lehrenden selbst, sondern auch für die Organisation notwendig. Gerade weil sehr verschiedenartige Personen und Verhältnisse in Betracht kommen, ist es, um die Anpassungsfähigkeit der Organisation zu erhalten, notwendig, daß nicht alles am grünen Tische entschieden wird, oder daß wenigstens am grünen Tisch auch diejenigen Personen zu Worte kommen können, welche die Hauptinteressenten an den Hochschulkursen sind. In manchen deutschen Organisationen ist ja das Problem in der Weise gelöst, daß offizielle Vertreter der Gewerkschaften in der Leitungskommission Sitz und Stimme haben. Dort, wo die volkstümlichen Hochschulkurse einen festen Bestandteil der Universität bilden, kann dieser Weg nicht eingeschlagen werden. Man kann annähernd dieselben Ziele erreichen, wenn die Leitung, wie zum Beispiel in Wien, insbesondere mit den Arbeiterorganisationen in beständigem freundschaftlichem Verkehre steht. Wenn es sich um die Einrichtung eines Kurses außerhalb Wiens handelt, so wird zum Beispiel von den Arbeiterorganisationen einerseits und andererseits von den bürgerlichen Interessenten, etwa der Gemeinde selbst oder einem Zweigverein des Volksbildungsvereines usw., je ein Vertrauensmann ernannt, der nicht nur die örtlichen Vorbereitungen für die Kurse trifft, sondern in der Regel auch Vorschläge macht in bezug auf das zu wählende Vortragsthema. Auch in Wien selbst haben bis vor kurzem nicht nur die Gewerkschaftskommissionen [S. 7] und andere Arbeitervereine den Verkauf der Arbeiterkarten besorgt, wie dies auch auswärts üblich ist, sondern es wurde auch vor Festsetzung des jährlichen Programms eine Versammlung von Arbeitervertrauensmännern und Vertrauensmännern anderer Korporationen, die sich für Kurse interessierten, einberufen, welche ihre Wünsche in bezug auf die Gegenstände und die lokale Verteilung der Kurse vorbrachten.

Seit einem Jahre etwa ist dieses gemeinsame Vorgehen dadurch erleichtert, daß die Arbeiterschaft eine eigene zentrale Unterrichtsorganisation ins Leben gerufen hat, mit der die volkstümlichen Universitätskurse unmittelbar in Berührung treten.

Im Wiener Volksbildungsverein wiederum wird die Fühlung dadurch hergestellt, daß seit längerer Zeit in einzelnen Bezirken der Stadt Sektionen bestehen, welche im wesentlichen aus den die Einrichtungen des Volksbildungsvereines benützenden Mitgliedern bestehen und je einen Vertreter in den Ausschuß entsenden, wenn auch im ganzen der sozusagen bürgerliche Charakter des Ausschusses aufrecht erhalten worden ist. Im Volksheim dagegen ist schon durch die Statuten dafür gesorgt, daß Mitglieder aus allen Kreisen und von allen Parteischattierungen im Ausschusse sitzen; wie sich denn überhaupt bei einer örtlich beschränkten Bildungsarbeit, wie sie die Grundlage des Volksheims bildet, von selbst versteht, daß zwischen den Leitern und Lehrern und den lernenden Mitgliedern engste Fühlung besteht; dazu kommt die Einrichtung der Vertrauensmännerversammlungen, die sich sehr gut bewährt hat; es wird nämlich in jedem Kurs zu Beginn von den Hörern ein Vertrauensmann gewählt, welcher dazu bestimmt ist, die Wünsche der Hörerschaft einerseits dem Vortragenden, andererseits auch dem Ausschuß zur Kenntnis zu bringen. So ergeben sich die verschiedenartigsten Möglichkeiten, das Einreißen eines starren Bureaukratismus zu verhindern. Andererseits darf man aber nicht verkennen, daß bei allen derartigen Bestrebungen das Schwergewicht der geistigen Leitung bei den Lehrenden und Gebildeten liegen muß. Denn wenn auch die Hörerschaft den Lehrern selbstverständlich in anderer Beziehung als durchaus gleichwertig und gleichberechtigt angesehen werden muß, ja wenn sie sogar in bezug auf diese oder jene praktische Erfahrung manchem Gebildeten wesentlich überlegen ist, so fehlt ihr ja doch in der Regel die Kenntnis der Wege, auf denen sie sich geistig weiter entwickeln kann, und es ist gerade die Aufgabe der Gebildeten, diesen Weg ausfindig zu machen und auf diese Weise das allgemeine Bildungsbedürfnis der Masse zu befriedigen. Sehr häufig bemerkt man etwa, daß die konkret ausgesprochenen Wünsche der einzelnen Hörer oder auch der Vertrauensmänner gar nicht der allgemeinen Stimmung der Hörerschaft entsprechen, und jede gewissenhafte Leitung einer Volksbildungsorganisation wird erst nach mehrjährigem Suchen und Tasten unterscheiden können, was den wirklichen Wünschen entspricht, und dann das Ergebnis zu ziehen versuchen zwischen dem unbestimmten Drange der Hörerschaft und dem Bestreben nach wissenschaftlicher Systematik und Vollständigkeit. Auch in dieser Beziehung wird eine [S. 8] Volksbildungsorganisation in einer Großstadt am leichtesten arbeiten, weil sie, wenn sie vieles bietet, doch jedem etwas bietet; und wenn auch der Besuch der Kurse wesentlich von der Entfernung zwischen vortragslokalen und Wohnung oder Arbeitsstätte abhängig ist, bietet sich doch allen Bewohnern der Stadt wenigstens in der Regel die Möglichkeit, auch Kurse in entfernten Bezirken zu besuchen.

Wie für die Anpassungsfähigkeit der Volksbildungsorganisationen die Fühlungnahme mit den Schichten, für welche die Arbeit geleistet wird, eine Voraussetzung ist, so ist andererseits diese Fühlungnahme selbst bedingt durch die in politischer Beziehung objektive Haltung der Organisationsleitung. Der Volksbildungsverein hatte anfänglich in Wien große Schwierigkeiten zu überwinden, weil namentlich in der Zeit des Ausnahmezustandes die große Masse der organisierten Arbeiterschaft dem bürgerlichen Verein mißtrauisch gegenüber stand, und es ist bekannt, daß auch an anderen Orten diese Schwierigkeit besteht, keineswegs immer durch die Schuld der Arbeiterschaft, sondern mitunter auch deswegen, weil die Lehrer oder Leiter der Volksbildungsorganisationen sehr häufig, vielleicht im besten Glauben, ihre Aufgabe darin erblicken, die Hörerschaft zu einem bestimmten politischen, sozialen oder religiösen Glaubensbekenntnis, das sie für das richtige halten, zu bekehren. Der eine predigt gegen den Klassenkampf und für die Harmonisierung der Gesellschaft, der andere, hält es für seine Aufgabe, die marxistischen oder die liberalen oder die konservativen Lehren zu widerlegen. In anderen Staaten wieder kommt es vor, daß die Bildungseinrichtungen dem Zwecke dienen sollen, die Arbeiter, die noch nicht Sozialisten sind, zum Sozialismus oder zu einem bürgerlichen Radikalismus zu bekehren. In Wien haben klerikale Vereine eine Zeitlang versucht, klerikale oder christlichsoziale Gesinnung auf dem Wege der sogenannten Volksbildung zu verbreiten und dadurch den objektiven Vereinen, oder wie sie sie nennen: liberalen Vereinen, Konkurrenz zu machen. Sie haben aber ihre Tätigkeit sehr bald einschränken oder einstellen müssen ‒ ebenso wie es sich bei den klerikalen Bibliotheken gezeigt hat, daß sie entweder Bücher von allen Parteirichtungen einstellen mußten oder aber keine Leser fanden. Der gesunde Sinn der Bevölkerung findet es eben sehr bald heraus, wenn der Lehrer, der vorgibt, ihn in einer Wissenschaft zu unterrichten, statt dessen Propaganda treibt. Auch der Klerikale geht zwar in die Wählerversammlungen seiner Partei, wenn er sich aber unterrichten will, geht er zu einem Lehrer, zu dessen Objektivität er Vertrauen hat, und von dem er allerdings auch erwartet, daß er ihm sein politisches Glaubensbekenntnis ungeschoren läßt. Es ist aber nicht zu leugnen: Die Forderung nach Objektivität ist mit am schwersten zu erfüllen und erfordert von dem Vortragenden die größte Selbstzucht. Gerade deshalb ist die Auswahl der Gegenstände sowohl wie der Lehrer besonders verantwortungsvoll. Die Statuten der volkstümlichen Unterrichtskurse in Wien enthalten folgenden Satz: „§ 2. Gegenstand der volkstümlichen Universitätsvorträge sind alle Wissensgebiete, die sich zur volkstümlichen Darstellung eignen, doch sind Vorträge über jene Fragen, auf die sich die politischen, religiösen [S. 9] und sozialen Kämpfe der Gegenwart beziehen oder deren Behandlung zu Agitationen Anlaß geben könnte, ausgeschlossen.“ Und diese Bestimmung ist immer strenge eingehalten worden, denn es gibt in der Tat eine große Anzahl von Gegenständen, welche zwar nach dem üblichen Sprachgebrauche „wissenschaftlich“ behandelt werden, bei denen aber die Gefühls- und Glaubensmomente des Vortragenden in der Regel so stark sind, daß die Pflicht strenger Objektivität kaum verlangt und beinahe niemals geleistet werden kann. Eine gewisse Bürgschaft aber für die parteilose Wissenschaftlichkeit kann am ehesten dadurch gegeben werden, daß in der Leitung der Volksbildungsorganisation entweder nur Personen sitzen, die gewöhnt sind, wissenschaftlich zu forschen und zu lehren, wie es zum Beispiel in der Leitung der Wiener volkstümlichen Universitätskurse der Fall ist, oder aber, wenn in der Leitung einer Organisation Personen der verschiedensten Parteizugehörigkeit einträchtig miteinander arbeiten. Dies ist zum Beispiel der Fall im Ausschusse des Volksheims, in welchem außer sozialdemokratischen Reichsratsabgeordneten, Gewerkschaftsvertretern und einfachen Arbeitern auch liberale Professoren und Dozenten, Fabrikanten und Kaufleute, sowie Kleinbürgerliche sich zusammenfinden; auch ein Professor der katholischen Theologie hat zeitweise an den Arbeiten des Volksheimausschusses teilgenommen. Nur Parteien, welche prinzipiell jeder Bildungsarbeit feindlich gegenüberstehen, schließen sich selbst von der Teilnahme aus.

Fortschritte

Wenn alle die besprochenen Voraussetzungen und materiellen und organisatorischen Vorbedingungen gegeben sind und es sich herausgestellt hat, daß der Boden genügend geebnet ist, tritt an den Volksbildner die Aufgabe heran, die Bürgschaft dafür zu schaffen, daß seine Organisation eine dauerhafte wird und nicht von den Zufälligkeiten abhängig bleibt, denen sie ausgesetzt ist, wenn sie auf den guten Willen einer Anzahl wohlgesinnter Personen angewiesen bleibt. In dieser Dauerhaftigkeit liegt einer der großen Fortschritte der Organisation der in Österreich bestehenden volkstümlichen Hochschulkurse. Dadurch, daß die volkstümlichen Hochschulkurse organisatorisch den einzelnen Universitäten eingegliedert wurden, nicht nur durch Personalunion, sondern juristisch mit der Universität verbunden sind, haben sie den Anspruch auf dieselbe Dauer und die Sicherheit für ihr ungestörtes Wirken, wie die Universität selbst; wie die Universitäten in erster Linie vom Staate erhalten werden, so auch die volkstümlichen Universitätskurse. Ursprünglich war der Regierungszuschuß derart, daß die sämtlichen Kosten für die Vortragshonorare aus dieser Summe bestritten werden konnten, und wenn auch die Erhöhung dieses Zuschusses mit der Entwicklung der Vortragstätigkeit nicht gleichen Schritt gehalten hat, so steht doch das Prinzip, daß die volkstümlichen Universitätskurse vom Staate erhalten werden sollen, unwandelbar fest. Es wird auch nicht dadurch durchbrochen, daß für die volkstümlichen Universitätskurse Eintrittsgelder, wie für die Kollegien Kollegiengelder, erhoben werden, und daß einzelne Kurse [S. 10] auf Stiftungen beruhen, ebenso wie die Universität für andere Zwecke Stiftungen entgegennimmt. Zu dieser materiellen Sicherheit des Bestandes gesellt sich die geistige, welche dadurch gegeben ist, daß der Lehrkörper der Universitäten, der zugleich der Lehrkörper der volkstümlichen Universitätsvorträge ist, sich beständig neu ergänzt, und daß die Universitäten als die höchste Stelle der Forschung und der Lehre im Staate zu gleicher Zeit die größtmögliche Sicherheit bieten für die Wissenschaftlichkeit, d. h. also auch für die Objektivität der volkstümlichen Universitätsvorträge.

Allerdings muß gerade in gebildeten Kreisen, welche für die Volksbildungsarbeit sehr wichtig sind, eine gewisse Staatsscheu, ein gewisses Mißtrauen, welches nach den Vorgängen der letzten Zeit nicht unberechtigt erscheint, überwunden werden, und es muß vermieden werden, daß die unumgänglich notwendige Unabhängigkeit der Volksbildungsorganisationen etwa zur Erlangung anderer Vorteile aufgegeben wird. Allein wenn man zugibt, daß private Vereinigungen niemals die Sicherheit für ihre Dauer und auch nicht die Sicherheit für ihre Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen auf die Dauer in sich tragen können, daß vielmehr auch bei ihnen eine Abhängigkeit von der zufälligen Gruppierung der Mitglieder, von den Geldgebern, ja selbst vom Staate eintreten kann, so wird man zugestehen müssen, daß die Selbständigkeit der Universitäten auch heutzutage die denkbar größte Sicherheit für die Unabhängigkeit der Volksbildungskurse bedeutet und es als ein Anzeichen der Entwicklungsfähigkeit unserer Volksbildungsorganisationen betrachten, wenn auch sie sich, wie die Universitäten selbst in früheren Zeiten, aus privaten Körperschaften zu selbständigen Gliedern des Staates entwickeln. Die Organisation der Wiener und der ihnen nachgebildeten volkstümlichen Universitätskurse ist aber derartig, daß die staatliche Verwaltung direkt auf sie keinen wie immer gearteten Einfluß ausüben kann. Der leitende Ausschuß, der aus dem Senate und den Fakultäten gewählt wird, ist ein selbständiges Glied der Universität. Der Rektor der Universität vertritt den Ausschuß gegenüber den Behörden; der Ausschuß verfügt frei über den staatlichen Zuschuß und seine übrigen Einnahmen, bestimmt die Vortragenden und die Vortragsgegenstände und ernennt seine ausführenden Sekretäre mit Zustimmung des Senates. Die Selbständigkeit des Ausschusses für volkstümliche Universitätsvorträge könnte nur angetastet werden, wenn die Selbständigkeit der Universitäten selbst beeinträchtigt würde.

Nutzen für die Universitäten

Ein anderer Vorteil, welchen die Angliederung der volkstümlichen Kurse an die Universität mit sich bringt, ist, daß dadurch der Staat prinzipiell anerkennt, daß es seine Aufgabe ist, nicht nur für die Schulen im bisherigen Sinne, sondern auch für das Volksbildungswesen Vorsorge zu treffen, wenn die Entwicklung soweit fortgeschritten ist, daß an dem Bedürfnis danach kein Zweifel mehr bestehen kann; ein Vorteil, der mit Rücksicht auf die Weiterentwicklung des Volksbildungswesens und seine Ausbreitung nicht unterschätzt werden darf, [S. 11] so sehr sich auch in absehbarer Zeit der Staat vermutlich dagegen sträuben wird, seinen Haushalt allzusehr mit derartigen wirklich produktiven Ausgaben zu belasten. Der Staat erkennt aber auch ferner prinzipiell an, daß die Leitung der Volksbildungseinrichtungen, wenn sie aufgehört haben Privateinrichtungen zu sein, am besten durch eine selbständige Stelle, zum Beispiel durch die Universitäten, besorgt wird. Andererseits ist es auch kein Zweifel, daß den Universitäten selbst kein Schaden aus der Übernahme dieser neuen Aufgabe erwächst, sondern daß sie vielmehr innerlich und äußerlich aus ihr Gewinn ziehen. Keinem scharfen Beobachter konnte es entgehen, daß die Wiener Universität erst durch die Einrichtung der volkstümlichen Universitätskurse wirklich populär geworden ist und heute von der überwiegenden Mehrzahl der Wiener Bevölkerung nicht mehr als eine Einrichtung zur Erziehung der privilegierten Klassen, sondern als eine gemeinsame Angelegenheit aller Volksschichten betrachtet wird. Das bedeutet nicht etwa einen äußerlichen Eitelkeitserfolg, sondern weit mehr; in unserer demokratischen Zeit ist es bedeutungsvoll genug, wenn weite Kreise an den Universitätsangelegenheiten teilnehmen und die Forderungen der Universität und ihre Rechte als eigene Angelegenheit betrachten. Aber nur eben durch volkstümliche Universitätskurse ist es möglich, die Achtung nicht nur vor der Wissenschaft im allgemeinen, sondern auch speziell vor der Forschung und dem wissenschaftlichen Wirken der Hochschulen zu verbreiten. Umgekehrt ist es ebensowenig zweifelhaft, daß die Universitätslehrer selbst durch ihre Beschäftigung mit dem volkstümlichen Vortragswesen mannigfache Anregung erhalten. Es gibt für den jungen Dozenten keine bessere Schule klaren Vortrages und klarer Anordnung, keine bessere Art, in der er zu der Erkenntnis von der Relativität unserer wissenschaftlichen Ausdrucksweisen kommen könnte, als die volkstümlichen Universitätskurse; auch daß er gezwungen ist, aus seinem vielleicht kleinen Spezialgebiet herauszutreten und größere Wissensgebiete zu umspannen, ist für seine Entwicklung nur ein Vorteil. Der Sinn für das Wesentliche wird durch nichts so sehr entwickelt, als wenn man gezwungen wird, mit der Zeit seiner Zuhörer ökonomisch vorzugehen, und der Sinn für die Anschaulichkeit durch nichts so sehr wie durch den Zwang, Personen, welche abstraktes Denken nicht gewohnt sind, Ergebnisse der Forschung und ihre Bedeutung darzulegen. Neben diesem inneren Gewinn dürfen aber auch nicht die äußeren Vorteile unterschätzt werden, welche namentlich bei einer noch größeren Entwicklung des volkstümlichen Hochschulwesens daraus erwachsen, daß den zahlreichen unbesoldeten oder schlecht besoldeten jüngeren Gelehrten, auf welchen die Zukunft der Wissenschaft beruht, durch die Kurshonorare eine mitunter nicht unbeträchtliche Steigerung ihrer Einnahmen gewährleistet wird.

Fortsetzungskurse

Natürlich entwickelt sich die Organisation der volkstümlichen Universitätskurse aus sich selbst heraus immer weiter und stellt sich immer neue Aufgaben, sofern sie überhaupt anpassungsfähig ist; schon weil viele Hörer, nachdem sie alle Kurse des sie interessierenden Fachgebietes [S. 12] gehört haben, eine weitere Fortsetzung ihrer Studien und Anregungen wünschen, müssen immer neue Wissensgebiete herangezogen werden, und wenn ein Grundstock von Hörern vorhanden ist, welche im allgemeinen über ein gewisses Gebiet orientiert sind, wird es erwünscht, ja notwendig sein, Kurse für gewisse wichtige Sondergebiete einzuführen, sogar auf die Gefahr hin, daß die Hörerzahl nicht allzugroß ist. Andererseits wird vielfach der Rahmen eines Kurses von sechs Abenden zu enge werden, und man wird eine größere Anzahl zu einer Reihe zusammenlegen. In Wien sind solche Kursreihen, welche zum Beispiel das ganze Gebiet der Anatomie, der Astronomie, Physik oder Weltgeschichte usw. umspannen und im Laufe von vier bis sechzehn Reihen zu sechs Abenden in der Zeit von ein bis vier Jahren abgehalten werden, heute schon die Regel.

Arbeitsteilung

Auch die Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Volksbildungsorganisationen und ähnlichen Bestrebungen wird allmählich Fortschritte machen, ohne daß der Zusammenhang zwischen ihnen gelockert wird. In Wien hat sie sich ganz von selbst ergeben, so daß die verschiedenen Korporationen heute schon reibungslos nebeneinander arbeiten und sich gegenseitig ergänzen. Die Elementarkurse können selbstverständlich nicht von der Universität besorgt werden; sie obliegen den Arbeiterbildungsvereinen, dem Volksheim und hoffentlich auch bald den Studentenorganisationen. Die vorbereitende Tätigkeit der Einzelvorträge sowie der künstlerischen Erziehung durch Konzerte und Rezitationen obliegt im wesentlichen dem Volksbildungsverein. Die Tätigkeit, die außerhalb der engen Sphäre der allgemeinen Volksbildung liegt, weil sie auch auf das politische Gebiet übergreift, die politische Erziehung, ist den Arbeitervereinen, d. h. heute der Unterrichtsorganisation der Arbeiterschaft, überlassen oder anderen politischen Organisationen anderer politischer Parteien, wenn solche existieren. Dagegen haben die Arbeitervereine auf den wissenschaftlichen Unterricht im engeren Sinne verzichtet, nicht nur weil es ihnen als politischen Vereinen erfahrungsgemäß an der notwendigen Anzahl geeigneter Dozenten fehlt, sondern auch weil sie es jetzt selbst vorziehen, sich auf die politisch erzieherische Tätigkeit zu beschränken, eben auf diejenige, welche nach § 2 der Statuten von den volkstümlichen Universitätskursen ausgeschlossen ist. Ebenso wird der große Zweig der Volksbildungstätigkeit, der durch Volksbibliotheken und Lesehallen, kurz das Buch, wirken will, selbständig behandelt.

Die eigentliche Volkshochschule

Aber sicherlich ist auch hier noch nicht der Endpunkt der organisatorischen Entwicklung erreicht. Alles drängt nach einer fortschreitenden Vertiefung der Volksbildungstätigkeit und nach einer der Arbeitsteilung entsprechenden Zusammenfassung und gegenseitigen Ergänzung. Der Einzelne will nicht nur durch Hören lernen, sondern durch eigene Betätigung auf dem Gebiete, das er sich oft nach langjährigem Suchen erwählt hat, wirken. Er wünscht auch, daß das Gehörte durch eigenes Lesen ergänzt wird, und daß er seine Zweifel und Fragen durch [S. 13] persönliche Aussprache mit dem Lehrer klären kann, was doch in genügender Weise nur im kleinen Kreise möglich ist. Ähnlich, wie zu den Kollegien an den Universitäten die Laboratoriumsarbeiten und Seminarien im modernen Unterrichtsbetriebe hinzutreten und teilweise schon die erste Stelle einnehmen, muß es auch bei den Volkshochschulen sein, und erst aus dieser Verbindung der Volksbildungstätigkeiten erwächst die eigentliche Volkshochschule, die hier in Wien durch das Volksheim repräsentiert ist, während eine zweite derartige Anstalt, das Volksbildungshaus, erst zum Teile vollendet ist. Die wesentlichen Bestandteile dieser Hochschulen sind also die Kurse, und zwar die volkstümlichen Universitätskurse, die dort gehalten werden, ebenso wie die sie ergänzenden Elementar-, Sprach- und anderen Unterrichtskurse, ferner die Laboratorien, Kabinette und Seminarien oder Fachgruppen und ferner die Bibliotheken, welche sich von Volksbibliotheken im wesentlichen dadurch unterscheiden, daß sie rein wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Inhaltes sind. Eine Ergänzung kann eine Lesehalle und eine Volksbibliothek bilden.

Allerdings sind zur Errichtung solcher Volkshochschulen große Mittel erforderlich, die bei dem heutigen Stande der Dinge leider nur auf privatem Wege aufgebracht werden können. Denn zum Betriebe einer Volkshochschule bedarf es großen stehenden Kapitales, eines Gebäudes, der Laboratoriumseinrichtungen usw., gerade so wie bei den staatlichen Hochschulen die sachlichen Erfordernisse eine immer größere Rolle spielen. Die allgemeinen Grundsätze der Organisation müssen aber hier dieselben sein, die oben entwickelt worden sind: Anpassungsfähigkeit, engste Fühlung zwischen Lehrenden und Lernenden, Leitern und Benutzern, und vollständige Parteilosigkeit. Aber dieselben Gründe, wie bei den volkstümlichen Hochschulkursen, sprechen auch hier dafür, daß der Staat die Volkshochschulen übernehmen muß. Allerdings mag man das als Zukunftsmusik betrachten, allein ebenso zweifellos es ist, daß in einer Stadt wie Wien zum Beispiel nicht anderthalb Volkshochschulen genügen, sondern mindestens ein halbes Dutzend notwendig wäre, um auch nur dem heutigen Bedürfnisse entgegenzukommen; ebenso sicher ist es, daß es kaum möglich sein wird, auf privatem Wege sechs halbe Millionen Kronen für die notwendigen Gebäude und sechsmal fünfzig bis achtzigtausend Kronen für die jährlichen Erfordernisse aufzubringen. Auch hier kann also das private Vorgehen nur bahnbrechen; das Ziel bleibt, daß die Volkshochschulen als selbständige Körperschaften, ebenso wie die Universitäten, vom Staate unterhalten werden. Dabei muß allerdings betont werden, daß für die Volkshochschulen die Selbständigkeit eine der wichtigsten Existenzbedingungen ist und daß zweifellos, wenn der Staat sie einmal bureaukratisch regeln wollte, dies das Ende ihrer Wirksamkeit wäre. Aber eine vom Staate erhaltene Volkshochschule mit dauernd angestellten Volksprofessoren im Zusammenhang mit der Universität ist zweifellos der Idealtypus der Volksbildungseinrichtungen der Zukunft. Er wird ebenso von Dauer sein, wie der Typus der deutschen Universitäten, wenn er nicht bureaukratisiert wird, sondern [S. 14] anpassungsfähig bleibt; denn dadurch wird es der Volkshochschule ermöglicht werden, ebenso wie die Universitäten zu immer stärkerem Betrieb der Forschung fortschreiten, so durch immer größere Anpassung an den hoffentlich immer mehr steigenden Bildungsstand des Volkes stets dem Bildungsbedürfnis der Zeit entgegenzukommen und die demokratische Schwester der Hochschulen zu bleiben. Denn wenn man sich auch vorstellt, daß die Schulpflicht immer mehr verlängert wird, daß der Schulunterricht immer eindringlicher wird, so wird doch niemals der menschliche Geist da stehen bleiben wollen, wohin ihn der Schulunterricht geführt hat, und der Erwachsene wird immer den Drang nach Weiterbildung in sich tragen. Der Staat aber wird so lange seine elementaren Plichten nicht erfüllt haben, bis er nach seinen Kräften die Mittel beigestellt hat, um auch den Menschen, die ihr Leben nicht der Wissenschaft widmen können, die großen geistigen Freuden und die geistige Befriedigung zu gewähren, die sie vom Leben verlangen.

Anmerkung: Statt irgendwelcher Literatur verweise ich [Ludo Moritz Hartmann, Anm. Red.] auf die Jahresberichte des Wiener Volksbildungsvereines, der volkstümlichen Universitätskurse und des Volksheims.

 

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