Marcelin Berthelot (1827-1907)

Titelvollanzeige

Autor/in:

Stifter, Christian H.

Titel: Marcelin Berthelot (1827-1907)
Jahr: 1995
Quelle:

Spurensuche. Zeitschrift für Geschichte der Erwachsenenbildung und Wissenschaftspopularisierung, 6. Jg., 1995, H. 2, S. 3 f.

 

Obwohl in der ohnedies einigermaßen spärlichen Literatur bislang nur wenige Versuche zu finden sind, Strukturmerkmale der frühen Volksbildung, wie sie sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts europaweit ausbildete, herauszuarbeiten, so kann zumindest der spezifische Bezug zur Wissenschaft – von lokalen, nationalen und inhaltlichen Spezifikationen einmal abgesehen – als konstitutiv betrachtet werden.

Im Unterschied zur Erwachsenenbildung des atomaren Zeitalters und dem hier vollzogenen turn zur mittelschichtorientierten “Dienstleistung” verstand sich die frühe Volksbildung, auch wenn das Angebot elementare Kurse, Kinderveranstaltungen oder “bunte Abende” umfaßte, primär als Popularisierung von Wissenschaft, als wissenschaftszentrierte Form von Bildungsarbeit mit und für Erwachsene. Trotz zahlreicher Unterschiede und Heterogenitäten und trotz des Fehlens einer parteipolitischen Verankerung verstanden sich diese zumeist auf lokaler, vereinsrechtlicher Basis organisierten Bildungsaktivitäten im nationalen bzw. europaweiten Kontext als Bewegung.

Die geradezu definitorische Rolle der Wissenschaft, die in der Folge eine spezifische Form einer akademisierten, massenbezogenen und auf demokratische Prinzipien hin orientierten Bildungsarbeit prägte (daher auch der Name “Volks-Hochschule” bzw. “Volks-Universität”), hatte seine Ursache im rapiden Aufstieg naturwissenschaftlicher Erfindungen und (produktions-) technischer Applikationen, deren Dynamik zur Rede von der industriellen Revolution führte. “Wissen” wurde dergestalt zusehends auch zu einer staatlich geförderten “Macht”, deren Kontrolle den imperialen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts zum großen Anliegen wurde. Die Unterrichts- und Universitätsreformen des ausgehenden 19. Jahrhunderts sind nicht zuletzt unter dieser Perspektive zu verstehen.

Gleichzeitig wurde die Maxime “Wissen ist Macht” und “Bildung macht frei” aber auch zum Losungswort der aufsteigenden großstädtischen Bourgeoisie sowie der um politische Partizipation bemühten Arbeiterbewegung, die in der Entwicklung der modernen Wissenschaften und deren Popularisierung den besten Garanten für eine Verbes-[S. 3]serung der Welt auf Grundlage säkularer, rationaler und egalitärer Prinzipien sahen. Der hier aufkommende Gedanke einer wissenschaftlich-technischen Plan- und Machbarkeit von Welt entfaltete sich speziell im Bereich spätaufklärerisch-liberalen bzw. sozial-demokratischen Gedankenguts zu einem unverbrüchlichen Fortschrittsglauben, mitunter zu einem Szientismus, dessen Folgerichtigkeit und Glaubwürdigkeit selbst der Einsatz chemischer Kampfwaffen im Ersten Weltkrieg noch keinen nachhaltigen Abbruch tat. Wissenschaft bzw. Wissenschaftlichkeit wurde gemäß der Kantschen Formel einerseits als logisch-kritisches Denkvermögen gefaßt, andererseits, in der Form der institutionalisiert betriebenen Wissenschaft, als neutral-objektives Prozedere, das – abstrahiert von den sozialen und ökonomischen Produktionsbedingungen von Wissenschaft – in erster Linie als Suche nach der “Wahrheit” verstanden wurde.

Um die Jahrhundertwende erschien die erste Nummer der neugegründeten und von Moritz Szeps herausgegebenen Zeitschrift “Das Wissen für Alle”, die offizielle Zeitschrift der Vereinigung der österreichischen Hochschuldozenten, welche als Organ der erst fünf Jahre zuvor etablierten University Extension in Wien (siehe dazu die Buchrezension auf Seite 35ff) fungierte. Die erste Nummer (Dezember 1900) dieser Zeitschrift erschien mit einem programmatischen Beitrag von Marcelin Berthelot zum Thema “Wissenschaft und Volksbildung”, der in äußerst pointierter Weise die wesentlichsten Argumente der um die Popularisierung von Wissenschaft bemühten Proponenten jener Zeit auf den Punkt bringt. Die Klarheit der darin enthaltenen Äußerungen – die mit vielen Aussagen und Argumenten hervorragender österreichischer Volksbildungs-Proponenten koinzidieren – ebenso wie die darin angesprochenen Zusammenhänge zwischen Bildungsniveau und wirtschaftlicher Kompetitivität machen diesen Artikel zu einem lesenswerten und zugleich wichtigen historischen Quellentext. Zudem war Berthelot nicht einfach nur einer unter zahlreichen akademischen Honoratioren, die aufgrund ihrer demokratischen Überzeugung für die Öffnung von Wissenschaft und Bildung für die breite Masse eintraten, sondern zugleich weltbekannter Chemiker sowie hoher französischer Politiker.

Der am 25. Oktober 1827 in Paris geborene Pierre Eugene Marcelin Berthelot studierte Naturwissenschaften und wurde 1851 am Pariser Collegè de France Assistent des berühmten (Industrie-) Chemikers Antoine Jerome Balard (Entdecker des Broms), in dessen Fußstapfen er sprichwörtlich trat. Wie zuvor Balard übernahm Berthelot 1860 an der Ecole de pharmacie die Professur für Chemie. 1865 folgte er seinem Lehrer, der inzwischen zum Generalinspektor des höheren Unterrichtwesens aufgestiegen war, ans Collegè de France.1 Zuletzt folgte Berthelot auch hier seinem Mentor und wurde 1876 selbst zum “Unterrichtsminister” ernannt; wenige Jahre später übernahm Berthelot dann noch das französische Außenressort.

Berthelot, der sich als Chemiker besonders der Synthese organischer Körper, dem Gebiet der Explosivstoffe sowie den thermischen Erscheinungen widmete, lieferte speziell mit seinen späten Studien wesentliche Grundlagen für die moderne Thermochemie.

Neben seinen wissenschaftlichen Arbeiten und seiner Tätigkeit als Unterrichtsminister widmete sich Berthelot engagiert der Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse, wovon seine publizistischen Aktivitäten und seine Mitarbeit in französischen “Volksbildungseinrichtungen” (Association philotechnique, l’Université populaire) Auskunft geben. [S. 4]

Anmerkungen:

1 Meyers Konversationslexikon. Eine Enzyklopädie des allgemeinen Wissens. 4., gänzlich umgearbeitete Auflage, Bd. 2, Leipzig 1885, S. 793f.

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. In eckiger Klammer steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes. Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt.)

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