Die Bedeutung der Technik und der Chemie

Titelvollanzeige

Autor/in:

Grossmann, Richard

Titel: Die Bedeutung der Technik und der Chemie
Jahr: 1948
Quelle:

Mitteilungen des Wiener Volksbildungsvereines, 1948, H. 7, S. 1-3.

[S. 1] Während Sage und Geschichte erfüllt sind von kriegerischen Taten vergangener Jahrtausende, kündet kein Lied von jenen Heroen des menschlichen Geistes, welche um das Walten und die Geheimnisse der Natur wußten. Dies mag um so schmerzlicher empfunden werden, als die spärlich vorhandenen Fragmente schließen lassen, zu welcher Höhe des intuitiven Denkens die Kulturen des vorderen Orients und die hellenische Antike vorgedrungen waren. In tiefes Dunkel gehüllt, vom Zauber der Sage umwoben sind auch die Anfänge der technischen Wissenschaften und der Chemie. Der feuerspendende Genius des Prometheus und Hephaistos, welcher den Menschen die Kunst der Bearbeitung des Eisens lehrte, wurden schon in vorhomerischer Zeit unter die Himmlischen versetzt. Aber auch historische Persönlichkeiten der hellenischen Blütezeit sind wohl kaum mehr als dem Namen nach bekannt. Von Pythagoras aus Samos dürfte vielen nur der nach ihm benannte Satz der Geometrie geläufig sein, während seine Meditationen über die Zahl und das Wesen der Dinge ihn weit über die Grenzen dessen hinausführten, was wir heute erfassen können. Mathematik und Naturerkenntnis wiesen diesen umfassenden Geist in gerader Richtung zur Technik, und moderne Ausgrabungen legen beredtes Zeugnis ab von den technischen Großleistungen seiner Epoche. Daß Geisteskultur und Technik in gleicher Weise in den Küstenstrichen des Ägäischen Meeres ihre erste Blütezeit erlangten, hat seinen Grund in der freien, demokratischen Verfassung jener griechisch-kleinasiatischen Stadtstaaten, die Handel und Gewerbe begünstigte. Dieses in gegenseitigem Wettstreit aufstrebende Volk von Arbeitern, Bauern und Kleinbürgern, welches die Sklaverei und die Verachtung der technischen Berufe noch nicht kannte, bedurfte notgedrungen der Hilfe, die ihm die Kräfte der Natur boten. Der Despotismus hingegen konnte auf diesen wunderbaren Helfer verzichten; denn die Arbeitskraft des hungernden Sklaven ist billiger als die Erfassung der in der Erde schlummernden Energien. Und in den folgenden 2000 Jahren, in denen erbittert gegen Leibeigenschaft [S. 2] und Sklaverei, um die Freiheit des Menschen und die soziale Struktur der Welt gekämpft wird, machen daher Chemie und Technik nur zage Fortschritte. Wie auch heute oft, ist nicht der Gedanke der sozialen Besserstellung, die Hebung des geistigen Menschentums, sondern der Krieg die treibende Komponente. Aber dann beginnt der märchenhafte Siegeszug des 19. und 20. Jahrhunderts, den nur der Techniker selbst, der an diesem steten Entwicklungsgang teilnimmt, in seiner ganzen Größe erfassen kann.

Archimedes und Heron von Alexandria kannten bereits die Spannkraft des Dampfes, doch erst die Neuzeit schuf aus der physikalischen Apparatur die Maschine, die den Menschen der Bergwerke im Kampf gegen das Grubenwasser unterstützt, des Landmannes Arbeit erleichtert und die Völker des Erdballs verbindet. Die alten Völker des Orients und des Fernen Ostens wussten von der geheimnisvollen Kraft des Magnetismus und der Elektrizität zu berichten, aber erst unser Jahrhundert weiß diese Naturgewalt in einem Maße zu verwerten, daß man das ganze Säkulum mit ihrem Namen verbinden möchte. Und Hand in Hand mit den Fortschritten der Technik weitet sich der Horizont des Naturforschers ins Unermeßliche, sei es bei der Betrachtung der Unendlichkeit des Alls oder beim Studium der unsichtbaren Welt der Atome. Das Elektron, noch vor Jahrzehnten ein transzendenter Begriff, an den sich der Forscher im Streben nach Anschaulichkeit klammerte, gewinnt Realität, ersteht plastisch vor unseren staunenden Sinnen – und wird der treue Helfer des Erfinders. Tausende und aber Tausende automatische Maschinen verrichten mit nicht zu übertreffender Präzision die Arbeit vieler Hände; die Elektronenröhre, welche sie steuert, hat die Arbeit des menschlichen Denkapparates übernommen. In ihren Laboratorien bannen Ärzte und Biologen im Kampf gegen den Tod bisher unbekannte Krankheitserreger vor ihr Auge; das technische Wunder, welches dies bei 40.000facher Vergrößerung möglich macht, ist das Elektronenmikroskop. Noch ist das Zeitalter der Atomenergie nicht angebrochen; späteren Generationen wird es vorbehalten sein, darüber zu sprechen, nämlich jenen Menschen, die imstande sein werden, die in der Materie vorhandenen Energieäquivalente mit Maß zu beherrschen und sich zu der moralischen Kraft durchzuringen, diese nicht zur Vernichtung der Völker, sondern im Sinne des Humanitätsideals zu formen. Denn die wahre Bedeutung der Technik ist zu suchen in einem edlen Wettstreit der Ideen und Arbeitsmethoden, der wohl ganze Völker erfassen mag, aber nur ein Ziel kennt, die Gesamtheit zu unterstützen im Kampf ums tägliche Brot und die Schätze der Erde zu erschließen.

In diesem Zusammenhang verdienen auch die Leistungen der Chemie besonders gewürdigt zu werden. Ursprünglich aus dem Wunsch nach Macht und Gold geboren, schafft sie heute die Mittel, deren die Industrie bedarf. Es mag einigermaßen paradox klingen, wenn wir bemerken, daß das letzte Problem der Alchemie – aus unedlen Stoffen Edelmetalle herzustellen – dank den Erkenntnissen der Radium- und Atomforschung kaum mehr unlösbar erscheint. Das Problem selbst aber hat nur mehr historischen Reiz; denn die Chemie hat sich auf anderem Gebiet ihren Platz erobert. Stahl, Aluminium und Kupfer sind die Edelmetalle unserer Zeit, ihnen reihen sich an Bakelite und Kunstfasern. Die Kontinentalsperre Napoleons hat die englische Schafwollindustrie erzwungen, der erste Weltkrieg die deutsche Salpeter- und Kunstdüngemittelindustrie und aus der Not des letzten Weltenbrandes heraus sind all die mannigfachen Eiweißsubstitutions- und Kunstharzprodukte entstanden, welche anfangs scheel angesehen, heute kaum mehr als Ersatz-, sondern vielmehr als hochwertige Austauschstoffe an Stelle der immer mehr schwindenden natürlichen Bodenschätze zu gelten haben. Und oft wird der Konstrukteur elektrischer Geräte vielleicht aufatmend [S. 3] in der Verwendung von Hartpapier die willkommene Lösung finden, welches gleichwertig, ja wegen seiner isolierenden Eigenschaften überragend an die Stelle des metallischen Werkstoffes tritt. Doch auch in unser Leben hat die Chemie in Notzeiten durch die Herstellung hochwertiger künstlicher Nahrungsmittel entscheidend eingegriffen. Es sei nur an die Holzverzuckerung und die Hydrierung fetter Öle erinnert. Geradezu undenkbar hingegen wäre die Medizin, würde sie nicht der Segnungen der Laboratoriumsarbeit teilhaftig werden. Man denke nicht bloß an die lebensrettenden Sulfonamide und Penicillin; nein, viel gewaltiger noch erscheint die Erfindung des Chloroforms und der Barbitursäurederivate, wenn wir uns nur vergegenwärtigen, unter welch grauenvollen Umständen das Mittelalter die schwierigsten Operationen durchgeführt hat. Fast möchte man glauben, daß die Mär vom Stein der Weisen ihre Verwirklichung gefunden hat. Denn in der Eiweißforschung sind Biologie, Physiologie und Chemie im gemeinsamen Zusammenwirken in ein Gebiet vorgedrungen, welches, die Grenzen der belebten und der unbelebten Welt berührend, in Kürze imstande sein wird, das größte Geheimnis der Natur, das Rätsel des Lebens, einer Lösung zuzuführen.

Es kann natürlich nur schwerlich gelingen, all’ die Schöpfungen von Chemie und Technik, welche auf mehr als zwei Jahrtausende zurückgreifen, in kurzen Worten zu würdigen. In dieser Erkenntnis hat sich die Volkshochschule die Aufgabe gestellt, in Kursen und Vorträgen eines der herrlichsten Wissensgebiete der Allgemeinheit zu erschließen.

 

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