Schülervorträge an der Wiener Urania

Titelvollanzeige

Autor/in:

Jaksch, Josef A.

Titel: Schülervorträge an der Wiener Urania
Jahr: 1935
Quelle:

Fünfundzwanzig Jahre Uraniagebäude 1910-1935. Wien 1935, S. 24-25.

[S. 24] Vor etwa vier Jahrzehnten wurde die Urania gegründet. Von allem Anfang an hat sie sich große Aufgaben zum Ziele gesetzt. Sie war als ein geistiger Mittelpunkt gedacht, um den sich die volksbildnerischen und volkserzieherischen Bestrebungen unserer Vaterstadt kristallisieren sollten. Daß man sich hiebei nicht nur der der Schule entwachsenen Bevölkerung erinnern, sondern daß man auch die Schuljugend zu Tische laden werde, war naheliegend.

Die pädagogische Beratung der Urania lag in den Händen des bekannten Schulmannes Ignaz Pennerstorfer. Nach seinem Rücktritt übernahm der Gefertigte vor etwa 31 Jahren die Leitung der Schülervorträge. Es war das zu jener Zeit, als die Kinematographie ihre ersten Triumphe feierte. Das lebende Bild wurde daraufhin auch sehr bald zu einem gefürchteten Konkurrenten des Stehbildes. Der Film entsprach eben mehr dem Schaubedürfnis der Menschen als das Stehbild. Die Urania suchte sogleich diese wundervolle Erfindung ihren volksbildnerischen Zwecken dienstbar zu machen.

Was Edison als vornehmste Aufgabe des Kinematographen bezeichnet hatte, „Aufklärung und Bildung in alle Schichten der Bevölkerung zu tragen“, sollte leider lange Zeit hindurch ein frommer Wunsch dieses genialen Mannes bleiben. Der Grazer Universitätsprofessor Dr. Johannes Ude hat später in seiner Broschüre „Moralische Menschenverseuchung durch Theater und Kino“ mit blitzlichtartiger Schärfe die Schattenseiten des neuen Schauwunders aufgezeigt.

Am Volksbildungstag (30. Oktober 1910) wurde im Beisein des Bürgermeisters Dr. Karl Lueger die verderbliche Einwirkung des Kinos eingehend erörtert. Der Präsident der Wiener Urania, Dr. Ludwig Koessler, wies damals darauf hin, daß es dringend notwendig sei, die Erzeugung der kinematographischen Bilder im Sinne der Volksbildung zu beeinflussen, und stellte als erste Bedingung einer gedeihlichen Arbeit in diesem Sinne die Schaffung einer inländischen Erzeugungsstätte hin. Eine Frucht dieser Anregung war die Gründung einer heimischen Kino-Erzeugungs-Gesellschaft.

Aber auch im eigenen Wirkungskreis nahm die Urania gegen die schädlichen Auswüchse der damaligen Kinoschaustellungen den Kampf auf allen Linien auf. Mit Vergnügen erinnere ich mich der spannenden und interessanten Debatten im alten Uraniahaus in der Wollzeile, in welchem neben Landesschulinspektor Hofrat Dr. Karl Rieger und kaiserl. Rat Bezirksschulinspektor August Hofer auch die Vertrauenspersonen der Lehrerschaft mit Entrüstung gegen den Schundfilm als ernstesten Schädling des Volkes Stellung nahmen. Durch die stets erneuten energischen Schritte der Wiener Urania, unterstützt vom Landes- und Bezirksschulrat, wurde erreicht, daß wenigstens die Filmzensur und das Besuchsverbot für die schulpflichtige Jugend für das kinematographische Abendprogramm erwirkt wurde.

Eine auffallende Wendung zum Besseren machte sich jedoch in Wien erst dann bemerkbar, als daselbst ein „Erziehungsrat“ geschaffen wurde, der für jedes Kino Aufsichtspersonen bestellte, die von der Polizeidirektion in der vorgeschlagenen Funktion auch bestätigt wurden. Schuldirektor Schiener hat uns in seinen „Tabellen“ mit schonungsloser Offenheit ein erschütterndes Bild entworfen von der „ganz einzigartigen und an Ausdehnung etwa nur dem Alkohol- und Nikotingenuß vergleichbaren Rolle, die das Kino in den letzten Jahren in unserem Volksleben und besonders aber bei unserer Jugend spielte“.

In dem Für und Wider der Meinungen über den Wert und Unwert des Kinematographen bemühte sich nun die Urania, den richtigen Weg zu finden. Die leidige Geldfrage verhinderte leider eine großzügige Lösung dieser bedeutsamen Angelegenheit. Trotzdem gewährten uns die ersten bescheidenen Erfolge die Genugtuung, daß unser Volksbildungshaus damals das einzige Institut in Wien war, in dem unserer Jugend mit regelmäßig allwöchentlich wechselndem Programm einwandfreie Filme vorgeführt werden konnten.

Die Schülervorträge hoben sich aus den anfänglich fast schüchternen Versuchen im Jahre 1903 nach und nach zu einer von allen daran Beteiligten gewürdigten und geschätzten Einrichtung zum Besten unseres heimatlichen Schul- und Unterrichtswesens empor.

Sie sind nicht so ohneweiters entstanden, diese Vorträge! Nicht auf einmal und nicht durch einen allein. Sie sind bis auf den heutigen Tag das Ergebnis des Zusammenwirkens der verschiedensten Faktoren geblieben. Schule und Leben, Lehrer und Kinder, Erfahrung und Bedürfnis sind die Lehrmeister geworden, die dem Werden und Entstehen, dem Lehrhaften und der Kindertümlichkeit dieser Vorträge nach der methodischen und didaktischen Seite hin Richtung und Sinn gegeben haben. Sie hatten keine Vorbilder, auch nicht in den Staaten des Auslandes. Sie sind auch kein Ganzes und Fertiges. Sie unterliegen – textlich und stofflich – immerwährender Ausgestaltung und Verbesserungen, denn sie widerspiegeln jeweilig Geist und Uebung der erzieherischen und unterrichtlichen Methoden der Schule. Vereinzelt veranlaßte Neugierde oder Lehreridealismus hie und da eine oder mehrere Lehrkräfte zum Besuch eines Urania-Schülervortrages. Mit dem zunehmenden inneren Wert dieser Vorträge jedoch stieg auch gleichmäßig das Interesse der Lehrerschaft, und im Jahre 1922/23 hat die Anzahl dieser Vorträge in Wien die Höhe von 416 mit 207.190 Besuchern erreicht.

In der Folge machte sich ein Rückgang der Besucherziffer bemerkbar, der in den verschiedensten Ursachen seine Begründung hat. Trotz alledem darf festgestellt werden, daß jährlich durchschnittlich 70.000 Schulkinder die Schülervorträge der Wiener Urania besuchen, was bedeutet, daß jedes zweite Schulkind durch die Wiener Urania Belehrung, Erbauung und Freude empfängt.

Es bedurfte aber trotzdem einiger Zeit, ehe Lehrer und Schüler auf das neue Unterrichts- und Anschauungsmittel eingestellt waren. Die Lehrer mußten in den Vorträgen erst eine Unterstützung ihres lehrplanmäßigen Schulunterrichtes erkennen lernen und die Kinder mußten vorbereitet werden, die notwendige Empfänglichkeit für das zu Hörende und zu Erschauende mitzubringen. Meumann nennt diese „frohe Stimmung“ als eine der wertvollsten Vorbedingungen für die Auffassung des Kindes, für den Lernerfolg. Dieses genußfreudige Zuhören und Zuschauen bedeutet den lebendigen Antrieb zur Weiterbildung – selbst über die Schulzeit hinaus. Es mußte aber auch die Brücke zwischen den verschiedenartigen Bedürfnissen der Schule und der Begrenzung des darzubietenden Lehrstoffes gefunden werden. Es galt von allem Anfang an bis heute, eine geeignete Konzentration in den einzelnen Sachgebieten zu finden, die den Kindern „alles gründlich sagen“, ohne sie der Gefahr übermäßiger Ermüdung auszusetzen. In Betracht kamen in erster Linie Naturgeschichte, Erdkunde und Geschichte. Weiters war es aber oft keine leichte Aufgabe, Wort und Bild in angenehme, zweckdienliche Verbindung zu bringen, und wir mußten wiederholt bei Beurteilung der von fast ausschließlich von Lehrern verfaßten Vorträge der Worte Theodor Storms gedenken: „Wenn du für die Jugend schreiben willst, so darfst du /nicht/ für die Jugend schreiben.“

Die anfänglich recht primitiven Vorträge mit Stehbildern erhielten – wie schon erwähnt – ihren mächtigsten Helfer, der insbesondere in der neueren Zeit den Auftakt zu bisher ungeahnten Anschauungsmöglichkeiten geboten hat, in dem Film.

Die Filme sind heute zu einem integrierenden Bestandteil des Gesamtbildes eines jeweiligen Schülervortrages geworden. Den eigenen Filmvorräten der Urania entnommen, werden sie den verschiedenen zur Besprechung gelangenden Stoffen und Sachgebieten eingefügt.

Ueberdies wurden dem Unterrichtsbetrieb die der schöpferischen Initiative des Präsidenten der Wiener Urania, Dr. Koessler, entsprungenen sogenannten Kulturfilme eingefügt.

Auch diese großen, die Zeit von 1½ Stunden in Anspruch nehmenden und bestimmte Kulturgebiete umfassenden Filmwerke sind unseren Schülervorträgen zugänglich gemacht worden.

Neben den mehr lehrhaften Vorträgen leitet die Urania die Aufmerksamkeit unserer Jugend unauffällig hinüber auf das Leben und Wirken der Großen unseres Volkes. Gedenktage sind es, an denen die Jugend sich derer erinnern soll, die die Menschheit mit dem Reichtum ihres Geistes und ihrer Seele beschenkten. Die Kinder erbauen und erheben sich an den Lebensbildern Schillers, Goethes und Grillparzers, die durch die Mithilfe von Berufsschauspielern die Phantasie der jugendlichen Zuhörer in freudige Erregung versetzen. Sie hören von unseren Volksdichtern Raimund, Nestroy und Anzengruber, und sie nehmen Anteil an den Stunden der Andacht, wenn mit liebevollen Worten und an meisterhaft gebotenen Beispielen das Verständlichste aus den Werken unseres Franz Schubert, Mozart, Beethoven, Strauß u. a den Herzen unserer Jugend nahegebracht wird.

Die Nachkriegszeit hat uns vieles genommen, aber nicht alles vermochte sie uns zu entreißen. Zu diesen unvergänglichen Besitztümern gehört die nirgends noch einmal auffindbare wienerisch-künstlerische Atmosphäre. Unsere Jugend soll durch diese unsere Bestrebungen mit allem, was zu dem Kulturgut dieser Stadt gehört, vertraut gemacht werden.

Wir wollen dadurch auch in der Zukunft der Pflege des Guten, Edlen und Schönen in den Herzen unserer heranwachsenden Kinder gern und wirksam dienen!

[S. 25] Mit diesen Ausführungen sollte hier nur andeutungsweise auf den programmatischen Aufbau unserer Schülervorträge hingewiesen werden. Die Richtlinien für unsere weitere Tätigkeit im Dienste unserer Jugend, unseres werdenden Volkes, ergeben sich daraus von selber.

Im Rahmen der bisherigen Schülervorträge scheinen die hier nur lose zusammengefaßten Vortragsgruppen gleichsam als die Fundamente unserer Arbeit auf:

a) Literarische Nachmittage: Vorführung eines Handpuppentheaters; Märchenspiele nach dem Muster der Hamburger Jugendwanderbühne für die reifere Jugend, wie sie versuchsweise in der Urania bereits vorgeführt wurden; Märchenvorlesungen, von hiezu berufenen Sprechern dargeboten, die, zu einer einheitlichen Gesamtwirkung abgestimmt, durch das Bild, den Film und das Volkslied, das vorgesungen oder von den Kindern gesungen wird, Belebung erfährt. Ferner Vorlesungen aus den Werken geeigneter Autoren (nach dem Muster von Volkskunstabenden aufgebaut), ferner die Erweiterung und teilweise Umgestaltung der bisher durchgeführten Vorführungen mit szenischen Darstellungen, welche in das Verständnis einiger charakteristischer Dramen der deutschen Literatur einführen und die Jugend für das Theater als eine Kultureinrichtung gewinnen sollen. Diese Einführungsnachmittage umfassen womöglich in geänderter Form der bisherigen Gedenkfeiern zunächst verschiedene Nachmittage, wie Friedrich Schiller: Einführung in „Wilhelm Tell“; Goethe: Einführung in „Götz von Berlichingen“ oder „Faust“, I. Teil; Franz Grillparzer: „Die Ahnfrau“; Ferdinand Raimund: „Der Verschwender“.

b) Musikalische Nachmittage, die – wie bereits bemerkt wurde – die Jugend vertraut machen sollen mit dem Kunstschaffen Mozarts, Schuberts, Beethovens, Johann Strauß’ usw.

c) Kulturbilder aus der Vergangenheit Wiens, die in lebendiger Darstellung markante Persönlichkeiten einer bestimmten Zeitepoche auf dem Hintergrund der Darstellung der kulturellen und sozialen Zeitverhältnisse als Kinder ihrer Zeit und als Bahnbrecher und Wegweiser für die Zukunft unserem Gesichtskreis nahegerückt werden (das römische, das mittelalterliche Wien, die Babenberger, das Wien des Vormärz usw.).

d) Geschichtliche, erdkundliche und naturwissenschaftliche Charakterbilder, die in lebendiger Form den Kindern Heimat und Umwelt näherbringen, so zwar, daß an typischen Beispielen die Bedingtheit des Arbeitslebens, des Volksbrauches und der Volkskunst aufgezeigt werden.

Ueberdies werden als reines Unterhaltungsprogramm für Kinder an Sonntagen sogenannten Kinder-Nachmittage veranstaltet, die zumeist von kleineren Kindern besucht werden. Als wichtigste Aufgabe für die Programmbildung gilt auch hier die Pflege des Dichterwortes und volkstümlicher Musik. Zur Belebung der Vortragsfolgen werden ausgewählte Lichtbilder und gute Kinderfilme herangezogen. Auch kleinere szenische Darstellungen von Märchenspielen finden einigemal im Jahre statt.

Und so wird und will nach diesen Ausführungen die Wiener Urania ihren Weg vorwärts und aufwärts weiterschreiten zu Heil und Segen unserer Jugend, des gesamten Volkes, zu Ruhm und Ehre unserer Vaterstadt Wien, im Sinne der Worte Dr. W. Reins:

„Das Schicksal eines Volkes, seine Blüte und sein Zerfall hängen im tiefsten Grunde von der Erziehung ab, die der Jugend zuteil wird.“

(/Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. In eckigen Klammern steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt./)

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