Wissenschaft und Volksbildung

Titelvollanzeige

Autor/in:

Berthelot, Marcelin

Titel: Wissenschaft und Volksbildung
Jahr: 1900
Quelle:

Das Wissen für Alle. Volksthümliche Vorträge und populär-wissenschaftliche Rundschau, 1. Jg., 30. Dezember 1900, H. 1, S. 1-4.

[S. 1] Der Krieger und der Priester waren vordem die zwei Hauptpfeiler des socialen Gebäudes. Die arbeitende Masse, auf welcher das ganze Gewicht desselben lastete, so sagte man damals, verrichte Knechteswerk. Daher waren bis auf unsere Tage die Macht und die Religion die zwei leitenden Principien der menschlichen Gesellschaft. Die Macht garantirte die materielle, die Religion die moralische Ordnung. Beide, die Macht sowohl als auch die Religion strebten die immerwährende Stabilität des Bestehenden an, welches als ein bleibender Zustand erklärt wurde. Feindlich jeder materiellen Veränderung sich entgegenstellend, hielt die Macht die Ausbeutung der Masse zu Gunsten einiger Weniger aufrecht, während die Religion bemüht war, die Gefühle des Hasses zu beschwichtigen und die Sitten durch die Empfindungen der Wohltätigkeit zu mildern. Die Beständigkeit der socialen Servitute wurde jedoch gepredigt und es wurden die Armen und Niedrigen belehrt, daß sie sich mit ihrem Lose auf dieser Erde zu bescheiden hätten in der Hoffnung auf die göttliche Gerechtigkeit, die ihrer in der künftigen und übernatürlichen Welt warte. Dieser Begriff einer in ihrem Glauben und in ihrer Organisation unveränderlichen Gesellschaft wurde aber allmälig seit dem XVI. Jahrhunderte erschüttert durch die individuelle Erhebung freier Geister gegen den theologischen Dogmatismus und durch die collective Erhebung der Volksmannen gegen die feudale Knechtung.

Ein neues leitendes Princip hat sich seitdem in Europa allmälig erhoben: die Wissenschaft, das heißt, die Kenntniß der Gesetze der materiellen und der moralischen Welt, innerhalb welcher wir leben, Gesetze, nach denen wir uns zu richten haben in der Ordnung unseres privaten Lebens und die auch in der Regierung der menschlichen Gesellschaft anzuwenden sind. Dieses neue leitende Princip schiebt gleichzeitig die mystischen Vorstellungen entsprungenen Rechtsansprüche, als auch die ererbten Ansprüche der alten Aristokratien und die verletzenden Anforderungen der neuzeitigen Plutokratie zur Seite.

Wodurch wird aber die Kraft des neuen Principes unbesiegbar gemacht? Nur dadurch, daß dieses Princip keine andere Autorität anruft als diejenige, welche der vertieften Erkenntniß der Thatsachen und ihrer Gesetze entspringt. Durch die Beobachtung und durch die methodischen Experimente der Männer der Wissenschaft, die in collectiver Arbeit sich dem Dienste der Wahrheit gewidmet haben, werden diese Gesetze festgestellt. Diese Autorität basiert auf der freien Ueberzeugung Aller und auf der freien Anerkennung Jedermanns. Sie wird in den civilisirtesten Nationen allgemein geachtet; sie dringt immer mehr in den Geist der Volksmassen, denen sie die fortschreitende Befreiung sichert und denen sie einen nunmehr unerschütterlich gewordenen Stützpunkt und eine immer wachsende Kraft gibt. Gewiß, der Triumph der Wissenschaft ist noch lange nicht ein vollständiger. Die alten Principien spielen noch in der Politik und in der Volkswirthschaft der meisten Staaten eine beherrschende Rolle, und in Wirklichkeit sind die Anwendungen der wissenschaftlichen Methoden auf die Regierung der Völker noch kaum in Angriff genommen. Indessen an Zahl sowohl als auch an Autorität mehren sich diese Anwendungen, ohne daß es irgend Jemandem möglich wäre, diese Bewegung zurückzuhalten und noch weniger, die Entwicklung der wissenschaftlichen Wahrheiten zu ersticken, so wie das in früheren Zeiten wiederholt geschehen ist. Denn nunmehr ist ja diese Entwicklung zur eigentlichen Basis der industriellen und wirthschaftlichen Organisation der modernen Gesellschaften geworden.

[S. 2] Beherrscht doch die Wissenschaft nicht blos die Erzeugung aller für das Leben nützlicher Producte: Nahrungsmittel, Bekleidung, Bauwesen, Beheizung und Beleuchtung, sowie die Thätigkeit der Heilkunde in der Medicin; sie ist es auch, welche die inneren und auswärtigen Beziehungen der Völker und der Individuen in wesentlichster Art beeinflußt durch die Erbauung und die Erhaltung der Communicationswege zu Lande und zur See, durch die Errichtung von Telegraphen- und Telephonnetzen, durch die Werke des Buchdruckes, der Photographie, der keramischen Künste und durch die grandiosen Schöpfungen der Mechanik. Ich will mich bei dieser Gelegenheit gar nicht über die Kriegskunst verbreiten, welche ebenfalls zu einer der Domänen der Wissenschaft geworden ist.

Diese beschränken sich aber keineswegs auf die Thatsachen der materiellen Ordnung. Die Wissenschaft ist heute, um in der Sprache unserer Ahnen zu reden, auch eine unversiegbare Quelle der Thätigkeit auf dem “spirituellen” Gebiete geworden. Dieses Gebiet ist nicht mehr wie vordem dem Empirismus eines blinden Conservatismus ausgeliefert. Die Menschen beginnen zu begreifen, daß in der modernen Civilisation eine jede sociale Nützlichkeit von der Wissenschaft abgeleitet werden müsse, weil ja die Wissenschaft das Gesammtgebiet des menschlichen Geistes umfaßt, die Moral, die Politik, die Kunst ebenso gut, wie alles Praktische und industrielle Thun. Überall intervenirt die Kenntniß der Gesetze der Natur als nothwendiger Regulator aller Thätigkeit. Indem man ihnen aufrichtig gehorcht und auf sie in allen Dingen vertraut, wird man gleichzeitig auf den Weg das Nützliche zu finden, geleitet, das heißt, zu der fortschreitenden Verbesserung der Lebensbedingungen der Massen und zur Liebe der Wohlfahrt des einzelnen Individuums und jener der Allgemeinheit. Beides ist verknüpft durch ein gegenseitiges, jeden Tag klarer hervortretendes Verhältniß. So wie die Wissenschaft, ohne jemals stehen zu bleiben, durch die bloße Kraft der Ueberzeugung ihre Wege Jedermann vorschreibt, führt sie auch das Individuum zur unaufhörlichen Vervollkommnung seiner Thätigkeiten und führt sie die Völker zu jener Einheitlichkeit in der moralischen und intellectuellen Richtung, welche der Menschheit seit jeher als das Ideal vorgeschwebt hat.

Diese Wahrheiten sind gegenwärtig auf dem materiellen Gebiete von aller Welt als giltig anerkannt, während die gleiche Anerkennung auf dem moralischen Gebiete noch einigermaßen im Rückstand ist, immerhin aber beträchtliche Fortschritte macht. Diese werden kenntlich namentlich in der Entwicklung des volksthümlich-wissenschaftlichen Unterrichtes bei den Völkern, die an der Spitze der Civilisation stehen. Es ist mir nicht unbekannt, welche Anstrengungen in dieser Richtung in Deutschland, in England und nunmehr auch in Oesterreich gemacht worden sind. Ich will jedoch hier ausschließlich von Frankreich sprechen, welches ich begreiflicherweise besser kenne. Eine große Bewegung hat sich da seit einigen Jahren vollzogen, eine Bewegung, welche anfänglich durch die private Initiative einiger Personen, die sich Werken der öffentlichen Wohlfahrt widmen, in Fluß gebracht wurde. In Paris beispielsweise bestehen mehrere freie Vereinigungen, von denen volksthümlich-wissenschaftliche Curse und Vorlesungen eingerichtet worden sind. Zu diesen Vereinigungen gehört speciell die “Association philotechnique”, als deren Vorsitzender zu fungiren ich während der Jahre 1899 und 1900 die Ehre hatte. Sie veranstaltete in dieser Zeit 500 Curse, an welchen 11.000 Hörer beiderlei Geschlechtes theilnahmen, und zwar nicht blos durch ihre Anwesenheit, sondern auch durch praktische und professionelle Uebungen. Andere Vereine, wie die “Ligue de l’enseignement”, “l’Université populaire”, geschaffen, unterhalten und entwickelt durch den guten Willen ihrer Mitglieder, verfolgen ähnliche Ziele und haben in diesem Jahre 30.000 Zuhörer gefunden. Diese Werke wurden übrigens gefördert und ermuthigt durch den Gemeinderath, und sie haben auch eine wesentliche Unterstützung von Seiten der Regierung sowohl, wie auch durch eine erkleckliche Anzahl von anderen Vereinen und von wohlgesinnten Persönlichkeiten gefunden. Und in zahlreichen anderen Städten Frankreichs existiren ähnliche Institutionen für den populär-wissenschaftlichen Unterricht. Dieses schöne und fruchtbare Werk ist durchaus praktisch, es beschränkt sich aber keineswegs auf eine rein professionelle Form. Es umfaßt auch das Exposé der allgemeinen Thatsachen und Gesetze der Hauptwissenschaften. Obgleich der Unterricht vornehmlich der industriellen, gewerblichen und commerciellen Anwendung der Wissenschaft gewidmet ist, dehnt er sich auch auf die moralischen und ökonomischen Wahrheiten aus, wobei er sorgfältig fernbleibt von jeglicher politischen Discussion.

Der Erfolg unserer Vereine zeigt, in welchem Grade die Massen des Volkes die Nothwendigkeit wissenschaftlicher Bildung begriffen haben, indem sie sich freiwillig eine Arbeit auferlegen, die sie ihrer Tagesarbeit hinzufügen.

Das Volk beginnt den Nutzen zu begreifen welcher demselben aus einer wissenschaftlichen Erziehung sowohl von dem individuellen Standpunkte, als auch von dem der Collectivität in materieller und in intellectueller und moralischer Beziehung zutheil werden müsse. Ich bitte um die Erlaubniß, auf diese Punkte näher einzugehen.

Von dem nächstliegenden Gesichtspunkte aus wird Derjenige, welcher sich ein bestimmtes Wissen aneignet, das zu einer gewissen Technik führt, schon dadurch eine benützbare productive Fähigkeit sich aneignen, was zu einer Erhöhung seiner Bezahlung führt. Auf diese Weise ergreift er Besitz von einem wirklichen wenn auch nicht materiellen Capital, welches ihm nicht gestohlen werden und auch nicht in anderer Weise verloren gehen kann, und das er überall hin mit sich nimmt. Er erhebt sich dadurch gleichzeitig zu einem höheren Grade in der Hierarchie der Arbeit. In der That geht die wissenschaftliche Civilisation unserer Zeit durch zwei Phasen hindurch, welche zwei aufeinander folgende Grade bezeichnen. Die Herstellung von Maschinen ist die eine dieser charakteristischen Phasen und ihre erste Wirkung ist die, daß der Arbeiter untergeordnet wird dem Spiele eines künstlichen Organismus, dessen Gesetze ihm nicht bekannt sind. In dieser ersten Phase verliert der Mensch beinahe seine Individualität; er wird zu einem einfachen Rad reducirt, welches der Gesammtmaschine seine Bewegung mittheilt, die den Menschen beherrscht und ihn gefangen nimmt. So läuft der Arbeiter die Gefahr, in eine erniedrigende Verdummung zu verfallen, jener vergleichbar, zu welcher die antike Sclaverei führte. Indessen, diese traurige Folge des Maschinenwesens ist keine unüberwindliche Nothwendigkeit, indem die Wissenschaft mehr und mehr dahin strebt, die Maschine so zu vervollkommnen, daß sie automobil wird, daß heißt, daß sie fähig wird, selbst alle Arbeiten zu verrichten unter der Bedingung, von einer Intelligenz geleitet zu werden. Der bescheidene Arbeiter, der durch eine geeignete Erziehung zu der Kenntniß der Gesetze der Maschine gelangte, lernt dieselbe lenken, und so erhebt der Taglöhner sich in die Stellung eines Werkmeisters und in die eines Ingenieurs und der Abgrund, welcher bisher diese beide Classen von Arbeitern trennte, schließt sich immer mehr.

Die in solcher Weise vervielfältigte Kraft der Maschinen schafft ohne Unterlaß neue Werthe, was den Preis der zum Leben nothwendigen Gegenstände ermäßigt und damit auch die Behaglichkeit des Arbeiters erhöht.

Noch mehr: Die Erkenntniß der geleisteten Dienste und die durch den Stachel des persönlichen Interesses geweckte Hoffnung weiterer und noch größerer Dienste wird immer mehr den Industriellen und den Kaufmann dahin führen, den Lohnarbeiter zu dem Range eines Angestellten und sogar eines Compagnons zu erheben. Indem die Wissenschaft den persönlichen Werth des Arbeiters steigert, macht sie es ihm sogar möglich, den Capitalisten dadurch gänzlich zu entbehren, daß sich die Arbeiter zu Syndicaten vereinigen, was soviel [S. 3] bedeutet, daß sich die Mitglieder einer und derselben Profession zu gemeinsamer Arbeit zusammenfinden.

Daraus wird sich gleichzeitig eine allgemeine Steigerung der Unabhängigkeit und der Würde bei den Individuen aus dem Volke ergeben; das Gefühl der materiellen und moralischen Solidarität zwischen den einzelnen Classen wird sich vertiefen und ein neuer Schritt in der jahrtausendelangen Entwicklung der Gesellschaft wird vollbracht sein.

Wir gehen nun von dem rein persönlichen und anscheinend egoistischen Vortheil zu dem collectiven Nutzen über, welcher sich aus der volksthümlich-wissenschaftlichen Erziehung ergiebt.

Versuchen wir es vor allem, ihre materiellen Folgen vor Augen zu führen. Die Wissenschaft entwickelt durch die Anwendung der von ihr entdeckten Gesetze auf die Natur immer neue Reichthümer, welche keinen Einzelpersonen zugehören und die weder irgend einem Individuum noch irgend eine Collectivität entrissen worden sind. Letzteres ist der Fall mit der Steinkohle, die aus den Tiefen der Erde gezogen und zur Beheizung von Maschinen benützt wird. Solches ist auch der Fall mit den Metallen, welche aus ihren Erzen durch menschliche Arbeit hergestellt werden. Aber die moderne Wissenschaft hat durch ihre tiefen Theorien Quellen des Reichthums erschlossen, die ebenso unerwartet kamen, als sie universeller Art sind. So sind die von den Hängen der Berge zu Thal strömenden Gewässer zu einer Quelle von Energie geworden, welche unendlich größer und unerschöpflicher ist als jene, die aus den Kohlenminen entspringt. Daraus entwickelt sich eine Verschiebung aller industriellen Production, die sich immer mehr von dem Banne der Localität loslöst, weil die elektrischen Theorien der reinen Wissenschaft es heute möglich machen, auf weite Entfernungen hin diese Energie fast ohne Verlust zu transportieren. Das aber ist erst der Anfang einer neuen Aera für die Industrie. Heutzutage verkünden alle Physiker, daß der Tag nicht ferne sei, an welchem der Mensch die in der Natur überall verbreiteten und weitaus ergiebigeren Energien wird benützen können, nämlich die Wärme, welche uns von der Sonne kommt, und jene, welche im Innern des Erdballs angehäuft ist. Die Anwendung dieser Theorien und die daraus hervorgehende Erschaffung unermeßlicher Werthe wird eine Menge von neuen Arbeitern nothwendig machen, welche in die Wissenschaft eingeweiht, mit den praktischen Gesetzen der Mechanik, der Wärmelehre und der Elektricität vertraut, fähig sein müssen, die verschiedenartigen Vorrichtungen zu dirigieren, durch die man die von der Natur dargebotenen Energien umformen und nutzbar machen wird. An die Seite der gelehrten Theoretiker, welche die allgemeinen Gesetze dieser Umwandlung entdecken, ist es nothwendig eine ganze Armee von Arbeiter-Ingenieuren zu stellen, welche befähigt sind, diese Gesetze zu verstehen und die automobilen Maschinen zu lenken, durch welche sie nutzbar gemacht werden können.

Das ist also der Zweck der populär-wissenschaftlichen Erziehung, und das erweist auch ihre Berechtigung von dem Gesichtspunkte des materiellen Vortheiles. Der Nutzen, welcher sich daraus ergibt, ist kein ausschließlich individueller, er ist gleichzeitig auch ein collectiver, für die Gesammtnation geltender, indem die producirende Kraft der immer höher sich entwickelnden Industrie auf der steigenden Benützung der natürlichen Energien beruht, wodurch der allgemeine Reichthum immer mehr zunehmen muß. Daraus ergibt sich auch die fortschreitende Verbesserung der materiellen Bedingungen des menschlichen Lebens. Diese kommt auch den Allerärmsten zugute, und ihr Werth fällt allen denjenigen in die Augen, welche den socialen Zustand unserer Epoche mit jenem vergleichen, der in den Jahrhunderten bestanden hat, welche dem unserigen vorangegangen sind. Nicht daß es heutzutage gar viele Mißbräuche, gar vieles Unrecht in der socialen Organisation geben würde!... In der Menschheit aber waltet heute das Streben vor, durch eine unausgesetzte Anstrengung der Wissenschaft die Summe und die Ausdehnung dieser Mißbräuche und Ungerechtigkeiten zu vermindern.

Die bereits erzielten Fortschritte sowohl, als auch jene, welche die Zukunft bringen wird, sind nicht irgend welchen mystischen Anrufungen noch auch den Declamationen der Rhetoren oder Geschäftspolitiker zu verdanken, sondern den Arbeiten der modernen Wissenschaft und der Volkserziehung. Die unausgesetzte Vermehrung der socialen Reichthümer ist ein Ergebniß der innigen Verbindung, die zwischen der reinen und der angewandten Wissenschaft besteht. Diese bringt nicht blos eine Vermehrung des materiellen Reichthumes, sondern, indem die Menschen gebildeter und erleuchteter werden, gewinnen sie damit auch eine größere productive und moralische Energie. Jede nationale Collectivität steigt auf diese Weise höher empor, ohne daß ihre Entwicklung als nothwendige Consequenz das Herabsinken oder gar den Ruin anderer Völker mit sich bringen würde, wie das vormals in den Zeiten der erobernden Staaten der Fall war. Die industrielle Ausbeutung des Erdballs darf daher nicht mit der Ausbeutung der Individuen und nicht mit der Ausbeutung der Völker, des einen durch das andere, in eine Linie gestellt werden. Jene industrielle Ausbeutung des Erdballes muß in der Form vor sich gehen, daß ein jeglicher Arbeiter und daß jedes Volk Nutzen ziehe von dem allgemeinen Zuwachs des industriellen und intellectuellen Capitales der Menschheit.

Die socialen Wirkungen der volksthümlich-wissenschaftlichen Erziehung sind nicht minder bedeutend wie ihre materiellen Wirkungen. Dessen waren sich im Mittelalter die Gesetzgeber wohl bewußt, als sie durch ihre Anordnungen jeglichen Menschen in die unveränderlichen Regeln seiner ererbten Beschäftigung einzuschließen suchten, um auf diese Weise die Beständigkeit ihrer Einrichtungen zu sichern. Dennoch haben sie es nicht gewagt, bis auf die Einrichtung der Kasten zurückzugreifen, welche durch die Religionen des Orients zu einer geheiligten Institution gemacht wurden. Im unbedingten Gegensatze dazu hat die moderne Wissenschaft, indem sie ihre Lehren in der freigebigsten Weise und ohne irgend welche Beschränkung Jedermann zur Verfügung stellt, die Befreiung der Völker hervorgerufen. Heutzutage ist durch die Erwerbung von Kenntnissen, die nützlich sind, Jedermann das Werkzeug seiner eigenen Freiheit. Daraus entspringt eine weitere sociale Wirkung. Die allgemeine Vermehrung des Reichthums, hervorgerufen durch die Vermehrung des persönlichen Wissens, strebt in letzter Auflösung zu einer Gleichmachung der Vermögen hin. Die Capitalisten selbst, ohne in ihrem absoluten Werthe vermindert zu werden, schwächen sich immer mehr in ihrem relativen Werthe ab, ein Proceß, welcher in dem Sinken des Zinsfußes zum Ausdruck kommt. Die Folge davon ist, daß die Vertheilung der Reichthümer sich ohne Unterlaß ändert und damit auch das Gefüge der modernen Gesellschaft. Das ist die Rolle, das die Wirkungsweise der wissenschaftlichen Bildung in materieller Beziehung sowohl für die einzelnen Personen als auch für die Gesammtgesellschaft. Die intellectuellen und moralischen Folgen sind jedoch nicht minder beträchtlich und diese müssen mehr und mehr die wohldenkenden Menschen zu einer noch entschiedeneren Förderung des populär-wissenschaftlichen Unterrichtes aneifern.

Die Pflege der Wissenschaften führt den menschlichen Geist zur absoluten Achtung der Wahrheit. Denn diese Pflege bezieht sich auf Thatsachen und Gesetze, welche im Sinne der Leidenschaften oder der Einbildung ändern zu wollen, ein geradezu kindisches Unterfangen wäre. Die Wissenschaft ist eine unvergleichliche Schule moralischer Aufrichtigkeit und Bescheidenheit. Sie ist auch eine Schule intellectueller Befreiung. Auf diese Weise entwickelt sich die Wissenschaft zu einer überaus großen [S. 4] moralischen Macht, mit welcher die Würde der menschlichen Persönlichkeit fest begründet werden kann, und die das sichere Fundament der Gesellschaft der Zukunft zu bilden berufen ist.

Die Erhabenheit und die Harmonie der Naturgesetze entwickeln außerdem gleichzeitig den moralischen und den künstlerischen Sinn.

Die Menschen, möge ihre Lebenseinstellung welche immer sein, streben durch das Wissen, welches das gleiche ist für Alle, mit unabwendbarer Nothwendigkeit ebenso die Nivellirung der socialen Classen, als auch die der Intelligenzen an.

Diese Nivellirung ist nicht beschränkt auf einen einzelnen Staat oder eine einzelne Race, denn die wissenschaftlichen Entdeckungen bilden den Gegenstand einer allgemeinen unaufhörlichen und uneigennützigen Publicität. Diese führt schließlich dahin, daß die Ansprüche auf Vorrechte und die Forderungen des Egoismus, die sich zwischen die Individuen sowohl, als die Nationen trennend aufthürmen, abgeschwächt und endlich zerstreut werden, so daß in allen Geistern die Erkenntniß der allgemeinen Solidarität feste Wurzeln fassen wird.

Das ist auch das weitreichendste und höchste Ergebniß, welches von dem volksthümlich-wissenschaftlichen Unterrichte zu erwarten ist. Die Wissenschaft zeigt uns ja in der That, daß in allen Bereichen die Interessen der Menschen solidarisch sind, ebenso gut in den Beziehungen des privaten Lebens und der physischen Gesundheit des einzelnen Individuums, als auch in der Ordnung des collectiven Lebens.

Die Lehren der Geschichte zeigen, daß es sich ebenso mit dem Antagonismus der Völker und dem der Individuen verhält. Der Krieg und der Imperialismus haben für Diejenigen, die damit ihr Glück versucht haben, fast immer mit dem Ruin geendet. Jeglicher Schaden, der einem Volke oder einem Individuum zugefügt wird, ist ein Verlust für Alle; ein materieller Verlust durch die unfruchtbare Zerstörung von Werthen, ein moralischer noch viel unheilvollerer Verlust durch die Schwächung der natürlichen Bande, welche die Menschen untereinander verknüpfen.

Die Solidarität ist also keineswegs eine reine Abstraction. Ich möchte hinzufügen, daß sie in dem Wesen der modernen Wissenschaft mit enthalten ist und daß sie ihrer Entwicklung die Richtung weist. Denn jedes wissenschaftliche Werk ist ein collectives Werk. Keine neue Entdeckung ist isolirt. Wie groß auch das individuelle Genie des Erfinders in der Theorie sowohl als in der Praxis sein mag, es stützt sich nothwendigerweise auf die Gesammtheit der früheren Entdeckungen von Forschern, die ihm vorangegangen sind, und auf die mehr oder minder erfolgreichen Arbeiten der Zeitgenossen. Die Wissenschaft ist, ich wiederhole es, ein Collectivwerk, hervorgegangen aus der aufopfernden Liebe der Gelehrten und der Forscher für die theoretische und angewendete Wahrheit. In dieser Liebe sind die Achtung vor der Wahrheit und das Gefühl der Opferfreudigkeit untrennbar miteinander verflochten.

Und deshalb ist das Werk der Wissenschaft zugleich in hervorragendstem Maße ein Werk des Friedens, welches zum Vortheil und zum Glück Aller vollbracht wird. Die Wissenschaft muß auf dem gegenseitigen guten Willen derjenigen, welche wissen, und derjenigen, welche lernen, und auch der brüder-lichen Sympathie Aller beruhen, einer Sympathie, welche umsomehr berechtigt ist, als wir heute die Früchte der Arbeit der uns vorangegangenen Generationen genießen und als wir die Pflicht haben, diese Erbschaft vermehrt unseren Nachkommen zu hinterlassen.

Diese Wahrheiten verbreiten sich heutzutage unten den denkenden Menschen und unter den Nationen immer mehr. Ich weiß nicht, ob sie rasch genug das Uebergewicht erhalten werden in der Leitung der Staaten, um den schweren inneren und internationalen Conflicten vorzubeugen, von denen die modernen Völker bedroht sind. Bis in unsere Zeit hinein sind die größten socialen Veränderungen durch die Gewalt erzwungen worden. Es ist indessen gewiß, daß die Völker und auch die Regierungen heute den wachsenden Einfluß der Entdeckungen der Wissenschaft verspüren, die unausbleiblich den überlegenen Willen der civilisirten Menschen bestimmen werden. Fördern wir in dieser Erwartung überall durch alle Mittel die wissenschaftliche Bildung, und es wird uns dadurch vielleicht doch gelingen, diese Gefahren, diese Kämpfe und dieses Unheil zu beschwören und endlich die gesegnete Zeit der Gleichheit und der Brüderlichkeit aller Menschen herbeizuführen, die solidarisch in den heiligen Gesetzen der Arbeit werden sollen. Das ist das Ideal, welches die moderne Wissenschaft dem menschlichen Geschlechte lehrt. [Im Original an dieser Stelle paraphiert]

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. Ausdrücke in runden Klammern stehen auch im Original in runden Klammern. Die in eckigen Klammern angegebene Zahl bezeichnet den Beginn der jeweiligen Seite des Originaltextes. Ebenfalls in eckigen Klammern stehen Ergänzungen des Bearbeiters. Offensichtliche Druckfehler und falsche Namensformen wurden berichtigt.)

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