Neutrale Volksbildung

Titelvollanzeige

Autor/in:

Laßmann, Alfred

Titel: Neutrale Volksbildung
Jahr: 1951
Quelle:

Urania-Mitteilungen, Februar 1951, S. 1-2.

[S. 1] Fast scheint es, als sollte der alte Streit um die Neutralität der Volksbildungsarbeit wieder aufleben, obgleich er vor 1933 so ziemlich abgeschlossen war. Und so ist es wohl nicht unangebracht, davon zu sprechen, wie man sich vor jenem Jahre zu diesem Probleme stellte, zumal R. v. Erdberg, einer der großen Männer auf dem Gebiete der Erwachsenenbildung der Vergangenheit, mit Recht sagen konnte, daß die Frage der religiösen und politischen Neutralität im Volksbildungswesen eine verhängnisvolle Rolle gespielt habe, denn ihr ist es vor allem zuzuschreiben, daß die Volkshochschule auf deutschem Boden nicht imstande war, sich neben der Schule und Universität einen dauernden, anerkannten Platz als öffentliche Bildungseinrichtung zu erringen.

Die liberale Zeit des deutschen Volksbildungswesens verhielt sich gegen alle Fragen des religiösen, politischen und sozialen Lebens durchaus ablehnend, auch wenn sie im letzten Grunde einen stillen Kampf gegen die Sozialdemokratie führte und die Stützung einer bestimmten Staatsform anstrebte. Selbst die Statuten der Wiener Volkstümlichen Universitätskurse, der ersten ernsten und planmäßigen Bestrebung auf dem Gebiete der Erwachsenenbildung enthalten noch die Bestimmung: „Gegenstand der Universitätsvorträge sind alle Wissensgebiete, die sich zur volkstümlichen Darstellung eignen, doch sind Vorträge über jene Fragen, auf die sich die politischen, religiösen und sozialen Kämpfe der Gegenwart beziehen und deren Behandlung zu Agitationen Anlaß geben könnten, ausgeschlossen.“ Denselben Grundsätzen folgte auch das Volksheim, die erste Volkshochschule Mitteleuropas. Ebenso enthielten die Satzungen der reichsdeutschen Universitäts-Hochschulkurse, die nach dem Wiener Muster eingerichtet wurden, die Bestimmung: „Wissenschaftliche, politische und religiöse Streitfragen dürfen in den Vorträgen nicht zur Behandlung kommen. Aus den einzelnen Gebieten soll vielmehr nur das gebracht werden, was als feststehendes Resultat wissenschaftlicher Forschung und praktischer Erfahrung angesehen werden kann.“ Man hielt an dem Grundsatze der wissenschaftlichen Objektivität so fest, daß man auf dem Gebiete der Philosophie anfangs sich nur auf die Geschichte der Philosophie beschränkte. Die „Zehn Gebote“ des preussischen Kulturministeriums vom Jahre 1919 enthalten noch den Grundsatz: „Die Volkshochschule dient keiner Partei, Gruppe oder Konfession, sondern dem Volke als Gesamtheit. Sie kann ihre Aufgabe nur im Geiste objektiver Wissenschaftlichkeit erfüllen.“

Aber schon die Erste Deutsche Volksbildungstagung von Mohrkirch-Osterholz im Jahre 1919 kam zu dem Beschlusse: „Klare Stellung in religiösen, politischen und wirtschaftlichen Wertfragen wird vom Lehrer vorausgesetzt. Wenn sie mit einer sachlichen Würdigung gegnerischer Standpunkte verbunden ist, wird sie allein geeignet sein, jedes Mißtrauen des Hörers zu überwinden.“ Denn es hatte sich gezeigt, daß die Zuhörerschaft [S. 2] mit einer bloßen Negation der Fragen und Probleme, die jeden einzelnen mehr oder weniger bewegte, nicht einverstanden war. Außerdem war man zur Erkenntnis gekommen, daß auch die Erwachsenenbildung vom Menschen ausgehen müsse, und daß ein Mensch, der den Fragen seiner Zeit mit Scheuklappen entgegentritt, nicht den Anspruch auf Persönlichkeit erheben könne. Wollte sie das Volk erfassen, so durfte sie an den Fragen, die das Volk bewegten, nicht blind vorbeigehen. Und gerade die Fragen des religiösen, sozialen und politischen Lebens erwiesen sich als besonders lebensnah. Das bedeutete aber nicht, daß sich die freie Volksbildung nunmehr zu einer bestimmten Weltanschauung entschied und versuchte, ihre Hörer und Leser zu dieser Anschauung zu bekehren, zu überreden oder von deren Richtigkeit zu überzeugen. Das wäre ein Aufgeben ihres Grundsatzes gewesen, daß der Mensch Subjekt und nicht Objekt ihrer Arbeit ist, es hätte ein Aufgeben ihres Wollens bedeutet, dem ganzen Volk zu dienen, ja sie hätte nur die tiefen Gegensätze, die das Volk durch die verschiedenen Wertungen durchzog, noch vertieft. Sie konnte von ihren Mitarbeitern verlangen, daß sie, welcher Anschauung sie auch selbst persönlich waren, der Anschauung ihrer Mitmenschen volle Achtung entgegenbrächten. Und wenn es ihr gelang, diese Achtung vor der ehrlichen Meinung des anderen durch das eigene Beispiel ins Volk zu tragen, dann erfüllte sie die höchste Aufgabe einer Neutralität, die nicht mehr absolut, sondern durchaus relativ war. Nach wie vor konnte sie nur Helfer des suchenden Menschen sein, zu den Wertungen zu kommen, die seinem Wesen am besten entsprachen. Einen obersten Wert von unbedingter Geltung, denen sich die inneren und äußeren Erfahrungen des Menschen, seine Lebensinhalte und Lebensformen unterwerfen können, konnte sie nicht geben. Nach diesem obersten Wert mußte der einzelne selbst suchen in eigener Arbeit und eigenem Bemühen. Sie konnte ihm nur auf diesem Wege helfen, ohne ihn aber zu beeinflussen oder gar zu zwingen. Diese Achtung vor der Anschauung des anderen machte es nun möglich, die Fragen der Gegenwart auch zu berücksichtigen; sie war es aber auch, die es ermöglichte, daß sich im Hohenrodter Bund die Vertreter der verschiedensten Weltanschauungen zu alljährlichem freien Meinungsaustausch zusammenfanden. Eine Zusammenfassung der freien und weltanschaulich gebundenen Volksbildungsarbeit war aber nicht möglich. Das bewies der Versuch der Essener Volkshochschule, die auf Veranlassung des Oberbürgermeisters Luther von allen Parteirichtungen geschaffen wurde.

Das Ende der Demokratie in Deutschland und Österreich brachte auch das Ende der bisherigen Volksbildungsarbeit. Der Mensch wurde zum Objekt der Bildungsbestrebungen der autoritativen Regierungen, dem man eine bestimmte Weltanschauung aufzwang, und den man zu einem der herrschenden Schichte genehmen Typus erziehen wollte.

Seit 1945 ist es noch mehr als vorher notwendig, daß der Mensch zu den Fragen seiner Zeit Stellung nimmt und daß er zu verantwortlicher Mitarbeit im staatlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben geführt werde. Nach wie vor muß die Volksbildungsarbeit auf die Achtung der Wertungen des Nächsten das größte Gewicht legen. Wenn der negative Neutralitätsbegriff gefallen ist, so ist an seiner Stelle die Überparteilichkeit und Überkonfessionalität für alle freien Volksbildungseinrichtungen zum anerkannten Grundprinzip geworden.

 

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Hervorhebungen im Original durch Sperrung werden durch kursive Schrift wiedergegeben. In eckigen Klammern steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes.)

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