Wenn Gender auf Didaktik trifft ... Lernen und Lehre im Kontext sozialer Konstruktionen

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Autor/in:

Venth, Angela

Titel: Wenn Gender auf Didaktik trifft ... Lernen und Lehre im Kontext sozialer Konstruktionen
Jahr: 2005
Quelle:

REPORT. Zeitschrift für Weiterbildungsforschung, Nr.28, 3/2005, http://www.report-online.net/start/

Sachdeskriptor: Bildungspolitik / Frauen / Frauenbildung / Genderforschung / Gesundheitserziehung
Abstract:

Dieser Beitrag verbindet didaktische mit genderhaltigen Überlegungen und skizziert Schwerpunkte der jeweiligen Diskurse. Er setzt den Konstruktionscharakter von Gender ein, um eine konstruktivistisch orientierte Didaktik beim Wort zu nehmen. Mit den Erfahrungen aus einer Modellveranstaltung werden beispielhaft didaktische Schritte vorgestellt, die dem speziellen Bezug zwischen Gender und Gesundheit gerecht werden können. Auf diesem Wege werden der aktuell diskutierten, allgemeinen Fragen nach dem Verhältnis von Lernen und Lehre Akzente hinzugefügt, welche die Potenziale didaktischen Handelns hervorheben.

Wenn Gender auf Didaktik trifft ...

Lernen und Lehre im Kontext sozialer Konstruktionen

1. Didaktik und Gender auf getrennten Wegen

Dem erwachsenenpädagogischen Diskurs über Didaktik ist eine ausdrückliche Rezeption des Genderdiskurses, wie er von der Geschlechterforschung geführt wird, kaum zu entnehmen.

Dieser Beitrag unternimmt den Versuch, beide Diskurslinien in einer Augenblicksaufnahme so zu kreuzen, dass gefragt werden kann, welchen potenziellen Ertrag Genderperspektiven für didaktische Fragen ans Licht bringen. Der explizite Bezug aufeinander wird in der Weise exemplarisch erfolgen, dass der Konstruktionscharakter von Gender ins Zentrum rückt.

1.1 Zum Didaktikbegriff

Aktuelle Modelle von Didaktik gehen in Distanz zu bildungstheoretischen Vorstellungen, welche lediglich „eine Theorie der Bildungsinhalte definierten und sich demzufolge auf die Bestimmung und Legitimation des ‚Was’ konzentrierten“ (Arnold 2001, S. 72). Sie enthierarchisieren und erweitern das Begriffsverständnis, indem sie das oberste Primat der Inhalte negieren und ihm andere didaktische Faktoren wie Lernziele, Methoden oder Medien gleichberechtigt zur Seite stellen. Durch die Wechselwirkung zwischen Didaktik und Methodik wird ein strukturelles Gefüge statuiert, welches das Lernen und die Lernenden verstärkt in das erwachsenenpädagogische Setting einbezieht (vgl. Arnold 2001). Solche Revisionen sind in unmittelbaren Zusammenhang mit konstruktivistischen und subjektorientierten Lerntheorien zu bringen und erzeugen eine qualitativ geschärfte Aufmerksamkeit für individuelle Wirklichkeitssichten, die Selbstorganisation lernender Systeme und den kommunikativen Aspekt des Lernens als intersubjektives Bindeglied (vgl. Arnold/Siebert 1995). Je intensiver theoretische Positionen der Erwachsenenbildung konstruktivistische Gedankenwelten in sich aufnehmen, desto deutlicher werden auch die Konsequenzen beschrieben, die sich für pädagogischprofessionelles Vorgehen ergeben. So führt etwa Rustemeyer an, konstruktivistische Theorie-Elemente bedrohten Pädagogik in ihrem Kern, weil sie „das Bemühen um didaktische Formen der Wissensvermittlung oder die Auswahl und Begründung von Lerninhalten“ (Rustemeyer 2001, S. 25) fragwürdig werden und Sensibilität für die individuelle Selbstorganisation an die Stelle pädagogischer Allmachtsphantasien treten ließen. Gleichwohl gesteht er der Erziehungswissenschaft und ihrer Teildisziplin Erwachsenenbildung ein sanftes Adaptieren konstruktivistischer Thesen durch deren Einpassen in historisch gewachsene Leitvorstellungen zu. Hat auch die Erwachsenenbildung angesichts konstruktivistischer Lerntheorien nicht den Boden unter den Füßen verloren, so lassen wissenschaftliche und bildungspraktische Auseinandersetzungen damit dennoch erahnen, dass Verwirrung Platz greift, weil mit dem Gegenstand von Bildung auch die tradierte pädagogisch-professionelle Funktion nicht mehr selbstverständlich gegeben, sondern ins Wanken geraten zu sein scheint. Als Folge setzen sich didaktische Bemühungen mit der „zerbrochenen Einheit von Lehre und Lernen“ (Mader 1997) auseinander und unternehmen es, dieses Verhältnis neu zu bestimmen.

1.2 Zum Genderbegriff

Gender bezeichnet das soziale Geschlecht, das in der englischen Terminologie von Sex als biologischem Geschlecht unterschieden wird, während es im Deutschen nur einen Begriff für beide Bedeutungen gibt. Im wissenschaftlich-analytischen Verständnis der Geschlechterforschung gilt Gender als soziale Konstruktion. Sie beinhaltet „dass die Geschlechter sozial ‚gemacht’, die Vorstellungen von Frauen und Männern, vom männlichen und weiblichen Verhalten in sozialen Zusammenhängen entworfen und tradiert werden“ (Metz-Göckel/Venth 2005). Die Geschlechterdualität ist als soziale Institution erkannt, welche über Prozesse des Doing Gender ständig in Gang gehalten und bestätigt wird. Diese Dualität bildet ein „generatives Muster der Herstellung sozialer Ordnungen“ (Gildemeister/Wetterer 1992, S. 230). Sie kann als konstitutives Element gesellschaftlicher Beziehungen bezeichnet und als solches untersucht und kritisch überprüft werden. Geschlechterrelationen und –ungleichheiten sind als soziale Konstrukte sowie Akte des Doing Gender als Prozesse ihrer Produktion in unterschiedlichen gesellschaftlichen Dimensionen aufzufinden.

Teilweise geben sie sich offensichtlich zu erkennen, zunehmend aber sind sie subtil und verdeckt enthalten

• im individuellen und intersubjektiven Handeln von Menschen als Frauen und Männer, Mädchen und Jungen,

• in der sozio-kulturellen Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit, die zu kulturell leitenden Symboliken, Kodizes und Normen führt, in systemimmanenten gesellschaftlichen Strukturbedingungen, die Geschlechterpraxen konstituieren (vgl. Nickel 2001).

Veränderungen im Geschlechterverhältnis konstatieren die genuszentrierten Sozialwissenschaften vor allem auf der ersten, mikroanalytischen Ebene, der auch das subjektive und soziale Lernen zuzurechnen ist. Vorliegende Ansätze einer geschlechtsgerechten Didaktik (Derichs-Kunstmann/Auszra/Müthing 1999; Kaschuba 2005; vgl. auch Venth 2001) gehen auf den Konstruktionscharakter von Geschlecht ein und orientieren sich an geschlechterdemokratischen Implikationen. Sie wären allerdings differenziert danach zu befragen, ob sie einen eigenen (Sonder-)Typus von Didaktik darstellen oder nicht darüber hinausreichen und die Güte und Gültigkeit einer „guten Didaktik“ im Allgemeinen beschreiben. Das gilt unter anderem für das Postulat der Teilnehmer/innen-Orientierung, dem erst die Wahrnehmung der Lernenden als Frauen und Männer konkretes Leben einhaucht.

2. Gendersensible Didaktik am Beispiel Gesundheitsbildung

Nicht nur Gender, sondern auch Gesundheit ist als besonders plastisches Beispiel für die Konstruiertheit sozialer Wirklichkeit zu verstehen. Beide werden auf den drei analytisch unterscheidbaren Ebenen von Interaktion, Soziokultur und Struktur mit wechselnden und durchaus widersprüchlichen inhaltlichen Bedeutungen gefüllt und gehen dabei spezifische Verbindungen ein. Gesundheitsbildung, die sich jenseits der Geschlechtsneutralität an Frauen und Männer richten will, steht deshalb vor erheblichen didaktischen Herausforderungen. Ihr Anspruch kann es sein, die kontextuell an Gesundheit gebundene Inszenierung von Geschlecht zu rekonstruieren und zum Aufdecken des performativen Charakters von Geschlecht und Gesundheit beizutragen.

2.1 Ziele geschlechtsbewusster Gesundheitsbildung

Gesundheitsbildung – wie sie Mitte der 1980er Jahre in einer Grundkonzeption entwickelt wurde – enthält als Potenzial alltagspolitische Ziele sehr demokratischer Art. Menschen sollen über ihr gesundheitliches Befinden und ihre körperliche Unversehrtheit bewusst verfügen, autonom darüber entscheiden und aktiv dafür sorgen können. Darüber hinaus sollten sie sich über Bedingungen für gute Gesundheit sozial verständigen können. Das schließt Erziehungsabsichten als „Lehre von oben“ aus und entspricht dem aktuellen Diskurs über selbstorganisierte Formen des Lernens. Gesundheit ist als subjektives Konstrukt zu verstehen, das behindert oder gefördert, trotz aller Versuche aber nicht fremd bestimmt werden kann. Auf Bildungskontexte übertragen eröffnen sich damit intensivere Möglichkeiten der Selbstaufklärung. Den Weg einer genderbewussten Didaktik einzuschlagen kann erreichen, dass die unterschiedlichen Lernmotive und Lebenszusammenhänge von Frauen und Männern wahrgenommen und einander gegenübergestellt werden können. Geschlechtsdifferenzierte Gesundheitsbildung kann sowohl die Augen für die traditionellen Geschlechtercodierungen öffnen, die sich kulturell um den Fokus „Körper und Gesundheit“ ranken, als auch zu mehr Gender-Diversity im Sinne von hierarchiefreier Geschlechter-Vielfalt beitragen. Wie sich diese Ziele umsetzten lassen, wird am Beispiel eines Modellseminars skizziert (Venth/Wohlfart 2001).

Aus der Übersetzung von Gender in didaktische Komponenten leitet sich eine Reihe von Lern- und Lehrzielen ab:

• Sensibilisieren für das Gesundheitsbewusstsein, -wissen und -handeln von Frauen und Männern,

• Vermitteln von Wissen über geschlechtsdivergente Ausprägungen von Gesundheit und Krankheit,

• Verdeutlichen des politischen Zusammenhangs zwischen Gesundheitsaspekten und der Geschlechterfrage einschließlich der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung,

• Darlegen der Chancen einer geschlechtsorientierten und emanzipatorischen Gesundheitsbildung, die Geschlechterklischees und überholte Rollenbilder hinterfragt,

• Entwickeln eines methodischen Settings für geschlechtsheterogenes oder -homogenes Lernen, welches sowohl zur Reflexion des Zusammenhangs zwischen Gesundheit und Geschlecht als auch zu körperbezogenen und sinnlichen Erfahrungen führt.

Die Gesundheitsbildung sucht und findet auf diese Weise Anschluss an die Geschlechterforschung, darüber hinaus entspricht sie modernen Lerntheorien, die den unmittelbaren Bezug zwischen Kognition, Körper und Gefühl neu akzentuieren.

2.2 Inhalte und Methoden

Greift die Gesundheitsbildung Geschlechterdimensionen explizit auf, so eröffnet sich eine inhaltliche Palette für Lerndialoge, die auf die drei analytisch zugänglichen Ebenen von Gender-Konstruktionen rückführbar ist (vgl. 1.2).

Erster und unverzichtbarer Ausgangspunkt für den Lernprozess sind die subjektiven Bilder und Selbstkonzepte der Teilnehmenden:

1. Die Bedeutung von Alltag und Lebenslauf für die Gesundheit von Frauen und Männern

• Gesundheitsverständnis und Gesundheitshandeln von Frauen und Männern,

• Gesundheitsstrategien,

• männliche und weibliche Körperwahrnehmungen,

• Vorsorgen im Alltag,

• weiblicher und männlicher Alltagsstress.

2. Die Bedeutung kultureller Traditionen und symbolischer Muster für die Gesundheit von Frauen und Männern

• Historisches zur Frauen- und Männergesundheit,

• unterschiedliche Begriffe der Gesundheitswissenschaften von Gesundheit,

• Körper- und Schönheitsideale – Geschlechterstereotypen,

• Erfahrungen von Männern und Frauen mit dem medizinischen System.

3. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen für Gesundheit

• Die aktuelle Gesundheitspolitik und ihre Auswirkungen auf den Alltag der Geschlechter,

• Gesundheitsberichts-Systeme und -Surveys,

• Studien über Frauen- und Männergesundheit und die unterschiedliche Lebenserwartung der Geschlechter.

Zu allen Themenkomplexen können neben theoretischem Wissen Untersuchungen aus der gesundheitsbezogenen Geschlechterforschung einbezogen werden. Zentrales Anliegen beim didaktischen Vorgehen bleibt es aber, Fachwissen, Daten und überlieferte Annahmen jeweils mit dem subjektiven Gender- und Gesundheitswissen der Lernenden zu konfrontieren und potenzielle Divergenzen herauszuarbeiten. Das heißt die Moderation nimmt davon Abstand, „objektives“ Wissen zu vermitteln, sie konzentriert sich stattdessen auf die Begegnung fremder mit den eigenen Konstruktionen der Lernenden. Geeignet für Kurse oder Veranstaltungen, die „Gesundheit und Gender“ ins Zentrum stellen, sind all jene Methoden, die soziale Verständigung in Gang bringen können. Zu Beginn ist es aus diesem Grund sinnvoll, das Prinzip der Gleichwertigkeit für zwischengeschlechtliche Kommunikationen zu vereinbaren. Entsprechende Interaktionsregeln lassen sich gemeinsam fixieren und kontinuierlich überprüfen. Lerneffekte entstehen bereits, wenn präzisiert wird, was interaktive Gleichwertigkeit bedeuten kann. Der Wechsel von geschlechtshomogener Gruppenarbeit und geschlechtsheterogenen plenären Phasen verspricht besonderen Aufschluss über Gemeinsamkeiten und Unterschiede innerhalb eines Geschlechts und zwischen Männern und Frauen. „Spekulative Arbeitsphasen“ stellen ein sehr geeignetes Mittel dar, um unter- bzw. vordergründigen Geschlechterstereotypen auf die Spur zu kommen, ohne anwesende Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu verletzen. Dazu dienen verallgemeinerungsfähige Fragen wie: „Was tun Männer für ihre Gesundheit?“ versus „Was tun Frauen für ihre Gesundheit?“ Werden sie jeweils an Frauen- und Männergruppen gestellt, so ergibt sich erheblicher Gewinn an Erkenntnis über zirkulierende Geschlechtercodierungen, wenn die Antworten abschließend gegenübergestellt werden. Als Lernprodukt entsteht ein – wenn auch exemplarischer, so doch nachhaltiger – Eindruck von Resistenzen und Veränderungen im Geschlechterverhältnis, zu dem die Lernenden sich individuell verhalten können.

2.3 Variationen von Gegenstand und pädagogisch-professioneller Funktion

Unter sozialkonstruktivistischen Vorzeichen wird die didaktische Aufgabe eine transmittierende. Allerdings bringt sie nicht den Lernstoff zu den mehr oder minder daran Interessierten, sondern präsentiert wissenschaftliches Wissen als relatives, vor allem aber verhilft sie zum Profilieren von Weltbildern und inszeniert deren Begegnung. Unter zusätzlichen Gender-Vorzeichen sind im Sinne der analytischen Ebenen des Gender-Doings einerseits strukturelle Rahmenbedingungen des jeweiligen thematischen Phänomens zur Diskussion zu stellen, andererseits die kulturell und symbolisch vorherrschenden, zum Teil ziseliert zusammengefügten Geschlechterbilder aus dem Dunkel zu heben, die auf den Alltag von Frauen und Männern einwirken. Es ist besonders diese zweite Ebene, die sich dem Lernen nicht ohne weiteres erschließt, weil sie häufig untergründig wirkt oder mit gesellschaftlichen Tabus belegt ist. Didaktik erhält dadurch einen zusätzlichen Aspekt: Sie wird zur wissenschaftlich gestützten Arbeit an Theorien und Forschungsbefunden und dient sowohl der professionellen Selbstreflexion als auch dem Brückenschlag von Konstruktion zu Konstruktion im Lernprozess. Am Beispiel von Gesundheit lassen sich die Produkte eines solchen Synthetisierens von Erkenntnissen gesundheitsbezogener Geschlechterforschung als Streiflicht veranschaulichen.

Exkurs: Frauengesundheit – Männergesundheit

Gesundheit ist keineswegs ein geschlechtsneutrales Phänomen, sondern symbolisch höchst genderhaltig besetzt. Sie wird von Männern und Frauen unterschiedlich verstanden und gehandhabt. Die Kultur erweist sich „als eine der Hauptstützen der Gender- Ideologie“ (Lorber 1999, S. 76–77), wenn Geschlechterdifferenzen im Kontext von Gesundheit und Krankheit aufgegriffen und transferiert werden. Wendet man Aufmerksamkeit darauf, wie über ein „Doing Gender“ Geschlecht in kulturellen Konstruktionsprozessen „gemacht“ wird, so haben Aspekte von Körperlichkeit und Gesundheit erheblichen Anteil daran. Bildungseinrichtungen sind besonders geeignete Orte, um diesem vergeschlechtlichten Gesundheitsprozess (Health/Gender-Doing) auf die Spur zu kommen, wobei die Kontrastierung von Frauen- und Männergesundheit Tabus ans Licht hebt und scheinbar Selbstverständliches zur Diskussion stellt. Dass zugeschriebene Merkmale des sozialen Geschlechts (Gender) nicht auf körperliche Erscheinungsformen (Sex) zurückgeführt werden können, zählt zu den zentralen wissenschaftlichen Erkenntnissen der Geschlechterforschung. Dennoch ist die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Geschichte von Gesundheit und Geschlecht durchzogen von biologistischen Substrukturen (vgl. vor allem Honegger 1991). Sie formen vorwiegend ein weibliches Bild, das von Kränklichkeit und Schwächlichkeit geprägt ist. Es trifft im 20. Jahrhundert auf eine medizinische Wissenschaft, die es kurativ aufgreift: „Die Lehre der modernen naturwissenschaftlichen Medizin hat dazu beigetragen, die ‚Krankheit Frau’ zu konstituieren“ (Helfferich 1993, S. 69–60). Die Frauengesundheitsbewegung kehrte das diktierte Fremdbild um. In den 1980er Jahren nahmen politisch aktive Frauen ihre Gesundheitsbelange selbst in die Hand und desavouierten das pathogene Frauenbild der Medizin. Bis heute wird Gesundheit für Frauen zur Metapher und konkreten Gelegenheit zugleich, ihre Geschlechtsauffassung nach eigener Anschauung und Erfahrung auszubuchstabieren. Die Historie überliefert keine schriftlichen Belege, die den Zusammenhang von männlicher körperlicher Beschaffenheit, Gesundheit/Krankheit und der Geschlechtsrolle nachvollziehen ließen. Tatsächlich wirken Mann und männlicher Körper, als seien sie von Natur aus eins und wortlos präsent: „Wahre Männlichkeit scheint sich fast immer vom männlichen Körper abzuleiten – einem männlichen Körper innewohnend oder etwas über einen männlichen Körper ausdrückend... Diese Überzeugungen sind ein strategischer Teil der modernen Geschlechterideologie“ (Connell 1999, S. 65). Biologismen setzen ebenfalls auf männlicher Seite einen Gender-Konstruktionsprozess in Gang, der beispielsweise in die Formel mündet: Körpergröße = Stärke = Potenz = Einfluss = Männlichkeit. Faktisch diagnostizieren Kritiker einen männlich-instrumentellen Umgang mit Gesundheit und Krankheit, indem der Körper als Maschine verstanden wird, deren Funktionstüchtigkeit erhalten werden muss: „Der Mann als Männlichkeitsmaschine ist dafür ‚konstruiert’, konsequent zu arbeiten, Leistung effizient zu erbringen, objektive Schwierigkeiten zu überwinden, alle Probleme zu lösen, jede Aufgabe willensstark anzugehen und richtig zu erledigen – darauf ist sie programmiert. Niederlagen darf und will sie nicht kennen“ (Hollstein 1999, S. 69). Mit solchen Vorarbeiten stellt Didaktik Gender-Konstruktionen zur Verfügung, deren Viabilität (= passt – passt nicht) sozial verhandelt werden kann. Das Gesundheits-Gender- Lernen wird um eine spezifische Tiefendimension ergänzt, die es Lernwilligen erleichtert, sich in einer Welt voller Geschlechterbilder mit eigenen gelebten Ansichten kontrollierend und korrigierend zu bewegen. Dies mag der erste Schritt sein, um Gesundheit zu „entgendern“, das heißt sie davon zu befreien, Frauen und Männern ein „Geschlechtswesen“ und über dieses Wesen einen gesellschaftlichen Platz zuzuweisen.

3. Zwischenbilanz

Durch die Kombination von Didaktik und Gender, besser: Durch das Eindringen von Gender als Konstruktion in konstruktivistisch ausgerichtete Didaktik sollte eine bestimmte Seite im Lern-Lehr-Verhältnis betont werden. Es war zu verdeutlichen, dass weder professionelles Handeln in der Erwachsenenbildung noch ihr Gegenstand obsolet oder hinfällig werden. Wird auch den didaktisch Tätigen der Gegenstand gleichsam aus der Hand genommen, weil er sich durch die Lernenden selbst konstituiert, so kommen andere Anforderungen auf sie zu: Erwachsenenlernen ist „immer auch als eine soziale Interaktion über die Viabilität, von Begründungen, Wirklichkeitsinterpretationen und Handlungsstrategien zu gestalten“ (Arnold 2001, S. 177). Die didaktische Möglichkeit besteht dann nicht lediglich darin, den Fluss von Intersubjektivität methodisch in Gang zu bringen und zu halten, sondern gerade solche thematisch relevanten Setzungen von Wirklichkeit verfügbar zu machen, die sich dem Alltagswissen entziehen, aber im Lebenszusammenhang von Lernenden unerkannte normierende Kraft entfalten.

Literatur

Arnold, R. (1991): Konstruktivismus. In: Arnold, R./Nolda, S./Nuissl, E. (Hrsg.): Wörterbuch Erwachsenenpädagogik. Bad Heilbrunn, S. 176–177

Arnold, R. (2001): Didaktik – Methodik. In: Arnold, R./Nolda, S./Nuissl, E. (Hrsg.): Wörterbuch Erwachsenenpädagogik. Bad Heilbrunn, S. 72–75

Arnold, R./Siebert, H. (1995): Konstruktivistische Erwachsenenbildung. Von der Deutung zur Konstruktion von Wirklichkeit. Baltmannsweiler Connell, R. W. (1999): Dr gemachte Mann. Opladen

Derichs-Kunstmann, K./Auszra, S./Müthing, B. (1999): Von der Inszenierung des Geschlechterverhältnisses zur geschlechtsgerechten Didaktik. Bielefeld

Gildemeister, R./Wetterer, A. (1992): Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung. In: Knapp, G.-A./Wetterer, A. (Hrsg.): TraditionenBrüche. Entwicklungen feministischer Theorie. Freiburg i.Br.

Helfferich, C. (1993): Das unterschiedliche „Schweigen der Organe“ bei Frauen und Männern. Subjektive Gesundheitskonzepte und „objektive“ Gesundheitsdefinitionen. In: Franke, A./ Broda, M. (Hrsg.): Psychosomatische Gesundheit. Versuch einer Abkehr vom Pathogenese- Konzept. Tübingen, S. 35–65

Hollstein, W. (1999): Männerdämmerung. Von Tätern, Opfern, Schurken und Helden. Göttingen

Honegger, C. (1991): Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib. Frankfurt a.M./New York

Kaschuba, G. (2005): Theoretische Grundlagen einer geschlechtergerechten Didaktik. Begründungen und Konsequenzen. In: REPORT. Literatur- und Forschungsreport Weiterbildung, H. 1, S. 67–74

Mader, W. (1997): Von der zerbrochenen Einheit des Lehrens und Lernens und den Schwierigkeiten einer didaktischen Theorie. In: Nuissl, E./Schiersmann, Ch./Siebert, H. (Hrsg.): Pluralisieren des Lehrens und Lernens. Bad Heilbrunn, S. 61–81

Metz-Göckel, S./Venth, A. (im Druck): Der Wandel der Bedingungen des Lehrens und Lernens: Die Gender-Diskussion. In: Peters, O. (Hrsg.): Grundlagen der Weiterbildung: Praxishilfen. Neuwied

Nickel, H. M. (2001): Gender. In: Gieseke, W. (Hrsg.): Handbuch zur Frauenbildung. Opladen, S. 65–74

Rustemeyer, D. (2001): Nichtsehen sehen. In: Faulstich, P./Wiesner, G./Wittpoth, J. (Hrsg.): Wissen und Lernen, didaktisches Handeln und Institutionalisierung. Beiheft zum REPORT, S. 15–28

Venth, A. (2001): Differenz und Gleichheit als theoretische Prämisse von Frauenbildung. In: Gieseke, W. (Hrsg.): Handbuch zur Frauenbildung. Opladen, S. 59–63

Venth, A./Wohlfart, U. (2001): Frauen, Männer und Gesundheit – Eine Qualifizierung des pädagogischen Personals zur Umsetzung der Genderperspektive in der Gesundheitsbildung. In: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hrsg.): Mit der Genderperspektive Weiterbildung gestalten. Soest, S. 149–165

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