Soziale Bildungsfürsorge an Arbeitslosen

Titelvollanzeige

Autor/in:

Bolterauer, Lambert

Titel: Soziale Bildungsfürsorge an Arbeitslosen
Jahr: 1935
Quelle:

Fünfundzwanzig Jahre Uraniagebäude 1910-1935, Wien 1935, S. 28.

Seitdem feststeht, daß sich die Massenarbeitslosigkeit unserer Tage nicht als Begleiterscheinung einer rasch vorübergehenden Wirtschaftskrise verstehen läßt, sondern daß sie heraufbeschworen ist von den Umständen, die zu beseitigen Jahre dauern wird, seitdem kann niemand verkennen, daß die wirtschaftliche und seelische Hilfeleistung an Arbeitslosen zur dringendsten sozialen Aufgabe unserer Zeit geworden ist. Die Unerläßlichkeit der materiellen Unterstützung der Arbeitslosen versteht sich wohl für jedermann von selbst. Daß den Arbeitslosen aber auch seelisch geholfen werden muß, dies steht leider noch immer viel zu wenig klar und wirksam im Bewußtsein unserer Zeit. Und doch könnte sich jeder leicht auch hievon überzeugen. Das Schicksal, arbeitslos zu sein, ist solange einigermaßen erträglich, solange der Mensch hoffen kann, in absehbarer Zeit wieder zu fester Arbeit und zu sicherem Verdienst zu kommen. Was aber, wenn der Arbeitslose diese Hoffnung nicht mehr aufrecht erhalten kann? Und zwar deshalb nicht, weil die Einsicht in Wesen und Herkunft der heutigen Wirtschaftskrise es ihm schlechterdings unmöglich macht? In diesem Fall muß die Arbeitslosigkeit auch noch zu einer ungeheuren seelischen Belastung werden. Arbeitslos sein heißt dann, nicht bloß zur Armut, sondern auch zur völligen gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit verurteilt zu sein, heißt, leben müssen ohne Aussicht auf Anerkennung, ohne Möglichkeit zur Verwertung seiner Kräfte und seines Könnens, mehr bemitleidet als geachtet, auf die Erhaltung des nackten Daseins angewiesen. Um in einer solchen Lebenslage standzuhalten, um nicht in dumpfe Resignation und Untätigkeit zu versinken oder in Verzweiflung und ohnmächtiger Empörung sein gesundes Menschentum einzubüßen, hiezu gehören übermenschliche Kräfte. Es genügt nicht, dies zu sehen und nachzuempfinden, es genügt auch nicht, diesen menschenunwürdigen Zustand zu bedauern, es gilt, dem Arbeitslosen helfend beizuspringen in seinem heroischen Kampf um die Erhaltung der Lebens- und Schaffensfreude, um die Bewahrung seines Selbstvertrauens, um den Glauben an die Existenz der Vernunft und des guten Willens in der menschlichen Gesellschaft.

Es wird dem Freund der Wiener Urania eine große innere Genugtuung bereiten, zu erfahren, daß dieses, wie man manchmal hört, bürgerliche Institut als erstes unter den Wiener Volksbildungshäusern die Notwendigkeit der Arbeitslosenbildung und -schulung erkannt hat. Bereits im Jahre 1925 machte sie den Arbeitslosen ihre Abendkurse zugänglich, im Jahre 1931 wurden zum erstenmal eigene Umschulungs- und Fortbildungskurse für sie eingerichtet. Diese Vor- und Nachmittagskurse wurden seither von Jahr zu Jahr weiter ausgebaut. Einen besonders großen Forschritt brachte das Arbeitsjahr 1934/35: Es zählte nicht weniger als 132 eigene Kurse mit einem wöchentlichen Durchschnittsbesuch vom 3500 Arbeitslosen und 99.847, also nahezu 100.000 Kursbesuchen. Der Oktober, der erste Monat des neuen Arbeitsjahres 1935/36, brachte uns 4341 Hörer wöchentlich ins Haus. Diese Zahlen sprechen wohl für sich selbst! Es scheint unnötig, auch noch ausführlich auf die zahlreichen Sonderveranstaltungen für Arbeitslose, die Ermäßigungen bei den Abendvorträgen und Filmvorführungen und auf den in diesem Jahre geschaffenen Lese- und Zeitschriftensaal hinzuweisen. Tausende Arbeitslose fanden in der Urania-Volkshochschule neuen Lebensmut und Schaffensfreude, tausende verdanken dem in den Kursen Gelernten wertvollste Hilfe, ja gar nicht selten eine neue wirtschaftliche Existenz. Wir sagen dies alles nicht, um uns unserer sozialen Leistungen zu rühmen. Wir sagen es, weil uns das Werk der Arbeitslosenschulung und -bildung sehr am Herzen liegt und wir die Oeffentlichkeit mehr noch als bisher zur Mitarbeit aufrufen möchten. Das Arbeitslosenwerk bürdet der Urania ja überaus schwere finanzielle Opfer auf. Daher soll jeder, der irgend eine Veranstaltung der Urania besucht, wissen, daß er durch seinen Besuch mit ein Scherflein beiträgt zur Erhaltung und Förderung der leider immer noch äußerst dringlichen Arbeitslosenschulung.

Selbstverständlich können die Volksbildungshäuser das Problem der Arbeitslosigkeit nicht etwa lösen. Dies kann ja nur geschehen durch Beschaffung von Arbeit. Aber ebenso sicher ist, daß, solange die Arbeitslosigkeit nicht völlig beseitigt ist, rein wirtschaftstechnische Maßnahmen allein nicht genügen. Die Möglichkeit, sich in der unfreiwilligen Freizeit geistig fortzubilden und zu schulen, diese Möglichkeit, die das einzige Aktivum des düsteren Arbeitslosenschicksals darstellt, muß auch weiterhin den arbeitslosen Mitmenschen voll und ganz gesichert werden! Die Wiener Urania wird sich hiefür nach wie vor mit allen ihren Kräften einsetzen. Sie hatte Gelegenheit genug, die Arbeitslosen als vollwertige Mitmenschen kennen und als strebsame, vielseitig interessierte Besucher schätzen zu lernen. Sie wird ihnen weiter helfen, weil Menschenpflicht ihr dies zu tun vorschreibt.

 

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Hervorhebungen im Original durch Sperrung werden durch kursive Schrift wiedergegeben. Ausdrücke in runden Klammern stehen auch im Original in runden Klammern.)

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