Neutralität?

Titelvollanzeige

Autor/in:

Buchwald, Rainhard

Titel: Neutralität?
Jahr: 1921
Quelle:

Blätter der Volkshochschule Thüringen, 3. Jg., 15. November 1921, H. 16, S. 117-118.

„Ich möchte aber doch bitten, schon jetzt zu bedenken, daß bei einer Wissenschaft, die sich mit so feinen Elementen, wie die der menschlichen Natur es sind, beschäftigt, es nur möglich ist, für die endgültige Wahrheit der Prinzipien einzustehen, nicht aber für den sofortigen Erfolg der gemachten Vorschläge, weil selbst bei den besten Plänen der unmittelbare Erfolg fraglich, der endgültige dagegen unsichtbar und unerforschlich ist.“

  • John Ruskin

Neutralität? Den Unterrichtssaal von Dreißigacker schmückt folgender Spruch, von den ersten Schülern verfaßt, unterschrieben und als eine Art Vermächtnis für die folgenden Schülergenerationen aufgehängt: „Man kann einem jungen Menschen kein größeres Unrecht zufügen, als indem man ihn verleitet, den Andersdenkenden geringer zu achten als den Gleichdenkenden”. Die Schüler, den verschiedensten politischen Parteien zugehörig, haben damit wohl zunächst bezeugen wollen, wie enge Freundschaftsbande sie gerade mit politisch anders denkenden Kameraden geknüpft haben und wie sehr ihr Leben dadurch bereichert worden ist. Weiter aber haben sie damit den Segen des neutralen Unterrichts anerkennen wollen, der uns verschiedene Standpunkte zu den großen Lebensfragen verstehen lehrt und nahebringt, uns zwingt, selber Stellung zu nehmen, und uns die Möglichkeit gibt, unsere eigene Meinung nachzuprüfen und zu vertiefen. Dazu gibt es zwei Wege: entweder kann uns ein Lehrer die verschiedenen Auffassungen vortragen und nahebringen, oder wir kommen mit Mitschülern verschiedener Bekenntnisse zusammen, die ebenso wie wir selbst ihre Anschauungen rückhaltlos aussprechen und begründen. Das Ziel der Aussprache ist aber nicht, daß wir einander bekehren, sondern daß wir einander zur Klärung und zum Vorwärtskommen helfen. Freilich kann die Gewohnheit, andere Meinungen zu würdigen, auch ein anderes Ergebnis haben; und dies wird von den Gegnern des neutralen Unterrichts oft dagegen angeführt. Wenn man zu der Einsicht gelangt, daß auf wichtige Fragen der Weltanschauung und Politik mehrere Antworten möglich und offenbar gleich berechtigt sind, so kann man wohl zweifeln, ob man überhaupt noch etwas glauben und mit Kraft und Leidenschaft verfechten soll. Warum soll man einen Gegner bekämpfen, der ebenso gut Recht und Unrecht hat, wie wir selber? Warum für eine Sache eintreten, die vielleicht recht bestreitbar, jedenfalls gar nicht absolut sicher ist, wie wir vorher glaubten? Wo jedoch die neutrale Methode bei solchem schwächlichen Relativismus endet, da ist sie selber schwach und falsch gehandhabt worden. Echte Neutralität kann nicht nur die Handlungsfähigkeit und die Kraft, sich für Ideale einzusetzen, stärken, sondern sie muß auch dazu führen. Denn wenn der Einzelne sieht, daß verschiedene Antworten auf eine Lebensfrage (etwa die Frage nach der besten Staatsform) möglich sind, so wird er sich zu prüfen haben, warum der eine Mensch die eine und der andere Mensch die andere Antwort geben muß und warum es auch für ihn seine besondere Antwort gibt. Neutraler Unterricht macht den Teilnehmer nicht in seiner Anschauung wankend, sondern er verhilft ihm zur Einsicht in ihre innere Notwendigkeit. Der Umbau unseres wirtschaftlichen, politischen und geistigen Lebens fordert Persönlichkeiten, die zugleich klar und tatkräftig sind. Tatkräftig wird auch der Mensch sein, der einem Ideal gefühlsmäßig sich verschrieben und der ausschließlich eine Ansicht kennen gelernt hat.

Vor allem ist sicher, daß man zunächst einmal sein Ideal gefühlsmäßig ergreifen muß und daß uns auch begeisterte Anhänger einer Sache die erste gedankliche Einführung geben müssen. Das geschieht bei dem Hören und Lesen der großen Führer und in der Partei- oder Bekenntnisschulung. Aber dann müssen wir darüber hinauswachsen. Auf die „Lehrjahre” müssen die „Wanderjahre” folgen. Nicht nur, weil sich jede Meinung prüfen und bewähren soll, sondern auch, weil heute kein Mensch sicher ist, auf die Dauer seines Lebens ungefährdet in seiner Anschauung dahinleben zu können, mag er auch nur „seine” Zeitung lesen oder nur „seinen” Pfarrer hören. Jeder wird einmal andere Ansichten hören; aber wehe ihm und seiner Sache, wenn er Mitläufer geblieben ist und erst in schwierigen Entscheidungsstunden in Gefahr gerät, den Lockungen eines verführerischen Radikalismus oder Kompromißlertums zu erliegen. Diese Gefahr ist nicht zu fürchten, wenn wir Menschen haben, die rechtzeitig ihre Meinungen geprüft und bewährt haben. Dazu brauchen wir die Hochschule, die neutral, wissenschaftlich und frei ist. Welcher Lehrer aber ist fähig, neutrale Arbeitsgemeinschaften zu leiten? Man denkt zunächst an den objektiven Wissenschaftler, der die erforschten und beweisbaren Tatsachen bloß um der Wahrheit willen darstellt und der, wo es sich nicht mehr um wahr oder falsch, sondern um recht oder unrecht handelt (wo das „Reich der Werte", die subjektiv und nicht beweisbar sind, beginnt), zeigt, wie die verschiedenen Ideale aufgestellt und begründet worden sind. Jedoch ist immer wieder gesagt worden, daß die bloße wissenschaftliche Objektivität allzu nüchtern und trocken wirkt. Besser ist es da, wenn der Lehrer ein Suchender und Ringender ist, der sich mit Eifer und Leidenschaft mit jeder möglichen Lösung eines Problems auseinandersetzt. Darüber aber steht noch der Lehrer, der jene Fähigkeit der Achtung fremder Meinungen besitzt, von der wir am Anfang sprachen, verbunden mit der Bereitschaft, seine Hilfe jedem zuteil werden zu lassen, ganz gleich, welche politische Tatbereitschaft die praktische Folge ihrer gemeinsamen Gedankenarbeit sein wird. Daß solche Lehrer da sind und daß der neutrale Unterricht möglich ist, haben schon die Tatsachen mancherorts bewiesen. Daß sich Lehrer und Methode erst langsam Vertrauen erwerben müssen, ist gerade heute verständlich. Sicher aber ist, daß wir die neutrale Hochschule brauchen, weil wir selbständige und freie Persönlichkeiten brauchen, und daß deshalb gerade die politischen Parteien die neutrale Volkshochschule fordern und in ihrer Eigenart schützen und überwachen müssen, um eines kraftvollen und geraden öffentlichen Lebens willen. Neutralität und Partei, Wissenschaft und Politik sind keine Gegensätze, die einander ausschließen, vielmehr Formen, die einander benötigen und fordern. Wie es das Zeichen eines gesunden Menschen ist, daß er klar denkt und doch stark handelt, daß er sich immer selber objektiv gegenübertritt und doch darunter die Leidenschaftlichkeit seines Wollens (seine Subjektivität) nicht leidet, - wie gerade in solchen Spannungen unser Leben verläuft, so ist es auch im Volksganzen: auch hier drohen das Parteileben und die Politik in Dogmen zu erstarren, wenn nicht die freie Wissenschaft ihr Gewissen und ihre Kontrollinstanz ist; und anderseits droht die wissenschaftliche Erkenntnis toter Beschaulichkeit zu verfallen, wenn nicht die politischen Aufgaben immer aus dem Erkennen zur Entschlußfähigkeit emporreifen.Die Volkshochschule darf, um ihrer selbst willen, nicht die Partei der Unpolitischen werden, vielleicht nicht einmal die der Parteilosen, vor allem nicht die der Nichtwähler. Im alten Athen, wo wissenschaftliche Klarheit geboren und doch auch die grundsätzliche Zweifelsucht der Sophisten überwunden wurde, galt ein Gesetz: Wer bei Zwiespalt im Staat nicht Partei ergreift, soll des Bürgerrechts verlustig gehen.

[ Literaturzitat senden ]
Ich habe die Datenschutzerklärung zur Kenntnis genommen. Ich stimme zu, dass meine Angaben und Daten zur Beantwortung meiner Anfrage verarbeitet werden. Ich kann meine Einwilligung jederzeit für die Zukunft per E-Mail an voev@vhs.or.at widerrufen.