Die politische Bildung der unteren Volksclassen

Titelvollanzeige

Autor/in:

Engländer, Sigmund

Titel: Die politische Bildung der unteren Volksclassen
Jahr: 1848

[S. 503] Erster Artikel.

Bisher haben die unteren Volksclassen immer alle Revolutionen mitgemacht, ohne einen Nutzen für ihre Lage davon zu ziehen. Man entfesselte sie für die Tage des Kampfes, ließ sie für die Freiheit streiten, und nachdem sie errungen war, drängte man sie wieder in ihr Elend zurück. Das gemeine Volk steht in den meisten Geistesanlagen den gebildeten Ständen nach, aber eines kann man ihm nicht absprechen: das Gedächtniß. Es erinnert sich sehr wohl, daß sein Druck nach jeder Revolution nur den Namen veränderte und bald absolutistisch, bald constitutionell hieß, aber stets derselbe blieb. Das gemeine Volk darf weder wählen noch kann es zum Vertreter gewählt werden. Es steht ganz einsam, gleichsam außerhalb der Gesellschaft, versteht unsere Sprache nicht, und diejenigen, die menschenfreundlich seine Interessen wahren wollen, wissen seine Naturlaute nicht zu deuten. Die Sprache des gemeinen Volkes ist schrecklich; sie sprachen in den Märztagen ihre Meinung dadurch aus, daß sie in den umliegenden Ortschaften Wiens die Fabriken anzündeten und die Maschinen zerstörten, das Brennen der Mauthhäuser, das Einwerfen der Fenster war ihre Sprache. Aber kann das gemeine Volk anders reden, hat es ein anderes Mittel sich vernehmbar zu machen? Dürfen wir darüber klagen, daß seine Sprache uns zerstört, brennt und tödtet? Die armen Leute, die nichts haben als ihre Hände, sehen das ganze Jahr mit Haß und Mißtrauen die Maschinen an, welche gespenstisch unaufhörlich arbeiten und das kümmerliche Werk ihrer Hände so außerordentlich überflügeln, sie sehen jedes Jahr neue Maschinen erfinden, und dadurch ihre Arbeit immer entbehrlicher werden. Wer kann es ihnen verargen, wenn sie in den Maschinen ihre ärgsten Feinde erblicken und beim ersten Ruf, die Tyrannen würden gestürzt, über diese herfallen, und sie zerstören. Wer hat sie über den Nutzen der Maschinen belehrt? Wer hat ihnen gesagt, daß wenn man ihnen nachgäbe und alle Maschinen aufhöbe, die Fabrikanten ihnen gar keine Arbeit geben könnten, weil die Concurrenz der übrigen Staaten, in denen die Maschinen fortbestünden, sie erdrückte. Wer hat ihnen die nahe liegende Einwendung abgeschnitten, und ihnen das Nachtheilige der Einfuhrverbote auseinander gesetzt? Sie stürmen die Mauthhäuser, weil die Verzehrungssteuer sie am meisten drückt. Wer hat ihnen nachgewiesen, daß unser Staat in finanzieller Beziehung kein anderes Ziel habe, als die Einkommensteuer einzuführen, aber daß sein Untergang erfolgen müßte, wenn er augenblicklich seine übrigen Einnahme-Quellen aufhöbe? Kann das gemeine Volk anders anfragen als indem es zerstört, haben wir ihm Mittel an die Hand gegeben, uns seine Wünsche mitzutheilen? Haben wir uns bemüht, es dort aufzuklären, wo es verblendet ist? Das Wort „Pöbel“ ist die bequemste Ausrede des Staatsmanns, wenn er den Nothschrei der unteren Volksclassen in Plünderungssucht umtaufen, und ihre blutenden Wunden mit einem vornehmen Mäntelchen verhüllen will. Ich weiß sehr wohl, daß es in den unteren Volksclassen ebenso viel und gewiß noch weit mehr Pöbel gibt, als in den höheren Regionen der Gesellschaft, obschon ich mir auch bewußt bin, daß es den letzteren weit mehr zu imputiren ist, als den ersteren. Ich weiß auch, daß die nächsten Jahrzehende nur eine Macht zu fürchten haben, von welcher aber auch alle Bildung und alles Glück der Menschen verschlungen werden können, nämlich die grause Macht des Pöbels. Aber man glaube nicht, daß die unteren Volksclassen nur aus Pöbel bestehen. Im Gegentheil der größere Theil des gemeinen Volkes will arbeiten und würde sich ohne Arbeit unglücklich fühlen. Hüten wir uns aus unserem Volk einen Pöbel zu machen, und groß ist die Gefahr, daß es geschehe. Ihr, die Ihr das Volk nicht kennt und vor Jedem mit einer schmutzigen Mütze und Jacke mißtrauisch vorübergeht, wißt gar nicht, welch ein Schatz von Rechtsgefühl und Gemüth in diesen rauhen Männern anzutreffen sei. Wer eine Ahnung von dem Elend hat, in welchem die unteren Volksclassen schmachten, muß staunen, daß nicht eine Nation von Dieben und Mördern aus ihnen werde. Dies Volk hungert nach dem Geiste der Bildung, mit dem wir ein Monopol treiben. Einer befragt den Anderen, um sich belehren zu lassen, saugt gierig den Irrthum ein und pflanzt ihn wieder weiter fort, weil er zu Niemanden Zutritt hat, der ihm die Wahrheit mittheilen könnte, und jedes Buch, das ihm in die Hand fällt, dämonisch durch die Sprache der Gelehrsamkeit ihm mit sieben Siegeln verschlossen ist. Mit welcher Liebe umfaßt dieses Volk Jeden der sich ihm verständlich macht, wie eifrig theilt Einer dem Andern das Schlagwort mit, das er vernommen, und wie glücklich sind sie schon, wenn ihnen nur Jemand klar ins Bewußtsein ruft, wie unglücklich sie seien. Habt Ihr nicht beobachtet, als die Gefängnißgitter der Censur fielen, und zuerst wie Vögel aus einem Käfig Gedichte von den befreiten Pressen hervorkamen, mit welcher Gier die untern Volksclassen sich auf diese Flugblätter warfen, und sich von den wenigen Kreuzern ihres Verdienstes absparten, um sich durch die freie Presse belehren zu lassen, wie man sie, die Unfreien presse. Da kamen sie nach Hause mit ihrem Einkauf, glaubten Brot zu bringen, und hatten blos Rosen in Empfang genommen. Sie glaubten belehrt zu werden, und wurden blos angesungen, Seufzer hatten sie erwartet und fanden Jubel.

Wir dürfen es uns nicht verhehlen, daß die gebildeten Stände den untern Volksclassen gegenüber sich aristokratisch verhalten. Der ganze geschichtliche Prozeß der Neuzeit geht aber auf Ebenung der Zustände und Ausgleichung der Verhältnisse hin. Im Reformationszeitalter wurde der erste Versuch gemacht, im Reiche der Geister alle Bollwerke und Monopole zu stürzen, das 18. sogenannte philosophische Jahrhundert wußte sich vor Angst über das Mißingen dieses Versuches nicht anders zu helfen, als indem es alles Göttliche negirte. Die Encyclopädisten waren dadurch jedoch in eine Sackgasse gerathen, welche aber durch die französische Revolution durchbrochen wurde, und von diesem Zeitpuncte an, ward der richtige Weg zum Ziele eingeschlagen. Man erkannte, daß bloß die politische Reform zur intellectuellen führe, und bei einer Umbildung des Staates in seinen politischen Institutionen auch die Basis des geistigen Lebens eine ganz andere würde. Diesen imanenten Zweck der politischen Revolution wissen freilich Jene noch nicht zu würdigen, welche auf die intellectuelle Reform isolirt hinarbeiten, während diese durch die politische von selbst erfolgt. Dahin gehören z. B. die Versuche der Menschenfreunde, die ohne allen Zweifel gemachten Ansprüche der Juden auf vollständige Emancipation zu unterstützen. Warum findet dieselbe bei uns im Volke noch so viel Widersprüche? Weil die politische Bildung unseres Volkes noch sehr geringe ist, der alte Staat wie ein Leichnam noch vor uns liegt, und wir leider mit größter Vorsicht ihn bloß stückweise entfernen können, wenn wir der Anarchie vorbeugen wollen. Schafft andere Grundlagen des Staates, steigert dadurch das politische Ehrgefühl und den Rechtssinn des Volkes und die Emancipation erfolgt von selbst. Aber commandiren läßt sich die Aufklärung nicht, und der directe Weg zur Emancipation ist nichts anderes, als eine Gewaltsamkeit in der Aufklärung, welche nie ihr Ziel erreicht. Ebenso beschränkt handeln Jene, welche gegen die Anerkennung des Adels agitiren. Steigt die politische Bildung des Volkes, so schrumpft das Ansehen des Adels ohnehin zusammen, aber ohne die Basis einer politischen Reform werdet Ihr auch hier das Volk bloß zur Heuchelei erziehen. Der Staat muß daher zuerst eine politische Wiedergeburt [S. 504] erleiden, wenn intellectuelle Früchte auf ihm zum Vorschein kommen sollen. Vor Allem ist es also die Aufgabe der Staatsmänner, auf eine gänzliche Umbildung der politischen Institutionen des Staates hinzuarbeiten, und jeder Vaterlandsfreund wird dahin wirken, daß dieses auf die unbeschränkteste und freieste Weise geschehe. Denn all unser jetziges Thun ist nur als ein Waffnen gegen das Hereinbrechen des Pöbels und der Kriegsnoth zu betrachten. Je freier die Verfassung, desto stärker die Rüstung gegen die Noth der Zeit. Aber diese politische Palingenesie muß den untern Volksclassen ins Bewußtsein gebracht werden. Die arbeitenden Classen sträuben sich jetzt gegen alle Bevormundung, sie wollen nicht mehr in dumpfer, blöder Unwissenheit über das bleiben, was die gebildeten und besitzenden Stände über sie beschließen. Diese Thatsache steht nun einmal fest und darf nie übersehen werden. Allerdings wäre es für die ruhige Entwicklung der Staaten besser, wenn die unteren Volksclassen noch niederzuhalten wären, und zwar deßhalb, weil sie Alles überstürzen wollen, während diese Umstaltung der Verhältnisse vorbereitet werden muß, ferner weil die Gefahr vorhanden ist, daß sie das Wohlthätige mancher Neuerung aus Mangel an politischer Bildung nicht erkennen und was sich friedlich durchsetzen ließe, durch rohe Gewalt zerstören, endlich weil sie vielleicht nur zu bald vom Staat das Unmögliche fordern werden, und der Wahnsinn des Communismus mit allen seinen Schrecken uns immer näher rückt.

Zur ruhigen Erwartung der Umgestaltung der Dinge werden wir also die untern Volksclassen nicht bringen. Was ist mithin zu thun, um den Sturm, der jetzt noch am Grunde des Meeres grollt, zu beschwören, daß er nicht aufsteige, die Wellen thurmhoch emporschleudere und das Staatsschiff verschlinge?

Der provisorische Zustand in welchem wir leben, muß aufhören und eine energische Regierung, die den Muth hat, mit ihrer Vergangenheit ganz zu brechen, und sich nur auf das Volk zu stützen, muß der Anarchie, in welcher wir leben, ein Ende machen. Es darf kein Tag vergehen, an welchem die Regierung nicht Lebenszeichen von sich gibt und das Volk fühlen läßt, daß es regiert werde. Zugleich aber muß Jeder im Volk zur Erkenntniß kommen, daß die Regierung allem mittelalterlichen Ueberrest feindselig entgegentreten und nur für die Interessen des Volkes wirken wolle. Mit welcher Liebe, mit welchem unbedingten Zutrauen blicken die unteren Volksclassen zur Universität hin. Die Regierung mache sich zur Universität, sie thue dasselbe was die Studenten gethan, sie nähere sich liebevoll dem Volke, setze sich in tägliche Verbindung mit demselben, zeige bei jeder Gelegenheit, daß sie an das Volk denkt, und dieselbe Liebe, dasselbe Zutrauen, welches nun der akademischen Legion zufliegt, wird ihr zu Theil werden. Unsere Regierung hat nun die Aufgabe dem Volke ins Bewußtsein zu bringen, daß wir noch in einem Staate, in einer Rechtsanstalt leben. Denn leider schleicht sich nach und nach das Gefühl in alle Gemüther, daß der Staat aus einander gehe und Jeder nehmen könne, was ihm zunächst liegt. Sogar in gebildete Kreise dringt der Gedanke, daß man jetzt Alles durchsetzen könne, wozu man entschlossen sei, weil die starren Formen des Staates nicht mehr aufrecht stehen. Wie viele Schuldner rufen höhnisch ihren Gläubigern entgegen: daß sie wohl zahlen könnten, aber nicht wollen. Jeder sieht sich vergebens nach einer Behörde um, nie wurde Jupiter anders als mit Donner und Blitz abgebildet, und die Völker müssen den Scepter sehen oder sie glauben nicht daran. Die Staatsgewalt mache sich geltend, sie trete als Macht in den Mittelpunct des öffentlichen Lebens. Aber sie glaube nicht, daß sie jetzt noch wie ehemals durch Bajonette und Kanonen ihre Macht zeigen und gewinnen könne. Nur durch die Liebe der Staatsbürger, bloß durch das Zutrauen, daß sie sich in allen Volksclassen erringen muß, kann sie stark werden. Alle politische Bildung eines Volkes muß das allgemein verbreitete Gefühl zur Basis haben, daß man in einem wohlgeordneten, der gleichen Berechtigung und der Freiheit gemäß eingerichteten Staat lebe. Dem unglücklichsten und rohesten Menschen fällt es nicht ein, gegen die Welt, den Kosmos, rebellisch zu werden, sich gegen die Naturgesetze aufzulehnen. Der Staat muß sich in eine Welt im Kleinen verwandeln, indem er sich ganz in die Idee des Rechts auflöst, sich in jeder seiner Einrichtungen auf die evidente Nothwendikeit stützt und nirgends den Schein einer Willkür zuläßt. Die erste Forderung, um an eine Volksbildung zu denken, geht daher nicht nach Unten, sondern nach Oben. Da sich alle Volksbildung auf Achtung vor dem Gesetze und den Staatseinrichtungen basirt und diese Achtung nicht zu Stande kommen kann, wenn das Volk nicht Zutrauen zur Gesetzgebenden Macht gewinnt, so muß die Regierung durch entschiedene Maßregeln, die sie sich nicht abtrotzen läßt, sondern welche sie freiwillig ergreift, sich die Liebe des Volkes zu gewinnen suchen. Der bisherige Polizeistaat hat das Volk in eine solche Position gebracht, daß es die Regierung feindselig betrachtet. Nur Wenige im Volke glauben daran, daß die Regierung ihr Bestes erstrebe; jeder Beamte wird als nicht zum Volk gehörig und fast alle Maßregeln der Regierung werden als bloße Steuerhetze betrachtet. Soll die politische Bildung des Volkes befördert, dadurch der Rechtsboden der Staatsentwicklung gewonnen und unsere Zukunft gesichert werden, so muß die Regierung alles thun, dem Volke das Mißtrauen zu nehmen. Sie muß durch die freisinnigsten Institutionen das Herz des Volkes für sich gewinnen, dann wird die Volksbildung, ohne welche wir der völligsten Anarchie entgegengehen, leicht zu erstreben sein. Die Regierung darf keinen Augenblick vergessen, daß durchaus Nichts von den früheren Staats-Institutionen erhalten werden kann, was nicht der Idee der Freiheit vollkommen entspricht. Jedes Vorrecht, das sie aufrecht erhalten will, wird sicher gewaltsam umgestürzt werden. Sie habe daher den Muth selbst mit diesen radicalen Reformen anzufangen und sie wird das allgemein verbreitete Mißtrauen ersticken. Bevor wir daher unserer Betrachtung an die Mittel und Wege, durch welche der Volksgeist gekräftigt und politisch gebildet werden könne, schreiten konnten, mußten wir als Grundlage jeder politischen Volksbildung die Forderung einer nach allen Richtungen hin volksthümlichen und liberalen Regierung vorangehen lassen. Die Regierung muß sich an die Spitze der Revolution stellen, dann wird sie ihre Macht bewahren können. In den nächsten Artikeln werden wir auf die Mittel der politischen Erhebung und Bildung der unteren Volksclassen näher eingehen und die Stellung welche dieselben nun zur Geschichte einnehmen, zu begründen suchen.

 

 

[S. 555] Zweiter Artikel.

 

Die Geschichte hat darin umgeschlagen, daß sie früher oben vorging und nun unten; sie nimmt gleichsam einen unterirdischen Gang. Die unteren Volksclassen waren bisher fast ganz von der Geschichte ausgeschlossen; wenn sie in ihren Gang eingriffen so geschah es nur wie das Element, wie eine Ueberschwemmung, gegen welche man sich blos durch feste, grausame Dämme zu schützen brauchte. Es ist fürchterlich einen Blick rückwärts in die Jahrtausende, die hinter uns liegen, zu machen und wahrzunehmen, welch eine ungeheure Anzahl von Menschen ganz von der Geschichte ausgeschlossen waren, keine Spanne weit Vergangenheit hatten, in der Gegenwart blos einen Kampf gegen das Elend erblickten und in die Zukunft nicht zu schauen wagten, weil ihnen die nächste Stunde nicht sicher war. Diese Menschen, die blos von dem Tageserwerb leben, mußten jeden Tag gegen den Feind ziehen, sich jeden Tag den Boden erobern; sie hatten nicht zu vererben als das Elend und die ganze Geschichte, welche sie ihren Kindern erzählen konnten, war der Hunger. Einige Male wollten sie in das Bereich der Geschichte dringen und dann begleiteten stets Brand und Mord ihre Versuche. Jahrhunderte hindurch verzweifelten die politischen Denker daran, diese rohen Massen aus ihren dumpfen, thierähnlichen Treiben zu wecken und alle Cultur schien ihnen gefährdet, alles Gleichgewicht der Welt zerstört, wenn dieses je geschähe. Wohl gibt es jetzt manche Knaben, die mit Mitleid auf den großen Stagyriten zurückblicken zu können glauben, weil dieser und mit ihm der Denker, den das Alterthum den göttlichen nannte, als unläugbare Wahrheit hingestellt, daß es Menschen gebe die von Natur aus zu Herren und andere, die von Natur aus zu Sclaven bestimmt seien. Und dennoch ließe sich leicht nachweisen, daß dieser dem Geiste unseres Jahrhunderts widerstrebende Gedanke nicht nur der rhytmischen schönen Weltanschauung der Griechen gemäß, sondern bis auf einen gewissen Punct hin, welchen eben unser Zeitalter überschritten, sogar in der Vernunft tief begründet sei. Man lese was Aristoteles im dritten und vierten Capitel des ersten Buches seiner unsterblichen Politik zur Begründung seiner Anschauung angeführt hat und wird begreifen, um wie viel leichter das Alterthum, da es von diesem Grundsatz ausging, die Dissonanzen des Lebens sich lösen konnte. Viele hegen die irrige Ansicht, daß das Proletariat ein Product der Bewegungen der neueren Zeit, besonders in industrieller Hinsicht sei. Gerade im Alterthum und im Mittelalter waren die Mißverhältnisse im Besitz weit schroffer und schrecklicher als jetzt z. B. selbst in England. In Griechenland waren, nach Hildebrand, ungefähr drei Viertheile der Bevölkerung gänzlich rechtlose Individuen, welche selbst als Gegenstand des Eigenthums galten und wie jede andere Waare gekauft und verkauft wurden. Korinth hatte auf 8 Quadratmeilen 460,000 Sclaven, Aegina auf kaum einer Quadratmeile 470,000. In Attica waren 73% Sclaven und nur 13% der Gesammtbevölkerung besaß Grundeigenthum. Dieses Verhältniß wurde mit der Zeit noch ungleicher und als Antipater im Jahre 320 v. Ch. nur jenen Athenern das Bürgerrecht zusprach, die wenigstens 700 fl. C. M. (200 Drachmen) besaßen, zeigte es sich, daß nur 7% der Bevölkerung ein solches Eigenthum hatten. In Rom bestand seit Julius Cäsar über die Hälfte Menschen aus vollkommenen Bettlern, welchen der Staat Getreide schenken mußte, damit sie nicht verhungerten. Im Mittelalter gab es wohl weniger Sclaven als im Alterthum, aber die feudalen Lasten führten eine ungeheuere Verarmung herbei. Unter Wilhelm dem Eroberer war wenigstens ¾ der Bevölkerung, nach Lappenberg, ohne allen Besitz. Betrachtet man die Geschichte des Menschengeschlechts auf diese Art, dann verwandelt sie sich in eine Geschichte des menschlichen Elends. Blicke einige Zeilen zurück, lieber Leser, auf die Ziffern, welche in schrecklicher Kälte vor dir stehen, und schaudere! Und auch jetzt zählet nach in den Städten und Ländern, wie viele etwas besitzen und wie viele sich den Besitzenden beugen müssen, und Ihr werdet erschrecken, für wie Wenige die Erde da sei. Einige tausend Menschen besitzen etwas, die übrigen sind lauter Proletarier!

Das moderne Zeitalter unterscheidet sich in politischer Hinsicht dadurch von dem antiken, daß es den individuellen Lebensproceß mehr hervorkehrt und alle Probleme concreter und zudringlicher hinstellt. In Bezug auf das Proletariat verdanken wir der Industrie, welche Viele irrig als die Mutter der Verarmung betrachten, daß sie dasselbe nackt auf offenen Markt hingestellt und dieses Rechenexempel auf die Tafel der Geschichte so dick hingeschrieben hat, daß es nicht früher weggewischt werden kann, bis es aufgelöst ist. Die Industrie hat die Massen vereinigt und grade dadurch, wiewohl das entgegengesetzte Resultat zu erwarten gewesen wäre, den individuellen Lebensgedanken in denselben erzeugt. Neben den Maschinen hört der Proletarier auf Maschine zu sein. So lange der Arme in irgend einem Versteck blos sein Elend zum Gesellschafter hat, erliegt er im dumpfen Dahinbrüten; er glaubt gar nicht an sich selbst, er betrachtet sich nach und nach selbst als eine Sache. Die Association, welche als ein Abbild des Staates überhaupt stets wie der Staat selbst zu geistiger Erhebung führt, hat auch hier das menschliche Bewußtsein hervorgerufen. Alles, was sich vereinigt, erscheint in gewissem Sinne heilig; der einzelne Räuber ist verächtlich, eine große Räuberbande besitzt irgend etwas Imponirendes. Wenn das Elend einzeln auftritt ist es machtlos; Tausende von Bettlern sind eine fürchterliche Macht. Die Arbeit selbst stieg in ihrer Würde dadurch daß die großen Industriezweige so viele Arbeiter vereinigten. Diese Massen von Arbeitern fühlten sich in ihrer Vereinigung als ein Staat im Staat; so wie die Juden bilden auch die Armen eine besondere Gemeinde im Staat, welche nun nach ihrer Emancipation trachtet. Jedenfalls hat die Industrie unseres Jahrhunderts ein wichtiges Moment in der Culturgeschichte der Menschheit auch darin eingenommen, daß sie Bewußtsein in weite Kreise der Menschen brachte, welche früher ohne alles Selbstbewußtsein fortlebten. Betrachtet man unsere Geschichte in Beziehung auf die stete Entwicklung des Menschengeschlechts als eine unaufhörlich weiter schreitende Schöpfungsgeschichte, so kann man sagen durch die moderne Industrie sei der Punct der Geschichte erreicht, welchen die Natur einnahm, als sie in der Schöpfung vom Pflanzengeschlecht zum thierischen Organismus überging. Unsere Industrie hat den Jahrtausende lang hindurch währenden Pflanzenschlaf der Proletarier beendigt. Die erste Maschine war ein neuer Tag in der Schöpfungsgeschichte des Menschengeschlechts. Welch eine Perspective eröffnet sich vor unserem [sic!] Augen! Zahllose Menschen, welche bisher von der Geschichte ganz ausgeschlossen waren, betreten nun ihren Boden, Völker, welche den Fürsten gegenüber früher in gewisser Hinsicht ganz dieselbe Stellung einnahmen wie der Proletarier zum Besitzenden, gelangen zum Bewußtsein, die Centralisation geht ihrem Ende entgegen, die pyramidale Form des Staates beginnt in eine andere überzugehen, mir schwindelt vor der Zukunft des Menschengeschlechts! Wie herrlich, wie wahrhaft menschlich wird nun die Geschichte werden! Mag auch unsere Generation unter diesen Geburtswehen einer unfaßbar großen Zukunft leiden, vielleicht schon die nächste wird im vollen Genusse sein. Nun zeigt sich erst das Leben in seinem [S. 556] wahren Gehalte; jetzt erst muß der kalte Mathematiker einsehen, wie das Leben in seiner unermeßlichen Fülle unberechenbar sei. Wer jetzt nicht zum Begriff des wahrhaft Lebendigen kommt, ist des Gedankens überhaupt unfähig. Das geschichtliche Leben ist in eine Phase getreten, wo alle Combination aufhört und kein Mensch die Zukunft der nächsten Stunden vorhersagen kann. Mit demselben Recht oder Unrecht sehen Einige in der Zukunft eine höhere Stufe, welche das Menschengeschlecht besteigt, und Andere die Barbarei, die Auflösung aller Bildung, der wir entgegengehen. Das letzte Resultat ist aber deßungeachtet unzweifelhaft. Auch der unermeßlich großen Bildung des Alterthums folgte die Barbarei, und dennoch gingen die Menschen aus derselben größer hervor, als sie ehedem gewesen, der Standpunct in der Weltanschauung der Alten war überschritten worden. Und so ist nun durch das Selbstbewußtsein der unteren Volksclassen und die ganze sociale Verwicklung, welche so Viele blos als eine politische Bewegung betrachten, ein neues Element in die Geschichte gekommen, welches zunächst wohl zur Barbarei führen könnte, das aber auch in dieser noch ein Saatkorn für die Menschheit bliebe, welches zu den herrlichsten Früchten empor treiben muß. Wir leben in einem Zeitalter welches in der Weltgeschichte gerade denselben großen Abschnitt macht, wie die Geburt Christus. Jede der früheren Epochemachenden Revolutionen trug das Ferment blos in einen bestimmten religiösen oder politischen Kreis und es blieb stets noch ein großer Rest übrig, auf den sie sich nicht einließen. Die gegenwärtige Revolution, welche Alles vom Grund aus aufwühlt, ist dadurch merkwürdig, daß sie Elemente von allen früheren Geschichtsperioden heraufbringt, was selbst bis zum außerstaatischen [sic!] Zustand und zu den mittelalterlichen Formen reicht, und indem das historische Material aus den fixen Puncten hinweggebracht wird und Alles chaotisch durch einander wirbelt, bereitet sich eine neue, herrliche Zeit vor.

Diese ganze vorhergehende Betrachtung sollte nur in flüchtiger Weise die Position bezeichnen, welche das Proletariat in der Weltgeschichte und welche Bedeutsamkeit es für die Geschichte der Bildung überhaupt einnimmt. Während der oberflächliche Betrachter es blos für einen rohen, physisch gewaltigen Angriff auf die Cultur nimmt, sieht der tiefere Blick nur ein Hinauftreiben zu einer höheren Bildungsstufe darin. Die Geschichte erhielt sich bisher dadurch, daß die unteren Volksclassen unwissend und in thierischer Rohheit erhalten wurden. Jetzt ist die Bildung derselben eine geschichtliche Nothwendigkeit geworden und wir selbst müssen dazu beitragen ihre Lehrzeit abzukürzen, weil sie uns sonst gefährlich werden könnte. In dem nächsten Artikel wollen wir die Bedingungen einer politischen Bildung so wie eine Kritik der Socialisten liefern.

 

 

[S. 604] Dritter Artikel.

 

Bildung ist Freiheit und die Freiheit des Armen besteht in Brot. Für den Hunger ist die Verfassung eine Redensart, ein Stück Papier, das man nicht essen kann. Jede Erörterung über die politische Bildung des Volkes ist daher innig mit den Anschauungen über Nationalwohlstand verknüpft. Der Grund ist leicht einzusehen. Die Nothwendigkeit, die unteren Volksclassen politisch zu bilden, machte sich in Zeiten nicht geltend, in welchen dieselben in dumpfer Unselbstständigkeit fortlebten. Von dem Augenblicke an, als diese Volksclassen zum Bewußtsein kommen, daß die Erde auch für sie da sei und sie sich zu zählen anfangen, ist es nothwendig ihre Lage zu verbessern und sie gleichzeitig politisch zu bilden, um sie durch ihren gestärkten Rechtlichkeitssinn und ihr erwecktes Ehrgefühl der Bildung unschädlich zu machen und sie der Gesellschaft einzuverleiben. Dieser Augenblick ist nun auch bei uns gekommen, aber Viele scheinen ihn jedoch zu einseitig aufzufassen. Es handelt sich nicht um die Neugestaltung der Verhältnisse der arbeitenden Classen, sondern um die Neugestaltung der Gesellschaft überhaupt. Geht man blos darauf aus, die Lage dieser Volksclassen zu verbessern so legt man ein Schönheitspflästerchen auf eine Eiterblase eines durch und durch verpesteten Menschen. In der That bilden die unteren Volksclassen nur die Spitze der Gesellschaft, welche jetzt zuerst hervortritt, aber nur deßhalb, weil alle gesellschaftlichen Zustände schief stehen und durchgehends einer Reform bedürfen. Beschäftigt sich die Wissenschaft blos mit den Proletariern, so führt sie uns bei einer Ueberschwemmung blos von einem Zweig des Baumes zum anderen und am letzten muß sie uns verlassen und wir sehen dann die Fluthen immer höher steigen; unser Verderben wurde blos aufgeschoben. Stets muß daher die Erörterung über Lage und Bildung der Proletarier mit einem Hinblick auf die allgemeinen Staats- und Gesellschaftsverhältnisse verknüpft sein.

Mit der religiösen Reform begann die Emancipation des Individuums, das Reformationszeitalter ist daher eine wahre Skizze des jetzigen Jahrhunderts, von allen unseren Neuerungen liegen dort die Wurzeln vergraben. Am Ende des vorigen Jahrhunderts begann der Anstoß gegen die verkehrtesten und unnatürlichsten politischen und socialen Zustände, welche spätere Jahrhunderte gar nicht mehr werden begreifen können, heftiger zu werden. Fast gleichzeitig mit der französischen Revolution begann die Umgestaltung der heutigen Industrie durch eine Reihe von Maschinen-Erfindungen. Während die Politik den Gährstoff in die Mittelclassen brachte, wurde durch die Industrie das Ferment in die unteren Volksclassen gebracht. Es blendet den menschlichen Verstand und erfüllt uns mit den Schauern des weltgeschichtlichen Processes, wenn wir sehen, wie dasselbe England, welches während der französischen Revolution mit der größten Starrheit sich der Umgestaltung der politischen und socialen Zustände widersetzte, auf das Eifrigste und mit dem Aufwand aller Kräfte gerade das Mittel herbeischaffen mußte, um diese Weltbewegung zu jener unbezwinglichen Höhe emporzubringen, welche sie nun erreicht hat. Gerade die Industrie, durch welche England sich aus dem geschichtlichen Strom zu retten meinte, war es, welche die Grenzmauern zwischen den einzelnen Ständen umwarf. Die Berührung und Vermischung der verschiedenen Volksclassen ist nun so weit durchgedrungen, daß die Einheit der Nation und die Ebenung und Gleichstellung aller Classen gehörig vorbereitet ist. Arbeiter sitzen in der französischen Nationalversammlung, Bauern und Tagelöhner in der constituirenden Reichsversammlung zu Berlin, und auch unser Reichstag wird dieses Volkselement gewiß enthalten. Durch Umänderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und durch politische Bildung müssen nun die unteren Volksclassen, die bisher keine Geschichte hatten, ebenfalls in den Gährungsprocess der Geschichte gebracht werden. In diesem Sinne ist die französische Republik tief begründet und für den weiteren Gang der Geschichte unbedingt nothwendig. Sie ist durchaus als Medium der Lösung des socialen Problems zu betrachten, sie ist keine politische sondern eine sociale Institution, sie dient nur der gesellschaftlichen Reform als Retorte. Deßhalb mußte die Republik zuerst in Frankreich, wo die sociale Verderbtheit ihren Höhepunct erreicht hat und zumeist eine Umbildung erheischen, eingeführt werden. Durch die Bestechungs-Geschichte von Teste-Cubières, die Praslin’sche Mordthat u. s. w. ließ uns die Geschichte zuerst wahrnehmen, wie alle Grundpfeiler des französischen Staates zerfressen seien und nun kam als Topf, in welchem alles sociale Elend ausgekocht würde, die jetzige Republik, welche einen ganz anderen Maßstab verlangt, als die erste französische Republik. Die französische Gesellschaft, welche sich jetzt noch gegen einen Verjüngungs-Proceß sträubt, glaubt den Brandfleck blos im Proletariat suchen zu müssen. Allein schon ihr erster Versuch mit den Nationalwerkstätten ist schmählich verunglückt. Diese Blanc’schen Nationalwerkstätten sind nichts als Invalidenhäuser für Gesunde und Starke, der Arbeitslohn darin ist ein verkapptes Almosen oder ein bemäntelter Raub, je nachdem man die zahlende oder die empfangende Partei berücksichtigt. Die Socialisten sind wohl in dem Punct auf dem richtigen Weg, daß sie nur in einer gänzlichen Umbildung der Gesellschaftsformen das Mittel gegen das Proletariat suchen, aber alle ihre Theorien widersprechen dem Geiste des Lebens. Da sie so lange voll Haß die Maschinen betrachteten, bei welchen Diejenigen, welche arbeiten, nur Jene bereichern, welche nichts thun, so kamen sie in ihren Reformbestrebungen dahin, die ganze Gesellschaft in eine Maschine zu verwandeln. Ihr Vorschlag einer Gesammtwirthschaft mit Aufhebung des Privateigenthums, des Geldes, Abschaffung des Handels und der freien Concurrenz, würde die Gesellschaft gerade so vom Elend retten als wenn man einen Unglücklichen dadurch von seinem Unglück befreien wollte, daß man ihn tödtete. Denn allerdings tödten die Socialisten alle Bildung, machen jeden Fortschritt unmöglich und ersticken den individuellen Lebensreiz. Die Geschichte würde sich drehen, aber nicht fortbewegen. Und noch dazu sind alle ihre Organisationspläne mit ihrem Kasernenleben unausführbar. So wenig man alle Poren eines Menschen durch ein einzige großes Schweißloch, alle Adern und Aederchen durch einen einzigen Blutcanal ersetzen kann, so wenig es in unserer Macht steht allen Menschen dasselbe Gesicht zu geben, eben so wenig können die individuellen Bestrebungen abgeschafft und die Träumerei einer Gesammtwirthschaft verwirklicht werden. Dabei wollen sie den Blick eines Mädchen-Auges mit einer Leberwurst, den Duft einer Rose mit einem Stiefelknecht in Parallele ziehen. Oder ist es nicht ganz dasselbe, wenn sie Geist und Materie in ein Verhältniß bringen, Talent und Arbeit auf derselben Wage abwägen und der Arbeit 5/12 dem Talente 4/12 vom Ertrag zumessen? Jeden Blutstropfen wollen sie controlliren, daß er nicht schneller walle als bei einem Anderen und auf ihrem Weg käme man dahin, daß endlich Genie zu haben, das größte Verbrechen wäre.

Muß auch die Gesellschaft gänzlich reformirt werden so ist doch das Project der Socialisten und Communisten ein Unding. Die historische Schule der Staatsrechtstheoretiker wird wohl jetzt wenig Anhänger mehr haben und man muß zwar jetzt mit der Geschichte brechen und ganz neue Institutionen schaffen. Allein der Staat ist doch ein Naturgewächs, nichts willkürlich Erfundenes sondern etwas nothwenig Organisirtes. Man kann daher nichts in die Staats-Reform aufnehmen was gegen die Vernunft und die menschliche Natur wäre. Unser einziges Bestreben muß dahin gerichtet sein den Staat in einen naturgemäßen Zustand zu bringen, ihn von seinen Verzerrungen zu befreien. Nie kann es uns gelingen, die Unterschiede im Besitz aufzuheben, weil die Fähigkeiten der Menschen und daher auch die Resultate ihrer Bestrebungen verschieden sind. Ja es wird uns sogar nie gelingen, Hunger und Elend aus der Welt zu schaffen. Jeder fände es wahnsinnig, wenn eine Partei forderte, alle Menschen sollen Millionäre werden. Und was thuen diese hohlen Freunde der unteren Volksclassen, die mit ihrer Humanität ins Blaue hinein urtheilen, anderes als daß sie von der Staatsgewalt fordern, sie möge ein Decret erlassen, vermöge dessen sich der Staat in ein Paradies verwandle und alle Menschen in Glück herumschwimmen. Wir haben ein schwere und erhabene Aufgabe vor uns: wir müssen neue Staats- und Gesellschaftsformen schaffen. Wir werden zunächst durch die Lage der unteren Volksclassen dazu getrieben. Damit uns aber diese nicht in unserem Werk stören, müssen sie politische gebildet und ihr Elend so weit gehoben werden, als es möglich ist. Ein Hauptgrundsatz bei der politischen Aufklärung des Volkes besteht mithin darin ihren unbestimmten, unklaren Wünschen einen festen Boden zu verschaffen. Bisher regt sich nur bei ihnen das ganz allgemeine, unbehagliche Gefühl der Unzufriedenheit und der Wunsch nach einem bessern Zustand. Das Gefährliche dieser Stimmung liegt in dem Nebel, von welchem sie begleitet ist. Die Massen haben kein bestimmtes Ziel vor Augen und die Aufgabe der Bildung ist es zunächst, ihnen dieses zu zeigen. Dann haben wir keine Uebergriffe mehr von ihnen zu fürchten. Bis zu welcher [S. 605] entsetzlichen Höhe der Noth hat sich die Lage der arbeitenden Classe in England gehoben! Die britische Staatsgewalt, welche von dem Grundsatz ausgeht, daß jede polizeiliche Bevormundung nur Verbrechen hervorrufe, während die gefährlichsten Bestrebungen in einem freien Lande durch die Sittlichkeit der Majorität sich selbst auflösen, hat keinem Arbeiterverein das mindeste Hinderniß in den Weg gelegt und dennoch ist selbst in den chartistischen Bestrebungen der Communismus nicht hervorgetreten. Der Grund liegt zunächst darin, daß die britischen unteren Volksclassen sich über ihr Ziel genaue Rechenschaft ablegen und vom Staat nicht mehr fordern, als in seiner Macht steht. Bei uns glaubt leider der größere Theil der unteren Volksclassen die Regierung könnte, wenn sie nur wollte, Jedem im Staate ein recht nettes Einkommen und eine hübsch bequeme Anstellung verschaffen. Diesem Wahne wird im Bildungsweg der unteren Volksclassen am Meisten begegnet werden müssen. Denn selbst derjenige welcher gegen die pyramidale Form des Staates in politischer Hinsicht Einwendungen macht, wird vom socialen Standpunct sich mit ihr aussöhnen müssen. Diese einzelnen Bildungswege der unteren Volksclassen verbunden mit der Betrachtung, wie ihnen am Besten zu helfen sei, haben wir nun zunächst zu erörtern. Wir müssen in die Höhlen des Proletariats steigen und es erst kennen lernen, bevor wir es bilden und ihm helfen. Aber der Leser schrecke vor dieser Wanderung nicht zurück. Wenn wir auch zunächst auf Schmutz, Elend, Hunger, Barbarei stoßen, so ist doch das Ziel schön. Wie in einem alten Märchen ein Wanderer durch eine lange finstere, schreckliche Höhle geht und da er in dem scheußlichen Aufenthalte schon zu verzweifeln beginnt, plötzlich zu einem Ausgang in ein blühendes, sonniges, von Früchten strotzendes, wunderbares Thal gelangt, eben so werden wir, nachdem wir uns durch die zurückschreckenden Zustände des Prolateriats durchgewunden haben, zur Kenntniß des Volkes gelangen und im Geist und Leben des Volkes ein erquickendes und beruhigendes Moment unserer Betrachtung finden.

 

(Wortwahl, Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen dem Original. Offenkundige Druckfehler wurden stillschweigen ausgebessert. Die im Original durch Sperrung hervorgehobenen Wörter wurden kursiv gesetzt. In eckigen Klammern steht die Zahl der jeweiligen Seite des Originaltextes.)

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